Das dunkelgrüne Zelt war mit Treibschnee bedeckt und von innen verschlossen. »Wir haben gefunden, was wir gesucht haben«, schreibt ein Mitglied der britischen Erkundungsmannschaft an diesem 12. November 1912 in sein Tagebuch. »Großer Himmel, wie hart das Schicksal zuschlagen kann!«
Zögernd und voll Scheu vor dem, was sie erwartet, haben die Männer des Suchtrupps das Zelt freigeschaufelt und geöffnet. Ihr Boss, der Marinearzt Atkinson, befiehlt jedem einzelnen, in das Zelt zu kriechen und sich umzuschauen, damit es später keinen Disput geben könne über den Anblick, der sich ihnen bei 79 Grad und 38 Minuten südlicher Breite auf dem antarktischen Eisschelf des Rossmeeres bot.
»Ich sah ein geisterhaftes Bild«, notiert der Seemannsmaat Seiner Britischen Majestät, Thomas Williamson. »Diese Schlafsäcke mit den gefrorenen Leichen darin. Den Leichnam in der Mitte erkannte ich als Captain Scott. Die Gesichter der anderen beiden sah ich nicht, noch lag mir daran, die armen Kerle zu sehen.«
So endete die letzte Fahrt des britischen Marineoffiziers Robert Falcon Scott, der zusammen mit vier Gefährten am 17. Januar 1912 den südlichsten Punkt der Erde erreichte, dort aber erkennen mußte, daß ihm der Norweger Roald Amundsen zuvorgekommen war. Nur vier Wochen vorher, am 15. Dezember 1911, war Amundsen mit vier Landsleuten auf einem anderen Weg als erster Mensch am Südpol angelangt und hatte seinem britischen Konkurrenten ein Zelt mit der norwegischen Fahne darauf, kollegiale Grüße und beste Wünsche für sichere Heimkehr zurückgelassen.
»Der Pol ... Großer Gott? Dies ist ein schauriger Platz. Schrecklich genug, daß wir uns bis hierher gequält haben ohne den Lohn, die Ersten zu sein«, schreibt Scott über die windgepeitschte Eiswüste, auf der sich der imaginäre südliche Endpunkt der Erdachse befindet, dem der bizarre Wettlauf galt. »Das wird einen zermürbenden Rückmarsch geben.«
Scott und seine Männer hatten keine Schlittenhunde wie Amundsen. Sie zogen ihren Schlitten mit Proviant, Zelt und Kochausrüstung selbst, zogen ihn Schritt für Schritt mit eigener Kraft, die zu versagen begann. Nacheinander verlor Scott zwei seiner Begleiter durch
* Oben: Scott, Dr. Wilson, Oates; sitzend: Bowers, Evans (Aufnahme mit Selbstauslöser). Links: Amundsen-Gefährte Wisting mit Hundeschlitten.
Erschöpfung und Freitod. Er und die beiden übrigen bewältigten unter furchtbaren Foltern noch mehr als 1100 Kilometer des fast 1500 Kilometer langen Rückwegs zur Basis am Rossmeer, ehe sie Ende März 1912 in ihrem Zelt liegenblieben und aufgaben.
Sie starben nur zehn Seemeilen (18,5 Kilometer) entfernt vom »One-Ton-Depot«, dem umfangreichsten Proviantlager auf ihrer Route.
Der Wettlauf zum Südpol, das war die letzte auf dieser Erde mögliche Entdeckungsfahrt und zugleich die erste, die wie die Eis-Expeditionen gen Norden in keine wundersame neue Welt mehr führte, sondern in ein lebloses, frostklirrendes Nichts. Die erste auch, die den erobernden weißen Mann nicht mehr exotischen Völkern konfrontierte, sondern ihn sich selbst, seinen Ambitionen, dem eigenen Charakter, der Frage nach dem Sinn seiner Unternehmungen auslieferte.
Die doppelte Südpolfahrt war das letzte originale Abenteuer auf dem Weg des Menschen, die Erde zu erforschen und sie sich zu unterwerfen. Sie war zugleich das erste einer neuen Art von Abenteuer, das zum Selbstzweck wird, zum theatralischen Effekt und zu einer Schau, die den Hunger der großstädtischen Massen und ihrer Massenmedien nach neuen Helden und zeitgemäßen Heldensagen stillen soll.
* In der McMurdo-Bucht.
Den Untergang des Captain Scott und seiner Männer feiert Sir John Hackett noch heute im »Observer« als moderne »griechische Tragödie« -- ganz im Sinne der Legende, die schon Robert Falcon selbst zu weben begann, als er in dem sturmumtosten Zelt mit steifgefrorenen Fingern seine Abschiedsbotschaft formulierte: »Unser Schiffbruch ist mit Bestimmtheit diesem plötzlichen Schlechtwettereinbruch zuzuschreiben ... Ich glaube nicht, daß Menschen jemals einen solchen Monat durchgemacht haben wie den, der hinter uns liegt ... Ich bereue diese Reise nicht, die gezeigt hat, daß Engländer noch immer mit ebenso großer Seelenstärke wie je in der Vergangenheit Härten ertragen, einander beistehen und den Tod auf sich nehmen können.
Nicht nur für Engländer und nicht nur in englischen Schulbüchern wurde Captain Scott zu einer exemplarischen Gestalt, zu einem Märtyrer des Forscherdrangs, zu einem stillen und unkriegerischen Heros des 20. Jahrhunderts, der gegen ein widriges Geschick bis zum letzten Atemzug ankämpft und über sein bitteres Ende triumphiert durch die noble Gelassenheit, mit der er es duldete. Es entsprach durchaus der Hochachtung, die dem britischen Mariner in der westlichen Welt und sogar in der Sowjet-Union gezollt wurde, daß Stefan Zweig 1927 den »Kampf um den Südpol« gleichrangig mit den Reisen des Kolumbus zu einer »Sternstunde der Menschheit« erhob.
