»Wir müssen das Unsrige tun«
Ich lernte Heinrich Böll kennen, achten und lieben, noch bevor ich ihm zum ersten Mal begegnen konnte: Er gehörte zu jenen wenigen Schriftstellern aus der Bundesrepublik, deren Bücher von Anfang an auch in Polen erscheinen durften und Rekordauflagen erreichten: Die Sehnsucht nach einer so menschlichen, aufrichtigen, gedanklich tiefen und in formaler Hinsicht großartigen Prosa war unter den Polen unendlich groß. Kein anderer Schreibender hat wie Heinrich Böll zur Differenzierung des Deutschenbildes der Polen beigetragen. Daß er vielen zugleich die Tugend moralischer Kompromißlosigkeit und staatsbürgerlichen Ungehorsams beibrachte, wurde von den Disponenten der Kulturimporte zu spät bemerkt.
Was Wunder, daß der Journalist aus Polen, zum ersten Mal in Köln, vor allem Heinrich Böll besuchen wollte. »Wozu Termine ausmachen, kommen Sie doch am besten gleich!« Da war schon der Arbeitstisch mit einer großen, auffallend dicken, weder furnierten noch lackierten Holzplatte, die an eine Tischlerbank denken ließ. Der aufmerksame Blick ruhiger Augen, die Gewohnheit, sich dem Gesprächspartner entgegenzubeugen und dessen Worte mit einem leichten Kopfnicken zu begleiten, gaben diesem das Gefühl, daß alles, was die Menschen an der fernen Weichsel bewegte, auch hier, am Rhein, als wichtig betrachtet würde.
Dann begann das Interview. Die Oder-Neiße-Grenze? »Sie sollte« - man schrieb das Jahr 1960 - »schon längst von unserer Regierung anerkannt worden sein. Diese hartnäckige Verneinung von Tatsachen ist unsinnig und schädlich ...« Die künftige Entwicklung hierzulande? »Im Augenblick sind meine Landsleute voll und ganz damit beschäftigt, das Wirtschaftswunder zu genießen. Ich kann aber nicht voraussagen, wie es sein wird, wenn es einmal zu einer schweren Krise kommt. Vielleicht werde dann auch ich, als Deutscher unter Deutschen, Angst haben müssen ... Aber natürlich dürfen Sie das veröffentlichen, auf Angriffe bin ich gefaßt.«
Acht Jahre später, im Sommer 1968, hatte in Polen die Kampagne gegen »Revisionisten, Zionisten und Kosmopoliten« ihren Höhepunkt erreicht. Der Journalist sah sich zur Auswanderung gezwungen. Drei Tage vor dem Abreisetermin bekam er eine Nachricht von »Zaiks«, einer Organisation, die unter anderem Honorare ausländischer Autoren zu verwalten hatte: Heinrich Böll habe eben telegraphiert, er stelle ihm sein ganzes Zloty-Guthaben zu freier Verfügung, für die polnischen Verhältnisse ein Vermögen. Der Journalist ist nicht zur Kasse gegangen. Aber auf einmal schien ihm die fremde Welt, in der er schon bald leben sollte, nicht mehr so ganz fremd zu sein.
Sie war es in der Tat nicht, nicht zuletzt dank Hinrich Böll. »Ich habe die Sache bereits mit meiner Frau und mit meiner Schwester besprochen. Sie sollen vorerst, samt Frau und Kind, hier in unserem Haus bleiben.« In dem nicht allzu großen Haus, Köln-Müngersdorf, lebte bereits seit einigen Wochen der tschechische Filmregisseur Vojtech Jasny mit Frau. »Ich habe heute einen guten Tag, der Auftrag für Vojtech scheint endlich unter Dach und Fach zu sein.«
Die Arbeitssuche für die Einwanderer mit kümmerlichen Deutschkenntnissen und Berufen, in denen die Sprache zum wichtigsten Instrumentarium gehört, schien für Heinrich Böll ein wichtiges persönliches Anliegen zu sein. »Er ist mein alter, guter Freund. Sie müssen ihm eine Chance geben!« Wer hätte geahnt, daß dieser sanfte, gutmütige Mensch eine solche Energie, ja einen ausgesprochenen Kampfgeist entwickeln konnte.
Gutmütig und sanft konnte Heinrich Böll sogar gegenüber jenen sein, die ihm Ärger bereiteten. Als zwei SPIEGEL-Leute, darunter der Einwanderer aus Polen, zu später Abendstunde vor dem Böll-Haus in Langenbroich in der Eifel eintrafen, um den am selben Tag aus dem Moskauer Butyrki-Gefängnis entlassenen Solschenizyn zu sprechen, wurden sie von einem altgedienten Polizeibeamten aufgehalten: Für Journalisten kein Zutritt.
Sie schrieben einen Zettel an Böll, und nach wenigen Minuten kam der Polizist, jetzt die Höflichkeit in Person, mit dem Hausherrn zur Pforte. Auf die scherzhafte Frage, ob er erwartet habe, daß sein Haus je unter Polizeischutz stehen würde, antwortete Böll lächelnd, erst vor kurzem habe bei ihm eine Hausdurchsuchung stattgefunden, und derselbe Polizist, allerdings nicht so zuvorkommend wie heute, sei dabeigewesen. »Aber was soll das schon! Er tut das Seinige, und wir müssen das Unsrige tun.«
Als in einer Dezembernacht 1981 das Kriegsrecht in Polen verhängt wurde, Bürgerrechtler und Gewerkschafter verhaftet und mißhandelt wurden, rief der Journalist in Köln - wo denn sonst? - an. Es ging darum, möglichst schnell eine möglichst lange Liste von möglichst gewichtigen Namen unter einem Protestschreiben europäischer Intellektueller zusammenzubringen.
Heinrich Böll, zu jener Zeit schon seit langem nicht mehr gesund, zögerte keinen Augenblick, obwohl manche seiner Nobelpreis-Kollegen in einem Alter waren, in dem man Menschen keine nächtlichen Telephonate zumuten sollte. Am nächsten Morgen waren die meisten der erhofften Unterschriften da. In solchen Fällen konnte Böll sehr energisch sein.
Seine Briefe an Leute, die er mit der Anrede Freund ehrte und in denen jedes Wort Bedeutung hatte, waren handgeschrieben, mit grüner Tinte, ebenso seine Gedichte, die sich manchmal in dem Umschlag befanden. Und die Besuche in der Kölner Hülchrather Straße, wenn man es schon gewagt hatte, ihn zu stören, gaben dem Besucher vieles, vor allem Mut.