Walter Busse über Gregor von Rezzori: "Der Tod meines Bruders Abel" Wer schreibt, nimmt Rache
Am Ende des Romans steht, auf einer Seite für sich allein, »Ende des ersten Buchs«, steht da als eine Drohung oder ein Versprechen. Es hieße Rezzori mißverstehen, dieses »Fortsetzung folgt« als eine gesicherte Wahrheit zu nehmen.
Immerhin, der Roman ist auf vier Teile angelegt, und der avisierte C-Teil, der schwierigste der Turnübung. fehlt. Der erste Teil vorm angekündigten A, B und C heißt »Pneuma«, das griechische Wort für Atem »für Hauch, und ist ein bei der Stoa vorweggedachter élan vital, eine Kraft, die den Pflanzen das Wachstum gibt, den Tieren die Seele und den Menschen die Vernunft.
Bei Rezzori ist wohl nur an die botanische Stufe gedacht, ans Wachstum -- nämlich dieses Romans. Die Handlung: »Ein Mann, der ein Buch schreiben will von einem Mann, der ein Buch schreiben will von einem Mann, der ein Buch schreiben will von einem Mann, der ein Buch schreiben will ...«
Um diese Quälerei, die Selbstquälerei eines Schreibenden geht es. Ins Romankostüm verkleidet: ein halbwegs erfolgreicher Filmautor soll einem Literatur-Agenten, der sich eben in einem Pariser Luxusrestaurant mit einer Pastete aus Drosselbrüstchen füttert, seine neueste Story verkaufen und erzählen, »aber in drei Sätzen bitte«. Das kränkt unseren Autor. da es sich ja um »sein« Buch handelt, da es ihm, wie denn anders, darum geht, »das Buch meiner Generation« zu schreiben, das Buch seiner Generation, seines Blutes. seiner Rasse. Kurz also geht es nicht; der beleidigte Erzähler diagnostiziert bei sich »ein hybrides Zellenwachstum«; jede Geschichte, an die er sich erinnere, hecke zehn andere.
Ein verzeihlicher Irrtum, aber ein Irrtum ist es doch. Natürlich hätte der Autor dem Agenten die Geschichte in drei Sätzen schildern können, sogar in einem Satz. Er kommt nur scheinbar vom Hundertsten ins Tausendste, in Wirklichkeit kommt er vom einen äußerstenfalls ins Anderthalbe und ist schon wieder zurück bei dem einen: bei Rezzori.
Denn der Hinweis »Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre zufällig und nicht beabsichtigt« ist eine Pflichtübung des Verlags gegenüber seiner Rechtsabteilung, geschenkt! Der Roman ist autobiographisch, »mußte« es sein, obwohl der erzählende Rezzori seinen Erzähler sich gegenüber um fünf Jahre jünger macht (das Leitmotiv des Buches heißt »Epochenverschleppung"> und diesen Mann fast alles, was er erzählt, als erfunden, vielleicht erfunden, als möglicherweise ein Produkt seiner Phantasie oder Redseligkeit sogleich wieder einschränken oder dementieren läßt. Rezzori ist, nicht ohne Grund, vorsichtiger geworden.
Aber dennoch: wie ein wohlmeinender Familienvater die Ostereier im Garten so versteckt, daß sie leicht zu finden sind, zählt Rezzori das Personal seines Kam-Romans dem Leser kaum verhohlen und verstohlen auf die Hand. ein wenig Ausstoß von Tintenfisch-Fluchtfarben muß dabei sein. Es geht um jene Gruppe von (insgesamt übrigens durchweg liebenswürdigen) Leuten, die nach dem Ende des einstweilen letzten Weltkriegs über den Nordwestdeutschen Rundfunk (also auch über dessen Honorarkassen) verfügten und so ein durch ihre Liebenswürdigkeit allein womöglich nicht zu begründendes Gewicht in der deutschen Kulturlandschaft bekamen, dazu auch ein Entourage« an dem Rezzori nicht fehlen mochte.
