PSYCHOTRAINING Wie Zombies
Samstags, spät in der Nacht, wenn die meisten Amerikaner vor ihren Fernsehern dösen, bricht in den Ballsälen amerikanischer Großstädte ein Inferno aus, vor dem Visionen von Dante bis Kubrick zu farblosen Kunstprodukten verblassen.
Hotel Barbazon Plaza, New York, am vorletzten Wochenende: Auf dem abgewetzten, staubigen Teppich unter blätterndem Putz wälzen sich wie in kollektiver Tobsucht rund 300 Menschen, aufschreiend in inneren Qualen, schluchzend, wimmernd, dann wieder geschüttelt von irrem Gelächter. Ohnmachtsanfälle, der Geruch von Urin mischt sich mit dem von Erbrochenem, mit unbeteiligten Gesichtern verteilen junge Helfer Papiertaschentücher und Spucktüten.
Dann ein Kommando vom Podium. Wie Zombies erheben sich die noch eben Geschüttelten, holen sich Stühle. die zu dicht geschlossenen Reihen formiert werden; apathische Stille.
Der Trainer, lässig an einen hochbeinigen Stuhl gelehnt, nippt an einem Becher aus Edelstahl; dann, plötzlich, mit hochgeschraubter Stimme, attackiert er die Menge in verbalem Stakkato, mit monoton wiederholten Beschimpfungen: »Arschlöcher, Trottel, Idioten.«
Stunden später, manchmal erst im Morgengrauen, werden die Gequälten für ein paar Stunden nach Hause entlassen. Früh um acht, wehe dem, der zu spät kommt, geht der Hexensabbat weiter, rund sechzig Stunden insgesamt. Niemand darf während der Sitzungen den Raum verlassen, Rauchen ist verboten, zum Austreten gibt es im Lauf von 16 bis 18 Stunden zwei Pausen, gegessen wird einmal.
Zu der makabren Tortur drängen sich in den USA inzwischen Tausende. Monatelang müssen sie nach der Anmeldung auf einen freien Platz warten. 250 Dollar kostet die Teilnahme: Die Wochenend-Sitzungen sind therapeutisches Kernstück einer neuen amerikanischen Psycho-Kur« des »Erhard-Seminar-Training« (EST).
EST nennt sich nach seinem Erfinder Werner Erhard, 40. Als Jack Rosenberg in Philadelphia geboren, überkam ihn bei einem Flug über Land, als er in einem »Esquire«-Artikel über berühmte Deutsche blätterte, die Idee, sich nach Werner Heisenberg und dem Bundeskanzler Erhard umzutaufen.
Der Umstand, daß ihm die neue Identität bei der Flucht vor seiner Frau und den vier Kindern, die er sitzengelassen hatte, zustatten käme, mag eine Rolle dabei gespielt haben.
Erhard war ursprünglich Autoverkäufer, dann Vertreter für Enzyklopädien, ehe er sich schließlich zum Verkäufer von Seelenheil hocharbeitete. EST verkauft Erhard seit 1971.
Anfangs ein eher mäßig erfolgreicher Insider-Tip, hat sich das Training vor allem in den letzten beiden Jahren wie ein Steppenbrand über die USA verbreitet.
35 000 EST-Absolventen gab es 1974, darunter die Schauspielerinnen Joanne Woodward und Valerie Harper, der Pop-Sänger John Denver und Yoko Ono. 40 000 Bekehrte kamen im vorigen Jahr dazu, und nach den bisher vorliegenden Anmeldungen soll die Masse der Mitglieder des Werner-Erhard-Kults im nächsten Jahr um 125 000 anwachsen.
Prominente Mediziner und Psychologen gaben EST mit öffentlicher Fürsprache die akademischen Weihen. In Washington konnten EST-Anhänger Bundesmittel für das Training von Getto-Kindern und Gefangenen in Kalifornien lockermachen -- und das, obwohl EST, in Erhards eigenen Worten, »den Leuten nichts anderes vermittelt als das, was sie schon wissen«.
Höhepunkt der Sechzig-Stunden-Seelen-Massage ist nach zwei strapaziösen Wochenenden nämlich der Moment, in dem der Trainer seinen erschöpften Klienten die Einsicht vermittelt, daß sie »mechanische Ärsche, Maschinen« seien.
Wer das so richtig »mitgekriegt« hat ("got it"), der kann oder muß sich dann dazu entschließen, aus freier Entscheidung Maschine zu sein, was ihn, dialektische Kehrtwendung, dazu befähigt, sein maschinenhaftes, immer das gleiche Schema wiederholendes Verhalten aufzugeben -- so einfach ist das.
Der derart Erleuchtete kann nunmehr die volle, absolute Verantwortung für sein eigenes Leben übernehmen. Er sieht, jedenfalls wenn die EST-Gehirnwäsche funktioniert hat, daß sich jeder seine Erfahrungen selber »erschafft« -- auch dann, wenn sie wie direkt vom Himmel gesandt erscheinen: Lotteriegewinn oder plötzliche Entlassung, Brustkrebs oder Verkehrsunfall.
Also keine Entschuldigungen mehr: Wer sich gefesselt auf den Schienen findet, wenn der Fünfuhrzwanzig-Zug vorbeikommt, ist, so der EST-Trainer in seiner unverblümten Art, »das Arschloch, das sich selbst da hingepackt hat«.