Unfug -- sagt Roland Huntford dazu, ein Engländer und Korrespondent des »Observer": Unfug und Humbug. Scott sei kein tragischer Held, sondern ein »heroischer Stümper« gewesen, sein widriges Geschick kein höheres Verhängnis, sondern ein durch »typisch britische Schlamperei« und persönliche Unfähigkeit selbst verschuldete Misere, keine griechische, eher eine Slapstick-Tragödie.
Der Captain, behauptet Huntford, verkörpere durchaus nicht nur die Tugenden, die Britannien einst groß gemacht haben und dem Inselvolk in schlimmen Stunden halfen, die Ohren steifzuhalten. Scott stehe vielmehr für eben die Sorte von arrogantem Dilettantismus und naßforscher Wurstelei, die Scotts eigene Expedition scheitern ließ und mit der Zeit das ganze Vereinigte Königreich in immer ärgere Unannehmlichkeiten gebracht habe.
Auf 580 Seiten (plus 85 Seiten Anmerkungen und Quellenangaben) untersucht Roland Huntford die berühmteste Abenteuergeschichte des Jahrhunderts in einem Buch mit dem schmucklosen Titel »Scott & Amundsen«. Es ist vor kurzem in London erschienen und hat viel böses Blut gemacht bei all den Briten, die verflossener Glorie nachtrauern und sich diesen nahezu letzten undemolierten Mythos nicht auch noch rauben lassen wollen.
Als eine »bösartige Attacke auf Scott«, die passagenweise in »einen Erguß purer Galle« ausarte, verurteilte General Sir John Hackett das Werk Huntfords. Und Lord Kennet, ein Sohn aus der zweiten Ehe von Captain Scotts Witwe, verteidigt seine Mutter nicht sehr überzeugend gegen die peinlichste Enthüllung Huntfords: daß Kathleen Scott, die nach dem Tod des Captains geadelt wurde, ihrem Mann während seiner fatalen Polfahrt untreu gewesen sei.
Die Tage vom 15. bis 23. Januar 1912 (also genau die Zeit, in der Scott den Südpol erreichte, seine Niederlage gegen Amundsen entdeckte und sich auf den »zermürbenden« Rückweg machte) habe Kathleen Scott in einem Berliner Hotel mit einem Liebhaber verbracht. Mit wem? Mit keinem anderen als Fridtjof Nansen, dem Bahnbrecher der Polarforschung, dem großen Sohn Norwegens, dem Landsmann und Gönner Amundsens. Mit Nansen, bei dem auch Scott sich, begleitet von seiner lebhaften Frau, vor seiner Expedition Rat geholt hatte.
Scott wußte mit Nansens Rat wenig anzufangen. Scotts Frau aber knüpfte zu dem ruhmbedeckten und verwitweten Wikinger-Nachfahren eine Beziehung, die sie selbst in einem Brief als »göttliche Freundschaft« bezeichnete: nur eine von vielen verschwiegenen Einzelheiten, die Roland Huntford zutage gefördert hat bei seinem Versuch, das Unternehmen Südpol in allen seinen persönlichen und zeitgeschichtlichen Zusammenhängen aufzurollen.
Huntford verfolgt den Wettlauf zwischen Scott und Amundsen zurück bis in die Herkunft und Entwicklung der beiden, bis in die Wurzeln ihrer Individualität und verleiht seiner Parallelbiographie der Rivalen damit die Tiefe und Bewegtheit einer großen Erzählung. Sie gibt profunde Auskunft über ein Phänomen, das am Anfang des Jahrhunderts »Wagemut«, »Tatendrang« und »Opferbereitschaft« hieß und in England wie in Deutschland verheerend mißverstanden worden ist.
Sie bringt Licht in das Seelenleben zweier Abenteurer, die für ihre Zeit und weit darüber hinaus den Begriff »Männlichkeit« schlechthin symbolisierten und sich gleichwohl so gründlich voneinander unterschieden wie Art und Ausgang ihrer Polreisen.
Robert Falcon Scott und Roald Engebreth Amundsen unterschieden sich sogar in dem, was ihnen gemeinsam war -- zum Beispiel in ihrer Unfähigkeit, mit Frauen zurechtzukommen. Der Kapitänssohn Amundsen lebte auf kühler Distanz zu seiner Mutter, die einen Akademiker aus ihm machen wollte. Die Liebe seines Lebens war sein Kindermädchen Betty« das noch mit ihm in einer Wohnung lebte und ihn betreute, als er schon studierte.
Noch als 26jähriger auf seiner ersten Antarktis-Reise schrieb er in sein Tagebuch: »Ich hoffe so sehr, daß Betty glücklich und zufrieden ist ... Ich sehe sie in meinen Gedanken, wundervoll drall, wie sie Kaffee einschenkt ...«
Laut Huntford hatte der Hüne aus dem Oslofjord »seine ersten von ihm erwähnten sexuellen Abenteuer« überhaupt erst mit 35, während einer Vortrags-Tournee in Amerika, im Hause einer Dame namens Carrey in Chicago, die ihn mit einer »kleinen Französin« zusammenbrachte, Amundsen nannte sie in einem Brief an seinen Freund Gade »hübsch und sauber«. Doch schon die Schiffskameraden der ersten Expedition, an der er teilnahm« hatten erkannt, daß er sich im äußersten »damenlosen Süden« entschieden wohler fühlte als in der Zivilisation und der damit unweigerlich verbundenen Frauengesellschaft.
Scott dagegen lebte noch als 38jähriger Kapitän zur See der Royal Navy mit seiner Mutter zusammen in einem Haus in London-Chelsea, wann immer er ein Landkommando bekommen konnte. Er verkehrte in den mondänen Kreisen der Hauptstadt., war zu den Lunch-Verabredungen bei Aubrey Beardsleys Schwester Mabel eingeladen und konversierte mit Max Beerbohm, einem Freund Oscar Wildes.
Der Offizier war ein gesuchter Partygast, weil er bei Tee und Törtchen im Salon so faszinierend von den enormen Gefahren und Entbehrungen zu erzählen wußte, die er im ewigen Eis bestanden hatte. Denn kein Mensch war dem Südpol zu dieser Zeit (1906) bereits so nahe gekommen wie Robert F. Scott und seine beiden Gefährten Shackleton und Wilson.