Warum auch hätte er da fehlen sollen? Er kann deutsch schreiben und nicht nur deutsch, und er kann schreiben. Das Vokabular, der Vorrat an genauen, poetischen, an treffenden Bezeichnungen und Verben geht ihm so leicht nicht aus, an Wortkombinationen und Worterfindungen, auch dann nicht und nicht einmal dann, wenn es sich ein Leser, ohne Schirm unterm Kaskadengesprühe bis auf die Haut durchnäßt, vielleicht einmal wünschen könnte -- es hört nicht auf, und es läßt nicht nach; der Erzählende läßt den Griff ums Handgelenk oder am Mantelknopf des Vis-à-vis nicht locker.
lm Gegenteil. Hat er das ja nicht aus dem Ungefähr stammende Gefühl, der Leser-Zuschauer möchte auch mal etwas anderes hören als die Sorge und die Qual und die Not bei der Entstehung oder drohenden -- wem drohenden? -- Nichtentstehung des Buches, irgend etwas anderes, so steht da: »Mit derlei kann ich dienen.«
Und er kann das, produzieren »aus dem Schatzkästlein": den Auszug der bessarabischen Jungsoldaten ins Feld, bei dem es auf eine den Vorgesetzten höchst unerwünschte Wolfsjagd hinausläuft; die riskante Prügelei mit einem dekorierten Offizier vor der Jockey-Bar, ohnehin Rezzoris unbestrittenes Fachrevier; eine Jagd- oder Jagd-Vorbei-Szene in einem Gutshaus, deren Opfer ein (dann noch zur Ungenießbarkeit verkohlter) Hammel ist.
Aber immer: Rezzori (oder sein vorgeschalteter Erzähler) und die Wolfsjagd, Rezzori und sein Sieg bei der Schlägerei in Berlin-WW, Rezzori und der Hammel; auch eine Bomben- und Brandnacht in Berlin, als nach der Entwarnung ein Mädchen nachsehen will, ob sein Kind noch lebt, den Versuch jedoch abbricht, weil es den Rest der Nacht mit Rezzoris Ich-Erzähler verbringen darf, wann gibt es schon so eine Gelegenheit.
Mit solch einer Peinlichkeit beginnt auch das Buch, vorgeschuht oder vorgeschrieben vielleicht des erhofften Erfolgs wegen bei den Verkaufszahlen:
Ein Mädchen, abgebrüht an Seele und Leib vom Gassi-Stehen und dessen professionellen Folgen, ganz entschlossen, sich auf nichts Genießerisches einzulassen, ist wider Wunsch und festem Willen von den Künsten seines Kunden (und dessen Weltläufigkeit gegenüber dem Hotelportier und überhaupt) und unterm »Regen kleiner zärtlicher Küsse« (wie Huren eben formulieren) am Ende so weit, daß es ihm, nur mit einem Handtuch um die Hüften, von nun an bis ans Ende der Zeiten angehören möchte. Der Erzähler aber zahlt und zieht davon. Donnerwetter.
Das Buch ist eine feurige. wortmächtige Selbstfeier« dem Geschmack zuliebe mit rüden Selbstbezichtigungen, die heimlich allesamt aufs Gegenteil hinauswollen: der Erzähler ist »verdächtig polyglott«, ein »linguistischer Gesinnungslump«, »ethnisch eine Qualle«, »mein Name bürgt für Qualität und absolute Unzuverlässigkeit«. Aber auch: der Erzähler ist überall in der weiten, weiten Welt und sich selbst »ein Fremder«, »es« schreibt aus ihm, da sitzt er und kann nicht anders, »ich verachte die billigen Erfüllungen«. »ich hasse meine Lebenslüge"« das Buch ist »schon Legende, mein Mythos«, »anders hätte ich nicht existiert«.
