LUFTFAHRT Wie zu Hause
Über der Hafengegend Bostons waberte Nebel, als Delta-Air-Lines-Pilot John Striel mit seiner DC-9 die Landepiste 4R des Logan International Airport ansteuerte. Runway 4R, dessen Asphaltschwelle knapp 1000 Meter hinter einer Hafenmole liegt, schien im Nebel wie vom Erdboden verschluckt.
Sekunden später, am letzten Julitag um 11.09 Uhr Eastern Standard Time, brach die Maschine an der Hafenböschung auseinander. Ihr Heck, das eine Betonmauer berührt hatte, stürzte ins Wasser; die beiden Düsen wühlten sich ins Gras vor der von Striel verfehlten Landepiste. Noch nie, sagte tags darauf die Washingtoner Flugunfall-Forscherin Isabel Burgess, habe sie ein solches Wrack gesehen: »Ein Bild der totalen Zerstörung.« 88 Menschen wurden getötet.
Das Bostoner Desaster war, was den Hergang anbelangt, typisch: Jede zweite Katastrophe, von der die amerikanische Zivilluftfahrt in den letzten fünf Jahren betroffen wurde, hat sich während des Landeanflugs abgespielt -- obschon die internationalen Verkehrsflughäfen in Europa und den USA über jene elektronische Landehilfe verfügen, die Piloten, Passagiere und Maschinen sicher auf die Pisten führen soll: das Instrumenten-Landesystem ILS.
Millionenfach bei Nacht-und-Nebeleinsätzen erprobt, galt ILS seit seiner Einführung vor 30 Jahren als Inbegriff für Sicherheit im Luftverkehr. »Piloten«, scherzte die Flugelektronik-Firma Bell Aerospace, »vertrauen ihm mindestens ebenso wie ihren Versicherungspolicen« -- und dies beinahe blind. Die sogenannte Entscheidungshöhe etwa -- unterste Grenze für den Fall, daß während eines Landeanflugs durchgestartet werden muß -- liegt auf Flughäfen der Landekategorie II nur 30 Meter über Grund.
Für die amerikanische Luftfahrtbehörde FAA jedoch, die seit jeher für besonders scharfe Sicherheitsauflagen sorgt, ist das ILS-Verfahren nun »am Rande seiner Möglichkeiten« angelangt. Die Washingtoner Lufthüter lassen deshalb ein System entwickeln, das laut FAA-Ankündigung »mehr Flexibilität und Sicherheit« denn je verheißt. Katastrophen wie jene von Boston oder La Coruna, wo am Montag letzter Woche eine spanische Caravelle zerschellte (85 Tote), sollen danach »mit höchster Wahrscheinlichkeit« vermieden werden können.
Das neue Zauberkürzel, das auch die Internationale Luftverkehrsvereinigung ICAO von Mitte der achtziger Jahre an weltweit einführen will, heißt MLS: Mikrowellen-Landesystem.
Mit MLS erschließen die Luftfahrt-Elektroniker extrem hohe Frequenzen im Bereich der Zentimeterwellen -- scharf gebündelte Nachrichtenkanäle, über die während der kritischen Landephase die wichtigsten Daten zum Flugzeug hinaufgefunkt werden.
So lassen sich auf MLS-Antennenstrahlen via Computer beispielsweise Wetterdaten oder Informationen über Seitenwind einspeisen -- Werte, die bisher nur von Fluglotsen über Sprechfunk vermittelt werden können. Computer oder verfeinerte Autopiloten an Bord der herannahenden Maschine dekodieren sodann den vom Boden abgestrahlten Datenstrom und senden ihrerseits Angaben über die Flughöhe und Identität an die Bodenstelle.
Die Forderungen der FAA-Beamten an das neue Blindlandesystem, für dessen Entwicklung 15 Millionen Dollar schon bewilligt sind, muten halsbrecherisch an: »Kurvenförmige Landeanflüge« sollen möglich sein, dazu die »totale Punktlandung plus minus drei Fuß« -- bei Sichtweite Null und ohne daß der Pilot den Steuerknüppel anrührt ("hands off«-Landung).
In der Tat würden damit die gravierenden Mängel des konventionellen Landeanflugsystems überwunden werden können: Beim herkömmlichen ILS-Verfahren wird nur ein einziger Landepfad in den Anflughimmel projiziert (siehe Graphik). Anfliegende Maschinen müssen zuerst in Warteräumen kreisen, ehe sie mit Radarhilfe nacheinander auf den schmalen ILS-Leitstrahl gelotst werden. Hinzu kommt, daß Unebenheiten im Gelände vor der Landebahn, das die ILS-Antennen als Reflektorfläche nutzen, die Qualität des Anflugdiagramms vermindern können; Bäume oder Häuser dämpfen manchmal die Signale oder löschen sie sogar.
Anders beim MIS: Radarkeulen vergleichbar, sind Mikrowellen-Bündel hin- und herschwenkbar (Scanning-Beam-Prinzip). Der Sektor, den sie bestreichen, reicht fächerförmig weit und hoch ins Hinterland hinaus (siehe Graphik).
In diesem dreidimensionalen Raum, der einem gigantischen Tortenstück ähnelt, können Piloten »praktisch rundum Lande-Informationen abrufen«, verspricht ein AEG-Telefunken-Ingenieur, dessen Firma gemeinsam mit den amerikanischen Unternehmen Bendix, Beil Aerospace und Lockheed-Georgia in den Wettstreit der MLS-Systeme eingetreten ist.
Im Gegensatz zu ihren Mitbewerbern, von denen ein auf dem Dopplerprinzip basierendes Verfahren propagiert wird, vertraut die deutsch-amerikanische Gruppe auf jenes MLS-System, dessen Abtastfächer das Sesam-öffne-dich der Lüfte zu sein scheint.
Der frequenzmodulierte, mit Informationen gespickte Antennenstrahl ermöglicht den Piloten,
* von sich aus den für ihren Maschinentyp günstigsten Anflugwinkel zu bestimmen;
* gleichsam um die Ecke herum anzufliegen -- Lärmschutzzonen könnten umflogen, die Zahl der Landungen erhöht werden;
* fortlaufend die Entfernung zum Aufsetzpunkt zu kontrollieren: Markierungsbaken, die beim ILS-Verfahren ohnehin nur grobe Werte liefern, wären überflüssig, stationäre Hindernisse würden die Daten nicht mehr verfälschen.
Erste Erfahrungen mit vielversprechenden MLS-Systemen sind schon gesammelt worden. Singer-Kearfott, ein amerikanisches Elektronik-Unternehmen, lieferte ein »Talar« genanntes MIS-System an die US Air Force; es wurde in Vietnam erprobt. Ein weiteres MLS-Gerät wurde Anfang dieses Jahres von der Tull Aviation Corporation in Betrieb genommen -- auf dem Zivilflughafen Holman Field in St. Paul (US-Staat Minnesota). Tull-Präsident William Tull: »Unsere Piloten fühlen sich auf den Mikrowellen wie zu Hause.«