Von dem von Scott kommandierten Forschungsschiff »Discovery« aus waren die drei in dem antarktischen Sommer 1902/03 über den Eisschild des Rossmeeres polwärts zu einer Exkursion losmarschiert, die Huntford als »Generalprobe für das (spätere) Desaster« ansieht.
Scott und seine Begleiter benutzten Polarhunde, Schlitten und Skier. Doch sie hatten es nicht für nötig befunden, die ungewohnte Fortbewegung auf norwegischen Langlaufbrettern vorher bei Fachleuten zu erlernen. Sie stolperten los wie ein Anfängerkurs auf dem Idiotenhügel, fanden keinen Rhythmus und »vergeudeten Kraft bei jedem Schritt«.
Noch weniger verstanden sich die drei Navy-Offiziere auf den Umgang mit den rauhen Huskies vor ihren Schlitten. Sie machten bei der Ernährung, beim Anschirren und beim Treiben der Hunde so viele Fehler, daß das erste von 19 Tieren schon nach kurzer Zeit verendete. Die übrigen waren hungrig genug, den frischen Kadaver ihres Artgenossen zu verschlingen.
Daraufhin beschloß Scott, den größten Teil des ohnehin verdorbenen Hunde-Proviants zurückzulassen und seine Zugtiere hauptsächlich voneinander zu ernähren: Stück für Stück töteten die Männer die jeweils schwächsten Hunde und verfütterten sie an die verbleibenden. Scott hatte dergleichen aber nicht vorausgesehen und vergessen, eine Schußwaffe mitzunehmen. Sein chirurgisch ausgebildeter Begleiter Wilson mußte die vorbestimmten Opfer deshalb mit dem Messer erledigen: »a brutal business«.
Die Huskies taten ihre Arbeit deshalb nicht williger. Nach zwei grimmigen Monaten hatte Scotts Trio nicht mehr als 600 Kilometer zurückgelegt. Bei 82 Grad 17 Minuten südlicher Breite kehrte es um, immer noch 463 Seemeilen (über 800 Kilometer) vom Südpol entfernt.
Schon am Umkehrpunkt schwoll Scott und Shackleton das Zahnfleisch, erstes Symptom der von vitaminloser Ernährung verursachten Seemannskrankheit Skorbut. Auch ihre Gliedmaßen waren geschwollen, und ihre Gelenke schmerzten immer heftiger. Dennoch mußten die Männer ihren letzten verbliebenen Schlitten selber ziehen, als ihre Hunde zur Neige gingen. Ihre Skier warfen sie weg, weil sie zum Schlittenziehen erst recht nicht geeignet schienen. Gleichwohl fand Scott, das Ziehen sei zwar »langsam, monoton und ermüdend, aber ... dem Antreiben von müden und hungrigen Hunden bei weitem vorzuziehen«.
Die drei Engländer hatten Hungerphantasien, weil Scott den Proviant zu knapp kalkuliert und nicht einen Tag Sicherheitsmarge vorgesehen hatte. Sie wurden von schleichender Panik entnervt, als sie ihr Vorratslager für den Rückmarsch in der weißen Ödnis zunächst nicht finden konnten, weil Scott es mit nur einem Fähnchen völlig unzureichend hatte markieren lassen.
Nur »schieres Glück«, meint Roland Huntford, habe diesen ersten Scottschen »Wettlauf mit dem Tod« gerade noch gutgehen lassen. Ein einziger Blizzard hätte schon zu diesem Zeitpunkt das Ende bedeutet, das Scott und Wilson neun Jahre später fanden.
Huntfords Material macht offenkundig, wie Scott an diesem Beinahe-Verhängnis nur eines begriff -- daß eine aufregende Abenteuer-Story darin steckte und eine erbauliche Fabel von britischer Zähigkeit und Chuzpe, die auch den scheußlichsten Zwangslagen trotzte. Scott schrieb diese Fabel mit seinem Expeditionsbericht »Die Reise der Discovery«. Er schien nicht die geringste Mühe zu haben, zu ignorieren oder zu verschweigen, daß er alle die scheußlichen Zwangslagen, die er mit seinen Gefährten bestand, durch seine Inkompetenz und seinen Leichtsinn selbst heraufbeschworen hatte.
Nach dem unappetitlichen Krieg gegen die Buren litt Britannien an Dekadenzängsten und imperialen Selbstzweifeln. Es verlangte nach neuen Taten, die unbefleckt waren von dem in Südafrika aus dubiosem Anlaß vergossenen Menschenblut. Polar-Expeditionen erfüllten diesen Bedarf, und eben von diesem theatralischen und propagandistischen Aspekt der Sache, von der Resonanz beim heimatlichen Publikum, wurde Scotts Ehrgeiz immer stärker beherrscht.
Eine künstlerisch angehauchte Liebhaberin von Richard Wagners Heroenkult, Kathleen Bruce, lernte in Mabel Beardsleys Salon den Captain Robert F. Scott kennen und sah in ihm, leicht enttäuscht, einen »mittelgroßen Mann mit schütter werdendem Haar«, wenngleich »mit breiten Schultern und schmalen Hüften«. Sie war auf der Suche nach einem heroisch veranlagten Mann, mit dem sie einen wirklichen Helden zu zeugen gedachte.
Sie fand Scott akzeptabel und beschloß, ihn zwecks Ehe seiner Mutter in Chelsea wegzunehmen. Doch noch brennender als an Scott selbst schien sie an dem neuen Antarktis-Unternehmen interessiert, das ihr Bräutigam zum Zeitpunkt der Eheschließung (1908) bereits vorbereitete. »Du mußt zum Südpol gelangen«, mahnte sie ihn in einem Brief nur halb im Spaß. »Oh dear, welchen Sinn hat es, Energie und Tatkraft zu besitzen, wenn eine solche Kleinigkeit nicht zu schaffen ist. Sie muß zu schaffen sein ...«
Am Südpol führte für Kathleen wie für Robert Scott kein Weg mehr vorbei, erst recht nicht, seit Scotts »Discovery«-Partner Ernest Shackleton Anfang 1909 bis auf nur 97 Seemeilen an diesen Südpol herangekommen war und seinen ehemaligen Boß vor einer jubelnden britischen Öffentlichkeit in den Schatten gestellt hatte.
