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UMWELT Wildes Gemisch

Muttermilch und menschliches Fettgewebe sind verseucht von einer Substanz, gefährlicher als DDT. Bayer entschloß sich zum äußersten: sofortiger Produktionsstopp.
aus DER SPIEGEL 41/1971

Heimlich, in aller Stille, wollten zwei Chemie-Giganten ein Ungeheuer zu Grabe tragen, das vor vier Jahrzehnten aus ihren Retorten schlüpfte -- und als einer der bedrohlichsten und weitestverbreiteten Giftstoffe in der Umwelt des Menschen entlarvt wurde.

Auf Anfrage wußten Mitte letzter Woche weder die Pressestellen der beiden beteiligten Chemiewerke noch der Pressereferent im Bundesgesundheitsministerium über den Inhalt einer Konferenz Bescheid zu geben, die zwei Tage zuvor, am Montag um 14.30 Uhr. im Strobel-Haus zu Bad Godesberg abgehalten worden war.

Fazit der geheimen Zusammenkunft: Die Farbenfabriken Bayer und der amerikanische Chemiekonzern Monsanto stoppen noch in diesem Jahr die Produktion einer sirupartigen Flüssigkeit, mit der sie bislang Millionenumsätze erzielten.

Beide Weltunternehmen. so Bayer-Chemiker Dr. Ernst Komarek in Bad Godesberg, wollen künftig »davon Abstand nehmen«, sogenannte hochchlorierte Biphenyle -- chemische Kurzbezeichnung: PCB -- herzustellen.

Fast ein Jahrzehnt lang hatte das Insektengift DDT, das sich in tierischem und menschlichem Fettgewebe aufspeichert, gleichsam als Inbegriff der Umweltverpestung durch Chemikalien gegolten. Nun stellt sich heraus, daß die

Chlorkohlenwasserstoffverbindung PCB, dem DDT und seinen Abkömmlingen eng verwandt, »ein verdammt viel größeres Problem darstellt als DDT« -- so Dr. Charles C. Edwards. Chef der amerikanischen Arznei- und Lebensmittelbehörde FDA.

Die synthetisch hergestellte Substanz ist fast allgegenwärtig. »Etliche 10 000 Tonnen«, so schätzte die »New York Times«, werden jedes Jahr davon hergestellt. hauptsächlich für zwei Anwendungsgebiete:

* als feuerbeständiges Kühl-, Schmier- und Isoliermittel in der Elektrobranche (etwa in großen Transformatoren) sowie als Hydraulikflüssigkeit im Maschinenbau -- PCB hält Temperaturen bis zu annähernd 900 Grad Celsius stand;

* als Weichmacherzusatz in einer unübersehbaren Zahl von Kunststofferzeugnissen, aber auch in Farben und Lacken sowie in Büroutensilien. etwa Klebstoff und kohlefreiem Kopier-Papier.

Am Montag letzter Woche enthüllte die FDA -- nach dreiwöchigem Schweigen -, daß PCB-Rückstände in Nudeln und Weizenschrot nachgewiesen wurden. Mit PCB verseucht waren Folienverpackungen von Käse, Schokolade, Trockenmilchpulver, Brezeln, Biskuits. Trockenfrüchten. Reis, Mehl, Puddingpulver, Kartoffelchips, Pfannkuchen und Haferflocken. William D. Ruckelshaus. Chef der amerikanischen Umweltschutzbehörde: »Die plötzliche Häufung von Informationen über PCB versetzt uns in Sorge.«

Doch auch ihren Urhebern erscheint die PCB-Gefahr hinlänglich erwiesen. Norbert Dahlström, Europa-Manager des Chemiekonzerns Monsanto (Jahresumsatz: 6,1 Milliarden Mark), letzte Woche zum SPIEGEL: »Es werden Randerscheinungen beobachtet, die uns bedenklich erscheinen.«

Mit der Dahlström-Äußerung kamen die neuesten Alarmnachrichten aus den USA:

* Das US-Landwirtschaftsministerium bestätigte am Mittwoch letzter Woche. daß im Staat New York im Laufe des letzten Jahres 146 000 Hühner an PUB-Vergiftung eingegangen waren. Im August dieses Jahres wurden im US-Staat Minnesota 50 000 Puter durch Einwirkung von PCB vergiftet.

