AUTOREN Wildwest im Ossiland
Die Gangster kommen in einer Sommernacht. Der Autohändler Willenbrock und seine Frau Susanne verbringen das Wochenende in ihrem Landhaus am Haff, gegenüber der Insel Usedom. Der Ehemann, von einem Geräusch geweckt, steht auf und sieht sich, unbewaffnet und nur mit Pyjamajacke bekleidet, einem Fremden gegenüber.
Der ruft seinem Kumpanen ein paar Worte zu, offenbar auf Russisch, dann geht er zum Angriff über: erst mit der Stange, dann, als der Hausherr sich hinter einer Tür verschanzt, mit einem Messer. Die Klinge verfehlt Willenbrocks Kopf nur knapp. Erst als der so Attackierte einen Anruf bei der Polizei simuliert, verschwinden die Männer.
»Jede Woche haben wir einen Fall wie Sie«, erfährt Willenbrock später im Krankenhaus. Der Arzt sagt: »Man sollte Mauern bauen. Überall Mauern, anders ist der Menschheit nicht beizukommen ... Wilde Bestien werden auch in Käfigen gehalten.«
Seelenruhig und scheinbar völlig unbeteiligt protokolliert der Schriftsteller Christoph Hein, 56, in seinem neuen Roman »Willenbrock«, wie ein Mensch in den Ausnahmezustand gedrängt wird*. Sein Held ist eigentlich ein besonnener Mann, der sich so leicht nicht aus der Ruhe bringen lässt - Ostalgie ist ihm genauso fremd wie das Law-and-Order-Gerede um ihn her: Bernd Willenbrock hat den Sprung aus der gesicherten Angestelltenexistenz zu DDR-Zeiten in die Selbständigkeit nach der Wende bravourös bewerkstelligt. Mit dem An- und Verkauf von Gebrauchtwagen ist er zum Kleinunternehmer geworden.
Hein, einst in der DDR als Kritiker des Staatsapparats hervorgetreten und bis vor kurzem PEN-Präsident, hat mit Willenbrock keinen larmoyanten Verlierer der Einheit porträtiert. An jedem Werktag pünktlich um neun Uhr öffnet der Held das Tor seines Autohofs, um die ersten Kunden zu begrüßen. Viele kommen aus dem Osten, einige von ihnen - wie der Russe Krylow - regelmäßig und mit viel Geld in der Tasche.
Doch Willenbrocks Lebensroutine wird brüchig, als zunächst einige Autos vom Hof verschwinden, dann dem neu eingestellten Nachtwächter der Hund getötet wird und
schließlich - nach dem Überfall auf das Landhaus - die beiden Russen, die wahrscheinlich dafür verantwortlich sind, ohne Anklage über die Grenze abgeschoben werden.
Wildwest im Ossiland. Der Dorfpolizist auf dem Land fühlt sich nicht zuständig, die nette Kommissarin ist machtlos, und der Staatsanwalt in Neubrandenburg, der für die Abschiebung der Verdächtigen zuständig ist, schaut kaum von den Akten auf, als Willenbrock ihn wütend aufsucht, fast schon ein zweiter Kohlhaas - den Revolver hat er in der Tasche. Sein treuer Kunde Krylow hat die Waffe ungebeten besorgt.
Hein, dem mit dem fulminanten Prosawerk »Von allem Anfang an« (1997) ein Rückblick auf Kindheits- und Jugendjahre in der DDR gelang, erneuert mit »Willenbrock« seinen Ruf als Chronist deutscher Gegenwart: Der Autor, dem es die Ostbehörden als Pastorensohn nie leicht machten, hat als Dramatiker und Erzähler nicht nur in der DDR für Furore gesorgt - mit der Novelle »Der fremde Freund« (1982; im Westen 1983 als »Drachenblut« erschienen), den Romanen »Horns Ende« (1985) und »Der Tangospieler« (1989) wurde er in der Bundesrepublik rasch bekannt.
Heute zählt Hein - vom selben Jahrgang wie Bernhard Schlink ("Liebesfluchten") - zu den wichtigen deutschen Autoren der Generation nach Grass, Walser und Christa Wolf. Mit seinem neuen Roman wechselt er zugleich vom einstigen DDR-Prestigeverlag Aufbau zu Suhrkamp - »Willenbrock« steht im Mittelpunkt des Jubiläumsprogramms, mit dem der Frankfurter Verlag jetzt sein 50-jähriges Bestehen feiert.
Ein großer Auftritt: Doch leider hat das zugkräftige Sujet den Erzähler zu formalen Nachlässigkeiten verführt, die das Vergnügen an dem Romanreport über die Zustände in Deutschland-Ost trüben.
Auch in seinen stärksten Prosastücken zeigte Hein stets Anflüge bürokratischen Stils, doch der Roman »Willenbrock« wirkt passagenweise wie eine Rohfassung. Fast unbeholfen schreitet die Prosa von Datum zu Datum voran: »In der ersten Maiwoche«, »In der folgenden Woche«, »Am Nachmittag«, »Am Abend«, »Eine halbe Stunde später«, »Am Freitagabend«, »Drei Tage später«, »Mitte Oktober« - so beginnen unentwegt Kapitel und Absätze. Die Eckdaten der Geschichte allerdings (sie spielt zwischen 1996 und 1998) muss sich der Leser erschließen.
Hein kokettiert in »Willenbrock« mit dem Krimigenre. Doch versteckt er, als scheute er die Spannung, die Geschichte hinter umständlicher Beschreibung des Alltags. Ausführlich wird von einer Reise zur Schwiegermutter berichtet oder ein Kurztrip des Ehepaars nach Venedig beschrieben, genauestens wird der Leser über den Fortschritt des Büroneubaus auf dem Autohof oder eine Modenschau mit schriller Begleitmusik in der Boutique informiert.
Über Willenbrocks Innenleben ist wenig zu erfahren: Er wird aus großer Distanz, in der dritten Person, porträtiert - dann aber heißt es plötzlich, angesichts von Ehefrau Susanne: »Mein Gott, dachte er, warum mache ich das nur, ich habe das schärfste Mädchen zu Hause und laufe unentwegt jeder anderen Tussi hinterher.«
Dieser Ton, der salopp sein will, doch recht unbeholfen wirkt, beschädigt den Roman. Ohnehin geht es stilistisch recht verkrampft zu, wenn von Frauen die Rede ist. Schon auf der ersten Seite muss Willenbrock Mädchen betrachten, »die ihm ihre Brüste entgegenstreckten«. Willenbrocks erotische Eskapaden dagegen werden vornehm ausgeblendet.
Am Ende will und kann auch Hein auf den Knalleffekt nicht völlig verzichten. Doch da ist der Leser von der stilistischen Eintönigkeit längst betäubt. Während einst in Albert Camus'' Roman »Der Fremde« (1942) die fatalen Schüsse aus dem Revolver des Helden »wie vier kurze Schläge« dröhnen, »mit denen ich an das Tor des Unglücks hämmerte«, ist der Lärm, den die Waffe in Heins Nach-Wende-Roman schließlich macht, nicht viel mehr als eine nächtliche Ruhestörung. VOLKER HAGE
* Christoph Hein: »Willenbrock«. Suhrkamp Verlag, Frankfurt amMain; 320 Seiten; 39,80 Mark.