Shackletons lange Reise über das antarktische Festlandeis widerlegte »das müßige Geschwätz von der Dekadenz unserer Rasse«, frohlockte der »Daily Telegraph«. Die Zeitschrift »Sphere«, beunruhigt von der Expansion des Deutschen Kaiserreichs, fand chauvinistischen Trost: Solange Engländer solche Leistungen vollbrächten, meinte das Blatt, »brauchen wir nicht die ganze Nacht wachzuliegen aus Furcht vor dem feindseligen Vordringen der Dachshund-Boys«.
Von solch kränklichem Prestigekult war Roald Amundsen unberührt. Als Norweger gehörte er dem kleinsten Volk Europas an (knapp zwei Millionen Seelen zur Jahrhundertwende), einem Volk, das selbst gerade erst seine nationale Unabhängigkeit (von Schweden) gewonnen hatte, einem Volk, das aus eigensinnigen Familienklans bestand und doch in der Stunde seines Erwachens zwei Giganten des späten 19. Jahrhunderts hervorbrachte -- den Dramatiker Henrik Ibsen und den Polarforscher Fridtjof Nansen. Und beide hatten erstaunliche Nachfolger: nach Ibsen kam Knut Hamsun, nach Nansen Roald Amundsen.
Brand, der provokante Außenseiter, um den sich ein frühes Ibsen-Stück dreht, war Nansens Vorbild. Nansen, der Goethe lesende Tatmensch, war Amundsens Vorbild. Der »Nansen-Geist«, individuelle Unternehmungslust und persönliche Bewährung, hatte nichts gemein mit der Militärmentalität, die aus den Expeditionen der Royal Navy simulierte Kriegszüge machte.
Vor allem aber verstanden sich die Norweger aufs polare Metier, seit Erik der Rote Grönland entdeckte. Auf Robben- und Walfang durchstreiften Eriks Nachfahren das arktische Meer und lernten von Eskimos und Lappen, wie man sich kleidet und nährt, um in der Eiszone zu überleben.
Zudem entwickelten Nansen und seine Gefährten den Skilauf zum sportlichsten und effizientesten Ortswechsel-Verfahren, das einem Menschen auf seinen zwei Beinen zu Gebote steht. Nur auf Skiern konnte Nansens Überquerung des Grönland-Eises (1888) gelingen. Und nur selbstentworfene Hundeschlitten kamen in Frage, gezogen von Huskies, die sich für die Norweger bis zur Selbstaufopferung durch Eisbrüche und Schneewehen wühlten.
Denn die Norweger wußten, was Scott nie begriff. Sie wußten, daß Hunde, auch wenn sie ziehen, keine Zugtiere, keine Ochsen und Maulesel sind und nur dann willig folgen, wenn ein Mensch ihnen quasi als Leittier vorauseilt. Sie wußten, daß Hunde am liebsten in wilden Sprints loshecheln, mit häufigen Pausen dazwischen, und nicht in dem gleichförmig-disziplinierten Trott, den Scott seinen Tieren stets aufzwang.
Scotts Hunde wurden immer nur von hinten mit Peitsche und Gebrüll angetrieben. Amundsen dagegen holte sich Olaf Bjaaland, den besten Skilangläufer Norwegens, der vor der Meute herlief und die Tiere derart zu kläffender Verfolgung anspornte, daß er oft Mühe hatte, den aufgesperrten Mäulern zu entrinnen. Resultat: ein Durchschnittstempo der Norweger von bis zu zehn Kilometern pro Stunde.
Roald Amundsen hatte sich von seinem Mentor Nansen dessen altes Schiff ausgeliehen, die »Fram« (Vorwärts). Er hielt seine Mannschaft so klein wie irgend möglich und heuerte insgesamt nur 18 handverlesene Leute an Captain Scotts Aufgebot zählte 65 köpfe. Um seine Expedition als privates Unternehmen, auf Pump, zu finanzieren, verpfändete der lange Norweger seinen gesamten Besitz und experimentierte erstmals mit einem kommerziellen Sponsor, der Fleischkonserven-Fabrik Armour in Chicago. Sie durfte behaupten, Amundsens Truppe habe sich aus Armours Büchsenfleisch den Mumm für ihren Trip geholt.
Amundsen hoffte vergebens, daß er nach einem Erfolg genug Einnahmen haben würde, um seine Schulden abzuzahlen -- nach einem Erfolg, den er sich zunächst am Nordpol holen wollte. Doch als der Amerikaner Robert Peary im September 1909 meldete, daß er diesen Pol erreicht habe, war das kein Weg zum Ruhm mehr. Roald Amundsen notierte: »Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu versuchen, die letzte große Frage zu lösen -- den Südpol.«
Der Wettlauf mit dem Engländer begann. Am 2. Januar 1911 landete Scotts Schiff »Terra Nova« in der McMurdo-Bucht am westlichen Ende des Eisschilds über dem Rossmeer. Zehn Tage später landete die »Fram« mehr als 800 Kilometer entfernt am östlichen Ende dieses Eisschilds in der Walfisch-Bucht.
Nach dem Überwintern in antarktischer Nacht mußte der ungeduldige Amundsen seinen Aufbruch wegen miserablen Wetters bis 20. Oktober immer wieder aufschieben. Captain Scott, der inzwischen beschlossen hatte, die norwegische Konkurrenz, wörtlich, »so zu behandeln, als existiere sie nicht«, setzte seine Karawane zehn Tage später in Marsch. Schon am Tag darauf mußte einer der in der Basis zurückgebliebenen Männer der Expedition hinterherhasten: Scott hatte die für den Pol bestimmte britische Fahne vergessen.
