MARXISMUS / LUKACS Wieder an die Brust
Ungarns marxistisches Großhirn Georg Lukács, 82, steuerte das letzte, womöglich allerletzte Manöver auf seinem lebenslangen Zickzack-Kurs zwischen Geist und Macht: Er bat die Kommunistische Partei Ungarns (KPU) um Wiederaufnahme.
Parteichef Kádár, der ihn nach dem Aufstand von 1956 verstoßen hatte, gewährte Ungarns größtem Philosophen Mitte Oktober die »volle Rehabilitierung« -- auch sie die vermutlich letzte in einer wechselvollen 50jährigen Partei-Karriere,
Nach glänzenden, literarisch-akademischen Erfolgen -- seine »Theorie des Romans« (1916) machte ihn weltberühmt -- war Lukács, obwohl Sohn eines geadelten jüdischen Bankiers, unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges 1918 der KPU beigetreten.
Bereits 1919 übertrug Ungarns Räte-Diktator Bela Kun dem jungen Intellektuellen wichtige Ämter: Lukács wurde stellvertretender Volkskommissar für Volksbildung und Polit-Kommissar der 5. Roten Division.
Doch nach vier Monaten Räte-Herrschaft mußte er vor der Gegenrevolution nach Wien fliehen. Dort schrieb er sein bedeutendstes philosophisches Werk, »Geschichte und Klassenbewußtsein«, das die Denker Europas von Heidegger bis zu Herbert Marcuse und Sartre beeinflußte.
Die rote Weltkirche verurteilte jedoch das Buch, in dem Lukács Engels und Lenin kritisiert hatte. 1924 klagte ihn Komintern-Chef Sinowjew in Moskau des »Revisionismus« an: »Noch ein paar solcher Professoren, die ihre marxistischen Theorien spinnen, und wir sind verloren.«
Lukács mußte zum erstenmal Selbstkritik üben. Zum erstenmal auch betrat er damit den Kreuzweg des kommunistischen Intellektuellen, der seine Ideen in »materielle Gewalt«, in Praxis verwandeln muß und dabei den Widerstand der -- von ihm innig gehaßten -- Bürokratie, der zur Staatsmacht aufgeblasenen Kontroll-Instanz der Revolution erfährt.
Da Lukács überzeugt war, daß die Partei der »bewußte Gesamtwille« sei, der das »Reich der Freiheit« zu verwirklichen habe, unterwarf er sich wieder und wieder, von den Machthabern bedroht und gedemütigt, immer in der tödlichen Gefahr, »bei einer schroffen Wendung des Kurses aus dem Wagen herausfallen zu müssen«, wie der bulgarische KP-Chef Georgi Dimitroff einmal sagte.
Niemals kam dem ungarischen Denker der Gedanke, zu fliehen und die Partei zu verraten, niemals aber verzichtete er auch auf Gedankenfreiheit.
1929 trug er auf dem Parteitag der Exil-KPU unter dem Decknamen Robert Blum -- nach dem 1846 in Wien hingerichteten Revolutionär -- die sogenannten Blum-Thesen vor. In ihnen verkündete er angesichts des Horthy-Regimes in Ungarn die Theorie einer »demokratischen Diktatur«, eines dritten Weges zwischen Horthy und der Diktatur des Proletariats. Dahinter stand die von ihm schon 1920 aufgestellte These »Kein Sozialismus ohne Demokratie.
Auch die Blum-Thesen erschienen den Büro-Dogmatikern als Häresie, denn seine Konzeption umfaßte auch Gewerkschaften und Sozialdemokraten und widersprach damit Stalins These, die Sozialdemokratie sei der »Zwillingsbruder des Faschismus«.
Ungarns Exil-KP unter Bela Kun und Mátyás Rákosi, dem ungarischen Diktator nach 1945, feuerte den Demokraten Lukács aus dem ZK.
Lukács übte zum zweitenmal offiziell Selbstkritik. 1956 erklärte er seinen Widerruf im Petöfi-Klub, dem Treffpunkt der intellektuellen Partei-Opposition, als opportunistisch, da er nicht aus der Partei ausgeschlossen werden wollte.
Ober seine Emigrationszeit in Moskau von 1933 bis 1945 urteilte er später: »Ich war gezwungen, eine Art Partisanen-Krieg für meine wissenschaftlichen Ideen zu führen; das heißt mit einigen Stalin-Zitaten das Erscheinen meiner Arbeiten zu ermöglichen und ... dann meine abweichende Ansicht ... so offen auszudrücken, wie es der jeweilige historische Spielraum gestattete. Daraus folgte zuweilen ein Gebot des Schweigens.«
Nach dem Erlebnis des im Despoten Stalin personifizierten »Gesamtwillens« kehrte Lukacs 1945 mit den Panzern der Sowjet-Armee nach Budapest zurück und erhielt ein Ordinariat an der Universität.
Zwei Jahre später bereits löckte er abermals wider den Stachel der Partei. Unverdrossen propagierte er im Sinne seiner Blum-Thesen in einer »Theorie der Volksdemokratie« verschiedene Übergangsstadien, also nationale Wege zum Sozialismus.
Monoton empörten sich die Büro-Kardinäle: Volksbildungsminister Révai beschuldigte ihn 1949, einen dritten Weg zwischen Prolet-Diktatur und Bourgeoisie zu suchen.
Lukács verlor seine Professur und alle Parteiämter: Noch einmal schwor er ab -- zum letztenmal.
Während der ungarischen Erhebung von 1956 amtierte r als Kulturminister. Als jedoch Premier Nagy den Warschauer Pakt aufkündigen wollte, verließ er die Regierung vor dem Eingreifen der Sowjet-Armee. Das bewahrte ihn zwar vor einem Prozeß, nicht aber vor Verbannung und Verfemung.
Kádárs Minister Szigeti, ein Schüler des Philosophen, nannte Lukács 1957 einen »revisionistischen Liquidator«, obschon er zu dessen 70. Geburtstag 1955 noch gejubelt hatte: »Das Lebenswerk des Genossen Lukács gehört uns, der Partei ...«
Nach der Entzauberung Stalins durch Chruschtschow lehnte Lukács 1957 eine dritte offizielle Selbstkritik ab. Der »unverfälschte« Marxismus, erklärte er 1964, müsse die »absolute Freiheit zur Äußerung erhalten. Kádárs KPU schwieg dazu.
Das jahrelange Ausbleiben der notorischen Anti-Lukács-Kritik hatte ausländische Beobachter schon dazu bewogen, die Rehabilitation für den 80. Geburtstag 1965 zu weissagen. Doch statt des erwarteten Staatsempfangs für Lukacs im Bildersaal der Akademie fand daselbst zur Geburtstagszeit nur ein internationaler Paprika-Kongreß statt.
Erst zweieinhalb Jahre später drückten die Polit-Bürokraten der KPU, zwischen Rührung und Resignation schwankend, ihren größten und unbequemsten Genossen wieder an die Brust.