* Dr. Douglas Worf, Mediziner im Dienst der US-Umweltschutzbehörde, gab bekannt, zum erstenmal seien PCB-Rückstände auch im menschlichen Blutplasma nachgewiesen worden.

* Dr. Robert Risebrough, Chemieprofessor an der Universität von Berkeley. berichtete einem Senats-Komitee in Washington von zwei totgeborenen Kindern, die »beide die Symptome einer PCB-Vergiftung aufwiesen«.

Unterdes haben westdeutsche Forscher festgestellt, daß PCB-Rückstände im menschlichen Organismus schon eine »ubiquitäre Erscheinung« sind (so der Kieler Milchwissenschaftler Dr. Walter Heeschen). Bis Anfang letzten Monats untersuchte der Münsteraner Lebensmittelchemiker Professor Ludwig Acker insgesamt 93 Proben menschlichen Fettgewebes und 45 Proben von Muttermilch. Acker: »In allen Proben war PCB enthalten.«

Daß Lebensmittelchemiker und Umweltschützer die Gefahren des PCB so spät erkannten, hängt mit seiner chemischen Verwandtschaft zum DDE zusammen. Viele Rückstände. die für DDT-Abkömmlinge gehalten wurden. sind in Wahrheit PCB-Reste. Dabei bleibt das PCB -- anders als DDT, das nach etwa zehn Jahren abgebaut wird -- im menschlichen und tierischen Gewebe praktisch lebenslang beständig. Seit 1930 wird die »unangenehm aussehende Flüssigkeit« (Monsanto- Manager Dahlström) industriell gefertigt. Aber erst 1966 fanden Berkeley-Professor Risebrough und der schwedische Forscher Sören Jensen PCB- Rückstände in freier Wildbahn.

Risebrough entdeckte Ablagerungen der Substanz im Organismus und in den Eiern von Wanderfalken in der Nähe von San Francisco, Jensen in Fischen und Fischlaich unweit von Stockholm.

Weitere Analysen von Ostseefischen ergaben, daß PUB-AnreLherungen -- über die sogenannte maritime Nahrungskette -- über Krabben, Heringe und Robben bis in die Brustmuskeln von Seeadlern gelangen. Effekt: Von zehn Seeadlerpärchen in den Schären vor Stockholm brüteten in den letzten zehn Jahren nur noch zwei Pärchen Eier aus.

Welche Gefahren PCB für den Menschen birgt, wurde erstmals 1968 offenbar. als in Japan fünf Menschen starben -- vergiftet durch Reis, der mit PCBverseuchtem Öl gekocht worden war. Weitere 1000 Japaner erkrankten damals an einer schweren Hautentzündung, der sogenannten Chlorakne.

Daß aber PCB auch ohne solches Mißgeschick. wie es den japanischen Reis-Essern widerfuhr, in den menschlichen Organismus gelangt, halten die Forscher mittlerweile für er-wiesen.

Der Schwede Jensen entdeckte Rückstände nicht nur in seinen eigenen Haaren und in denen seiner Frau. sondern auch in den Haaren seiner fünf Monate alten Tochter, Das Gift. so vermutet Jensen, war mit der Muttermilch in den kindlichen Organismus gelangt. Die Forscher in Münster fanden im Milchfett ihrer Muttermilch-Proben eine dreimal. in dem untersuchten Fettgewebe sogar eine fünfmal so hohe Konzentration an PCB wie an DDT,

Auch in allen Muttermilch-Proben. die -- aus Kiel und Umgebung stammend -- in die Bundesanstalt für Milchforschung angeliefert wurden. »war PCB zu finden, wenn auch in geringeren Mengen« (so Milch-Experte Dr. Heeschen). Nun konzentrieren sich die Kieler Wissenschaftler auf die PCB-Suche in Kuhmilch.

Anders als ihre amerikanischen Kollegen glauben jedoch die Münsteraner Forscher, daß PCB nicht nur über die Nahrungskette in den menschlichen Organismus gelangt, sondern auch mit der Atemluft.