Beide Expeditionen mußten zunächst über den Eisschild des Rossmeeres bis zum Transarktischen Gebirge reisen, das den Rand des Festlands bildet. Sie mußten über Gletscher auf die 2500 bis knapp 3000 Meter hohe Eiskappe des Festlands steigen und auf diesem Plateau weiter zum Pol vordringen. Die Strecke dorthin war für beide gleich weit: 750 Seemeilen oder knapp 1400 Kilometer (siehe Graphik).
Scott brauchte nur der Route zu folgen, die. Ernest Shackleton drei Jahre zuvor bis 100 Meilen vor den Pol erkundet hatte. (Er war umgekehrt, als ihm klar war, daß er den Rückweg sonst nicht schaffen würde. Seiner Frau schrieb er, er nehme an, daß ihr »ein lebendiger Esel lieber ist als ein toter Löwe«.) Scott wußte, daß der kritische Aufstieg auf das Inlandeis über den fast 200 Kilometer langen und entsprechend flach ansteigenden Beardmore-Gletscher führen würde.
Amundsen dagegen hatte keine Ahnung, welche Hindernisse im Transarktischen Gebirge auf ihn warteten -- er mußte nur annehmen, daß dieses Gebirge auch auf seiner Seite des Rossmeeres vorhanden sei. Tatsächlich erhob es sich vor den Norwegern in »alpiner Steilheit«.
Der Gletscher, über den sich Amundsen mit seinen vier Gefährten, vier Schlitten und 40 Hunden aufwärtskämpfen mußte, war so steil, daß er sich in Abständen zu Eisfällen auftürmte. Immer wieder verschwanden Hunde in Spalten. Sie blieben freilich meist in ihrem Geschirr hängen und wurden von den Männern lebend ans Licht gezogen.
So beeindruckt war der Amundsen-Begleiter Helmer Hanssen von den Mühen der Tiere, daß er seinem Tagebuch den frommen Wunsch anvertraute, er möge »in einem künftigen Leben nicht als Schlittenhund wiedergeboren werden«. Scotts Expedition wäre jedenfalls an dem (nach Amundsens Förderer Axel Heilberg benannten) Gletscher gescheitert -- zumal Scotts Leute schon auf dem Beardmore-Gletscher gezwungen waren, ihre Schlitten selber zu ziehen.
Trotz ihrer Härten aber wirkt Amundsens Reise fast mühelos. Auf dem Ross-Schild und der ebenso monotonen Riesenfläche des Inlandeises bewältigten die Norweger ihre auf 15 Seemeilen berechneten Tagesetappen oft in weniger als fünf Stunden. Sie steuerten nach dem Kompaß, der auf dem vordersten ohne Eisenteile gebauten Schlitten montiert war. Die zurückgelegte Distanz maßen sie mit einem Speichenrad, das hinter dem letzten Schlitten herrollte und einen Meilenzähler antrieb.
Ein Problem war, den vorauseilenden Skiläufer (Bjaaland oder Amundsen) vom Kompaßschlitten aus per Zuruf auf Kurs zu halten. Es sei schwierig, notierte Amundsen, »ins Nichts zu starren« und dabei eine gerade Linie einzuhalten: »Ein Eskimo kann das, aber keiner von uns.« Gleichwohl kamen sie meist forsch voran, wie es eine typische Tagebuch-Notiz Bjaalands andeutet: »Abfahrt um neun. Die Hunde rasen los wie wahnsinnig ...«
Als sie zwei Tagesreisen vor dem Pol ihr Camp aufschlugen, hatten die Norweger einen Moment der Panik. Sie waren überzeugt, in der weißen Wüste einen dunklen Gegenstand zu sehen, den Sverre Hassel entdeckt hatte: »Kann das Scott sein?«
Olaf Bjaaland spurtete darauf zu, brauchte aber nicht weit zu laufen. In ihrer Wettkampf-Spannung und in dem grell-diffusen Licht hatten die Norweger ein entferntes Zelt halluziniert, das sich als nahegelegener Hundehaufen entpuppte.
Denn Robert Falcon Scott war schon geschlagen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt (13. Dezember 1911) bereits einen Monat Rückstand auf die Norweger und befand sich noch auf dem Beardmore-Gletscher, noch 600 Kilometer vom Pol entfernt. Er hatte bis dahin bereits jeden nur denkbaren Fehler gemacht und handelte weiterhin so »konsequent und inkompetent«, daß dem Chronisten Huntfort der Verdacht kommt, Scott sei von einer Art »Todeswunsch« beseelt gewesen.
Tödlich war allein schon, wie er das Transportproblem behandelte. Zwar nahm er 32 Schlittenhunde mit in die Antarktis. Aber bei seiner »Discovery«-Reise hatte er eine so heftige Aversion gegen die Huskies entwickelt, daß er sich auf sie nicht verlassen wollte. So setzte Scott, von einem technisch versierten Bekannten dazu angeregt, bei der Vorbereitung der Expedition zunächst auf neumodische »Maschinen Unter beträchtlichen Kosten ließ er drei »Motorschlitten« bauen -- frühe Raupenfahrzeuge mit ähnlichen Konstruktionsmerkmalen wie die »Schneekatzen«, mit denen der Engländer Vivian Fuchs 47 Jahre später die Antarktis durchquerte.
Trotz pannenreicher Testläufe nahm Scott die drei Vehikel mit und versetzte Amundsen in große Unruhe ob dieser Wunderwaffe. Der Norweger konnte nicht ahnen, daß ein Motorschlitten schon beim Ausladen in der McMurdo-Bucht vom Haken rutschte, durch eine
* Oben: Bei der Überfahrt auf der »Terra Nova«. Unten: Kakao, Würfelzucker, Fleischpaste (Pemmikan), Biskuits, Butter, Tee.
Eisscholle krachte und versank. Die beiden anderen mußten nach wenigen Meilen als Totalausfälle aufgegeben werden.