Die EST-Regeln sind von Werner Erhard gesetzt, und sie sind, wie sie sind, »weil Werner das so will«. Teilnehmer am Seminar dürfen in den zehn Tagen, auf die sich die Exerzitien insgesamt verteilen, keinen Alkohol, keine Tabletten, keine Drogen zu sich nehmen, nicht meditieren oder sich sonstigen Bewußtseinsveränderungen hingeben. Sie müssen, einmal registriert, zu den Sitzungen erscheinen, und zwar auf die Sekunde pünktlich. Wer trotzdem wegbleibt, wird gnadenlos von der EST-Gestapo per Telephon verfolgt.
Pünktlich auf den Bruchteil einer Sekunde wird nach dem Ende der vereinbarten Pause die Tür des Ballsaals abgeriegelt, und davor steht ein grimmiger Zerberus, der Zuspätkommer eisig dafür abkanzelt, daß sie den Druck auf die Blase erleichtert haben, statt ihn für weitere sechs bis acht Stunden auszuhalten oder sich, wenn es denn sein muß, in die Hosen zu machen.
Eine Generation von Amerikanern, die zum Prinzip erhob, daß jeder machen soll, was er will ("to do one's own thing"), erlebt den EST-Drill als Schocktherapie, der tatsächlich Verhaltensänderungen bewirken kann.
»Ein meisterhaftes Amalgam sämtlicher bewußtseinsverändernder Techniken« nennt das Fachblatt »Psychology Today« die EST-Mixtur, und ihre Wirkung auf Unaufgeklärte sei ein »seltenes Spektakel«.
Wenn den frisch Bekehrten nach dem Marathon die Augen leuchten und ihnen der noch rechtzeitig erwischte Bus wie ein von ihnen selbst inszeniertes Wunder vorkommt, wird ihnen von der Organisation eingehämmert, daß sie ihr mühsam erworbenes Heil nur behalten würden, wenn sie es weitergäben ("to share"): wenn sie also ihre eigene Bekehrung weiterverscheuerten.
Mit blindem Eifer gehen die frisch Erleuchteten daran, Verwandten und Bekannten das 250-Dollar-Training aufzuschwatzen. Ohne einen Cent für Werbung auszugeben, bat Werner Erhard mit dieser Methode ein Multimillionen-Dollar-Imperium aufgebaut.
Die Büros seiner Organisation, die Zentrale in San Francisco und ein Dutzend Zweigstellen in anderen amerikanischen Städten vibrieren von der Geschäftigkeit der Erhard-Mitarbeiter, die (so »Psychology Today") »schuften wie die Ameisen, gegen niedrige Bezahlung oder umsonst«.
Vor ihrer Einstellung müssen die Novizen die »Vereinbarung« treffen (und das ist im EST-Orden praktisch ein Schwur), »alles haargenau so zu machen, wie Werner es will«. Einzig und allein der Wille, »Werner zu dienen«, sei für ESTianer der Zweck ihrer Mitarbeit in der Organisation, so formulierte es der gläubige Präsident der EST Inc., Don Cox, der für diesen Job seinen Posten als Direktor von Coca-Cola in Kalifornien aufgab.
Die Jünger haben sich, so eine EST-Mitarbeiterin zu einer Reporterin der New Yorker Zeitung »Village Voice«, als seine »Mönche«, als seine »Soldaten« zu verstehen. Entsprechend uniformiert, »wie Blaupapier-Durchschläge« von Werner ("Psychology Today"), verhalten sie sich und sehen sie aus.
Sie kleiden sich wie er -- in messerscharf gebügelte Hosen und sportliche Sakkos mit übergeschlagenen offenen Hemdkragen, sie bewegen sich, sie gestikulieren wie er, und sie reden ein EST-spezifisches Kauderwelsch, für das es inzwischen (in dem Pro-EST-Buch der Psychologin Adelaide Bry) ein von Werner festgelegtes Vokabularium gibt:
* »Jemandem etwas erzählen« ist die Chiffre für einen pompösen Vorgang, in dem »Erfahrungen geteilt« werden, feierlich, als gelte es, das Brot Christi zu brechen.
* Liebe: »Die Bereitschaft, den andern so sein zu lassen, wie er oder sie ist oder nicht ist.«
* Das Wort »und« wird benutzt, um keine »unnötigen Gegensätze zu »schaffen«, es ersetzt das Wort »oder«.
* Arschloch: »Was jeder ist, bevor sie oder er weiß, was er wirklich ist.«
Für seine Kriegerkaste hat Werner strenge Vorschriften ausgearbeitet. Sogar ihre persönlichen Beziehungen müssen die EST-Jünger rapportieren: »Halte Werner informiert, was deine Freundschaften angeht, ob Sex dabei ist oder nicht.« Im Prinzip dürfen sie ins Bett gehen, mit wem sie wollen, »außer mit ihren unmittelbaren Mitarbeitern -- es sei denn, Werner wüßte das schon«.
Die »Village Voice«-Reporterin Terri Schulz, die das Training mitgemacht hat, fand: »EST bringt uns bei, in einem totalitären System zu leben und zu funktionieren«, und summierte ihre Inside-Eindrücke so: »Wie 1984.«