Ein erstes Indiz für diese These fand Acker während einer Analyse von Fettgewebe in seinem Labor. Unerklärlicherweise waren Lösungsmittel. die mit der Außenluft in Berührung gekommen waren. wiederholt mit PCB verunreinigt. Acker: »Es stellte sich heraus. daß der Ölanstrich im Labor PCB als Weichmacher enthielt.« PCB konnte daraufhin in der Atemluft »in merklicher Menge« nachgewiesen werden.

In den Dunstglocken über Hamburg und London sind Spuren von PCB schon Mitte der sechziger Jahre festgestellt worden: die Funde blieben damals unbeachtet. Luftproben aus dem Rhein-Main-Gebiet sollen nun in dieser Woche erstmals nach Münster transportiert und systematisch auf PCB-Anreicherungen untersucht werden.

Wenn die Befürchtungen der Wissenschaftler sich bestätigen, wäre -- trotz Produktionsstopp bei Monsanto und Bayer, die für Deutschland. Großbritannien und die USA das PCB-Mono-Pol halten -- das Ausmaß der gesundheitlichen Schäden nicht abzusehen. Wissenschaftler auf einem Nobelpreisträger-Treffen in Göteborg sprachen im August dieses Jahres die Befürchtung aus, die PCB-Konzentration könnte »bereits eine Größenordnung erreicht haben, die eine unumkehrbare Störung der Ökosysteme in weitweitem Umfang zur Folge hätte«.

Aufgrund von Tierversuchen befürchteten die Mediziner, daß PCB schwere Leberschäden verursacht. Die Substanz regt die Leber zu einer Überproduktion von Enzymen an. Dadurch entsteht die Gefahr. daß Geschlechtshormone wie Progesteron, Testosteron und Östradiol zu wasserlöslichen Verbindungen abgebaut und aus dem Organismus ausgespült werden.

Seit letztem Jahr besteht auch der Verdacht. daß PCB, vielleicht unter Mitwirkung eines chlorhaltigen Beiprodukts namens Dibenzofuran. zu einer Häufung von Mißbildungen bei Neugeborenen führt. Derartige Geburtsdefekte sind bei Tierversuchen. aber auch bei Fischen und Hühnern in der Natur nachgewiesen worden; und unter den tausend PCB-kranken Japanern waren mehrere Frauen, die mißgebildete Kinder zur Welt brachten.

Tierversuche in der Universität von Utrecht haben überdies ergeben, daß PCB bei Zwergwachteln sowie bei Hähnchen der Rasse Weißes Leghorn Herzbeutelwassersucht hervorrufen kann. Hauptschwierigkeit der Forscher. vor allem auch bei Rückstandsuntersuchungen, ist jedoch der Umstand, daß es sich »bei den fraglichen Verbindungen um ein wildes Gemisch von Einzelkomponenten handelt« (so Professor Acker), um sogenannte Isomere. die noch nicht einmal alle bekannt und chemisch schwer nachzuweisen sind.

»Wir sind nicht päpstlicher als der Papst und nicht heiliger als die Bibel«. so umschrieb Monsanto-Manager Dahlström aus Firmensicht den PCB-Rückzieher; sein Konzern habe sich dazu entschlossen. »um nicht von einer Welle politischer Emotionen über Bord gespült zu werden«.

Schon im März dieses Jahres hatten die Monsanto-Manager verlauten lassen, das gefährliche PCB zurückzuziehen. Doch noch weitere fünf Monate lang mußte der anglo-amerikanische Konzern »auf Bayer einwirken« (Dahlström), ehe sich auch der Leverkusener Chemie-Gigant zum Rückzug entschloß.

Letzte Woche wollte ein Leverkusener Firmensprecher den PCB-Auslieferungsstopp als »Goodwill von Bayer« gewertet wissen. Doch ganz wohl ist den Bayer-Leuten offenbar bei allem guten Willen nicht.

Auf der Bad Godesberger Konferenz vom vergangenen Montag ließ der Bayer-Gesandte den Wunsch durchblicken, von »eingehenderen Untersuchungen« der Auswirkungen hochchloriger Biphenyle solle -- offenbar als Gegenleistung -- »abgesehen werden«. Die Substanz werde ja nun aus dem Verkehr gezogen.

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