Aber der Captain hatte noch weitere Pferdestärken dabei, und zwar in Gestalt von 19 sibirischen Ponys. Schon Shackleton, von falsch behandelten Hunden enttäuscht, war auf diese Spezies verfallen. Da Shackletons Vorstoß in Polnähe als Riesenerfolg galt, entschloß sich auch Scott, es mit diesen vegetarischen Huftieren zu probieren -- obgleich deren Futter mehr als 2000 Seemeilen weit von Neusee] and herbeigeschafft und in solchen Quantitäten auf den Schlitten mitgeschleppt werden mußte, daß nicht viel Nutzlast übrigblieb.
Ungeachtet ihrer sibirischen Herkunft erwiesen sich die Ponys als völlig ungeeignet für das Killerklima des Eiskontinents -- was Shackleton schon festgestellt, in seinem Bericht aber heruntergespielt hatte. Sie litten jämmerlich in dem Wind, der nur einmal wärmer wurde als 22 Minusgrade Celsius. Scotts Männer mußten an den Lagerplätzen Schutzwälle aus Eis für sie bauen, ihnen den Eispanzer abkratzen, der sich auf ihren Leibern bildete, sie in Decken hüllen.
Vor allem brachen die Pferde bei jedem Schritt durch die Schneekruste und sanken bis zu den Knien, oft bis zum Bauch ein. Sie brauchten zehn Stunden für eine Tagesetappe von 18 Kilometern. Nach vier Wochen Marsch mußten sie das erste Pony erschießen, weil es sich vor Entkräftung nicht mehr rühren konnte -- und so weiter alle paar Tage. »Scott geht dies sehr nahe«, notierte ein Mitreisender.
Das Leiden der Tiere deprimierte die pferdeliebenden Engländer so sehr, daß sie erleichtert waren, als sie auf halbem Weg zum Pol ihre letzten Ponys mit der Pistole erlösen mußten. Der Expeditionsarzt Wilson schrieb in sein Tagebuch: »Gott sei Dank, daß die Pferde nun alle hinüber sind und wir die Schwerarbeit selbst übernehmen.«
Schwachsinn als Sportgeist. Denn was die Norweger am meisten fürchteten und unbedingt vermeiden wollten, war eine Situation, in der sie gezwungen wären, ihre Schlitten selber zu ziehen. Doch genau dies hatte Captain Scott von vornherein einkalkuliert, sogar beabsichtigt.
650 Kilometer vor dem Südpol waren nicht nur seine Ponys hinüber. Jetzt schickte er auch die beiden Hundeteams nebst Treibern zurück, die ihn mit Vorräten für Proviantlager bis zu diesem Punkt begleitet und sich »glänzend bewährt« hatten, wie der junge Offizier Cherry-Garrard festhielt: »Es sieht aus, als habe Amundsen das richtige getroffen.«
Scott wollte das nicht wahrhaben. Mit elf verbliebenen Leuten zog er drei je 400 Kilo schwere Schlitten elf Tage lang den Beardmore-Gletscher hinauf -- meist im Grätenschritt auf Skiern, mit denen die Briten noch immer nicht zurechtkamen. »Die schlimmste Knochenbrecherei, die mir je begegnet ist«, schrieb der junge Bowers. »Ich habe nie so schwer gezogen, oder meine Eingeweide so gegen mein Rückgrat gequetscht dadurch, daß ich mich dauernd mit aller Kraft in das Segeltuch-Geschirr hineinstemmen muß, das meinen unglücklichen Bauch umspannt.«
Vom oberen Ende des Gletschers schickte Scott weitere vier Leute zurück. Acht Mann mit zwei Schlitten keuchten weiter in der dünnen Luft des Eisplateaus. Aber Robert Falcon Scott schien die Strapaze zu genießen.
Er »lieferte dem britischen Publikum die heroische Selbstkasteiung, die es so erbaulich fand«, meint Chronist Huntford. Mit seinen 43 Jahren »besaß Scott großen körperlichen Mut und phänomenale Ausdauer ... Es war, als ob er sich durch physische Kraft Selbstbestätigung verschaffen wollte ... Auf dem Marsch hatte Scott eine irrationale, fast sadistische Lust daran, seine Gefährten zur Erschöpfung zu treiben ...«
Scott forcierte das Tempo und erzwang manische Zweikämpfe mit dem Team des anderen Schlittens -- ein Kommandant der Royal Navy, der sich in der Todeszone aufführt wie ein pubertierender Raufbold auf einem Rugbyfeld. Schlimmer: wie ein Schleifer. Denn am Silvestertag 1911 befahl er dem anderen Team, die Skier abzuschnallen und zurückzulassen. Huntford: »Er hatte offenkundig entschieden, sein eigenes Team mit zum Pol zu nehmen und wollte (das andere Team) kleinkriegen, um es leichter zurückschicken zu können.«
Vier Mann (mit Scott) sollten die letzten 280 Kilometer zum Pol gehen. Doch zwei Tage nach dem unfaßlichen Ski-Befehl, am Umkehrpunkt für die anderen, fiel dem Captain ein, daß er einen zuverlässigeren Navigator brauche als er selbst es war, einen fünften Mann, den jungen Bowers vom zweiten Team, obwohl Zeltformat und Kochkapazität ebenso wie die bereits abgepackten Rationen für nur vier Leute gedacht waren.
Mitten auf dem endlosen Eisplateau entspann sich beim Umpacken ein Kuddelmuddel der Sorte, die schon in jenen Tagen zu einem besonderen Merkmal britischer Genialität geworden war.
Auch hatte Henry Bowers keine Skier mehr. Doch als Scotts Ruf an ihn erging, war der 26jährige Leutnant willens, mehr als 600 Kilometer zu Fuß zu gehen -- bis zum Pol und wieder zurück bis zu der Stelle, an der er die Bretter liegenlassen mußte. Ein grotesk und ergreifend donquijotesches Häuflein schleppte sich unverdrossen tiefer in die Ödnis, vier Mann auf Skiern vor dem Schlitten und einer zwischen ihnen, der die 20 bis 25 Tageskilometer in neun, oft zehn martervollen Stunden mit bloßen Stiefeln abstapfte.