Rezzori ist ein bösartiger, und das heißt allerdings, sehr genauer Beobachter. Das reiche Diplomatenehepaar. das so menschlich herzlich zur Zahnärztin ist und so kühl gegenüber den Bankiersleuten, die sich womöglich sonst der gleichen Gesellschaftsklasse zugehörig fühlen könnten (natürlich ist die Diplomatenfrau des Rezzori-Erzählers Geliebte); das Heidedorf, dessen Natürlichkeit nur gerettet werden kann, eben weil so viele Filmleute und Jazz-Trompeter zuziehen; das Porträt eines Hamburger Elite-Theologen mit der weißen Krause um den Hals. so daß er »seinen Kopf, gleichsam sein eigener Scharfrichter, wie auf einem Teller präsentierte« -- wenn das die Schule des »Herrenjournals« ist, bei dem Rezzori seine Lehrzeit absolvierte. muß man sein Urteil über dieses Blatt revidieren.
Gut, die Namen der richtigen Schuster und Schneider in London, Paris und Rom, der Rasierwässer und Rotweine, der jeweiligen Schickeria-Spielorte zur jeweils richtigen Zeit -- davon fehlt nichts. Rezzori ist ein früher Vorläufer jener Kellerkinder, die auf Kosten ihrer Illustrierten die Empfindlichkeit ihrer Zunge rühmen und sich auf Spesen das Gefühl der Superiorität gegenüber dem Allgemein-Gemeinen verschaffen. Bei Rezzori waren es damals die rutschenden Strümpfe »der« deutschen Frau, die nicht nur symbolisch braune Sauce »der« deutschen Küche, die Uneleganz »des« preußischen Adels:« Wer schreibt, nimmt Rache«.
Und dann geht es wieder los mit Rezzoris Kampf ums Adlig-Dabeisein. mit den Köstlichkeiten der Kindheit. dem Onkel, Abkömmling eines Kaisers von Byzanz und Großfürsten von Bessarabien, den Schlössern der Jugend auf dem Balkan, in Paris und an der Cote d"Azur, den Köchen. Dienern, Gouvernanten, der milden Erzieherin aus England.
Auch Rilke dichtete seine Mutter an. aus tiefer Sehnsucht: »Ich bin dein blondes Kronenkind, und du hast Edelblut!« Bei Rezzori liest es sich diesmal anders; er macht seine Mutter, die Mutter seines Erzählers nota bene, zur Hure, mitunter, etwas zarter, zur »Maitresse«. um die sich dann eben seine fürstlichen, gräflichen, freiherrlichen Nenn- und Patenonkels gedrängt haben oder der »Onkel Agop Garabetien«, auf dessen Yacht unser Kleiner widerstrebend von den Gouvernanten zu Bett gebracht wird, »Erzeuger unbekannt«.
Auch beim übrigen im Buch geht es viel und stark um Geschlechtliches, dessen Emotionen und Regionen Rezzori in dithyrambischen Girlanden. öfter noch mit dem phantasielosen Vokabular der Vulgärsprache bezeichnet, wo sie am vulgärsten ist, geht es um die Darstellung der fast mythischen Leistungen des Erzählers allerorten in dieser Sache. Der Leser hat als Mitte des Buches eine Wüstenei elender Wiederholungen, Auslegungen, Neu- oder Andersformulierungen des längst und oft Gesagten zu durchwandern, ein sehr banales Gedicht übern Berliner Wannsee zur Kenntnis zu nehmen und Passagen wie aus einem Wörterbuch. Hier ist eher ein Zeilenschinder am Werk als jener wohlmeinende Familienvater zu Ostern. Nur: Geschenke sind auch da versteckt.
Wer aber ist »Bruder Abel«? Nicht Rezzoris Ich-Erzähler. sondern Rezzori hat ihm im März 1962, in Hamburg, eine brüderliche Totenrede gehalten.