Dabei hatte mindestens einer aus Scotts Team längst begriffen, daß dieser Trip kein gutes Ende nehmen würde. Der Dragoner-Rittmeister Lawrence Oates, der als eine Art Repräsentant der Armee mitgekommen war, registrierte schon vor dem Aufbruch im Basislager in seinem Tagebuch die »kolossale Ignoranz« Scotts in Bezug auf Tiere. Er sah, daß die Transportfrage total verpfuscht war, und schloß: »Wenn Scott den Pol nicht schafft, hat er das mehr als verdient.«
Oates hatte schon auf dem Hinmarsch wunde Füße: »Das harte Eis (auf dem Gletscher) hat ziemlich Kleinholz aus ihnen gemacht«, notierte er. Eine im Burenkrieg erlittene Schenkelwunde begann ihn wieder zu plagen. Doch nach dem gültigen Ehrenkodex war es mannhaft, dergleichen zu verschweigen. So behielt Oates seine Kritik an Scott und seine Leiden für sich und folgte fatalistisch, als der Captain ihn für die Pol-Mannschaft bestimmte. Dann kam die »schreckliche Enttäuschung« (Scott) die Erkenntnis, daß keine Halluzination war, was Bowers als erster entdeckte: eine der drei schwarzen Fähnchen, die Amundsen an Ersatz-Schlittenkufen aufgepflanzt hatte, um den Südpol einzukreisen. Die Norweger konnten den Punkt mit ihren navigatorischen Instrumenten nur auf eine Seemeile genau bestimmen. Es sei »kurios«, fand Amundsen« »die Sonne Tag und Nacht in immer der gleichen flachen Höhe um den Himmel herumwandern zu sehen«.
Auch Scott und Bowers konnten den Pol nicht exakter festnageln. Sie stellten ihren »armen, hintangesetzten Union Jack« (Scott) knapp zwei Seemeilen entfernt von dem Norweger-Zelt mit dem Olaf-Kreuz auf. Aber die Sonne kreiste noch flacher um den Horizont, die Temperatur betrug 30 Grad minus, acht Grad niedriger als für Amundsen. Der antarktische Sommer schwand, und Scott war verzweifelt spät dran.
Trotzdem träumte er noch davon, »to get the news through first« -- also Amundsen auf dem Rückweg noch irgendwie zu überholen und die Nachricht von der Erreichung des Pols als erster durchzugeben. So tief war Scott in seine Macho-Obsessionen verstrickt, daß er bis zum Schluß nicht wirklich begriff, worauf er sich eingelassen hatte.
Er betrachtete die Antarktis vor allem als den Schauplatz seines erhofften Triumphs wie seiner realen Niederlage und hatte über ihre Bedingungen seit seiner »Discovery«-Expedition nichts dazugelernt. Selbst Frost und Sturm empfand er bis zuletzt nicht als Selbstverständlichkeiten jener Weltgegend, auf die man sich einstellen muß. Er empfand sie als persönlichen Affront, den ein übellauniges Geschick ihm zugefügt -- weshalb sich sein tiefgekühlt egozentrisches und selbstmitleidiges Tagebuch freilich auch fesselnder liest als Amundsens nüchterner Bericht.
Scott hatte nicht einmal kapiert, daß der menschliche Körper in der trockenen Eisluft der Polarzone enorm viel Flüssigkeit verliert und ausdörrt, wenn sein Besitzer nicht entsprechend viel Tee oder auch nur geschmolzenen Schnee schluckt. Bei seinen Brennstoff-Berechnungen für die Kocher berücksichtigte der Captain diesen Extra-Redarf in keiner Weise.
Brennstoff war deshalb so knapp, daß er kaum für das Aufwärmen der Pemmican-Fleischrationen und ein paar Tassen Tee reichte. Als hätte er nicht schon genug getan und unterlassen, um den tödlichen Ausgang seiner Expedition sicherzustellen, verurteilte Scott sich und seine Leute auch noch zu langsamem Verdursten.
Zunehmend »stupide und untauglich« benehme sich Edgar Evans, der einzige Unteroffizier im Team, stellte Scott am 5. Februar 1912 fest. Das Sterben hatte begonnen.
Noch volle zehn Tage torkelte Evans weiter in seinem Geschirr vor dem Schlitten, weinte und delirierte nachts in dem zu engen Zelt, brach schließlich »in jämmerlichstem Zustand« (Oates) zusammen. Er war im Koma, als die anderen ihn ins Zelt schleppten, und * Eine der letzten Aufnahmen vor dem Erfrierungstod der Expeditionsteilnehmer; das Photo wurde bei den Leichen in Scotts Zelt gefunden.
starb noch in der folgenden Nacht, zur ehrlichen Erleichterung seiner Gefährten. Scott: »Die Sicherheit der übrigen schien zu verlangen, daß wir (Evans) zurücklassen, doch die Vorsehung nahm ihn im kritischen Augenblick gnädig von uns.«
Dem Dragoner-Rittmeister Oates erfroren inzwischen die Füße. Er humpelte zu und schwieg darüber, bis die abgestorbenen Glieder vom Wundbrand befallen waren und er den Schmerz nicht mehr ertragen konnte. Scott war schockiert vom Anblick der geschwollenen und verfärbten Extremitäten: »Der arme Soldat nahezu hin. Es ist traurig, weil wir nichts für ihn tun können ... Niemand von uns erwartete diese schrecklich tiefen Temperaturen.« Inzwischen, Anfang März, waren die Männer den langen Beardmore-Gletscher wieder hinabgestiegen und hatten, unglaublich genug, den größeren Teil ihres Rückwegs bewältigt. Was sie auf erfrorenen Füßen in Gang hielt, war die Hoffnung, sie könnten nun jeden Augenblick einen Hundeschlittenzug auftauchen sehen, mit dem die zur Basis zurückgekehrten Leute ihnen entgegenkämen. Die Huskies, die Scott verschmäht hatte, sollten ihn nun retten.
Einen entsprechenden Befehl, jedoch nur mündlich, hatte der Captain dem Führer des zuletzt zurückgeschickten Schlittens mitgegeben, einem Namensvetter des toten Unteroffiziers. Den Leutnant Teddy Evans (einem späteren Admiral der Royal Navy) aber hatten Scotts Schleiferei und der Rückmarsch so erschöpft, daß er drei Tagesetappen von der Basis schwer krank und mit starken Skorbut-Symptomen zusammenbrach. Einer seiner beiden Begleiter blieb bei ihm, der andere kam bis zur Basis durch und schlug Alarm.
Der Arzt und Basis-Kommandant Atkinson holte Teddy Evans gerade noch rechtzeitig und erweckte ihn nach einigen Tagen aus seiner komatösen Lähmung. Doch Scotts letzter Befehl war Evans bis dahin schlicht entfallen.
Erinnerlich war nur Scotts ursprüngliche Anordnung an Atkinson, unter keinen Umständen einen Entsatzversuch für ihn und sein Team zu unternehmen -- woraus die Legende entstand, der Captain sei gestorben, weil er seine übrigen Untergebenen nicht auch noch gefährden wollte und »weil er seine Kranken nicht im Stich ließ«, wie Scotts Witwe Kathleen es sah.
Er ließ den Rittmeister Oates nicht im Stich, der qualvoll neben dem Schlitten hertaumelte und ablehnte, sich von den anderen ziehen zu lassen. Doch der Dragoner verstand, daß er zu einer »schrecklichen Behinderung« geworden war, wie Scott notierte.
Am 17. März morgens (es war sein 32. Geburtstag) kroch Lawrence Oates mühselig aus seinem Schlafsack, kroch über die Beine der anderen drei und durch den schlauchartigen Zelteingang hinaus in den Sturm, der Eiskörner auf die verkrustete Leinwand prasseln ließ.
Er wurde nie mehr gesehen. Laut Scott sagte er vor dem Hinauskriechen nur: »Ich geh nur mal raus und brauch eine Weile.«
Scott stellte die Selbstvernichtung des Dragoners als heroischen Akt hin. Er behauptete: »(Oates) war stolz bei dem Gedanken, daß sein Regiment befriedigt sein würde über die Kühnheit, mit der er dem Tod begegnete.« Der Rittmeister, der alles hatte kommen sehen, hatte offenbar andere letzte Empfindungen. Der Abschiedsbrief, den Oates an seine Mutter schrieb, wurde und wird immer noch von der Familie verborgen. Auch Roland Huntford kam nicht an ihn heran.
Vor einem neuen Sturm des nahenden Antarktis-Winters mußten die drei Überlebenden -- Scott, Wilson und Bowers -- am 21. März wiederum in ihrem Zelt Zuflucht suchen. Nun hatte sich Scott den rechten Fuß erfroren und konnte kaum noch gehen. Proviant und Brennstoff waren fast aufgebraucht. Aber die Männer wußten, daß es bis zu dem reichhaltigen »One-Ton-Depot« nicht mehr weit sein konnte.
Was dann geschah, kann auch Huntford nur vermuten: »Wilson und Bowers, in etwas besserer Verfassung (als Scott) machten sich bereit, zum Depot aufzubrechen und Nahrung und Brennstoff zu holen ... Bowers war nicht der Mann, der aufgibt, solange noch der Schatten einer Chance besteht.«
Doch Bowers und Wilson gingen nicht. Warum nicht? Warum blieben sie mit Scott im Zelt, nachdem sie sich wider alle Wahrscheinlichkeit bis unter den 80. Breitengrad zurückgekämpft hatten, 680 Seemeilen vom Pol, 20 Kilometer bis zu dem rettenden Proviantlager?
Bisher hat man angenommen, daß die beiden an der Aussicht verzweifelten, den Sturm auszuhalten und in diesem Sturm das Depot zu finden -- wo sie doch selbst bei klarem Wetter angstvolle Mühe hatten, ihre mit nur einem Fähnchen kümmerlich markierten Lager auszumachen. (Amundsen hatte seine Depots bis zu drei Meilen querab nach jeder Seite mit Wimpeln bezeichnet.) Roland Huntford aber mutmaßt: »Wahrscheinlich hielt Scott Bowers und Wilson zurück.«
Dafür gibt es keinen direkten Beweis. Doch Huntford nennt Indizien, die darauf hindeuten, daß Scott seit dem Ende von Oates nicht nur fürchtete, sondern entschlossen war, nicht lebend in die Zivilisation zurückzukehren. Er habe die Vorstellung nicht ertragen, sich in England für sein Scheitern und für den Tod seiner Männer verantworten zu müssen. Durch den Tod aller dagegen würde sich sein Versagen in einem heroischen Opfergang verwandeln, in einen moralischen Triumph.
Wilson und Bowers wurden überredet, sich mit ihm hinzulegen und auf das Ende zu warten, obwohl andere Männer in gleicher Lage von ihrem Instinkt getrieben wurden, weiterzumachen bis zum letzten Atemzug. Mindestens neun Tage lagen sie in ihren Schlafsäcken, während ihre letzten Nahrungs- und Brennstoffreserven zu Ende gingen und ihr Leben verebbte. Sie schrieben Abschiedsbriefe in dem Glauben, eines Tages gefunden zu werden. Das war wohl auch das Argument, das Scott wahrscheinlich benutzte um Wilson und Bowers dazu zu bringen, sich niederzulegen und im Zelt zu warten. Wenn sie draußen umgekommen wären, wären sie und ihre Aufzeichnungen verloren gewesen. Im Zelt bestand die Chance, daß man sie findet und ihre Geschichte so vor dem Vergessen bewahrt würde.
Eine Vermutung nur, aber eine zwingende. Sie wird beglaubigt durch die unerhörte Konzentration und Zähigkeit, mit der Scott in diesen letzten Tagen testamentarische Briefe und Rechtfertigungsbotschaften verfaßt hat. An den Theaterschriftsteller Sir James Barrie ("Peter Pan"):
Wir zeigen, daß Engländer noch immer mit kühnem Geist zu sterben verstehen ... Ich glaube, dies wird künftigen Engländern ein Beispiel geben ...
An die britische Öffentlichkeit:
Die Ursachen des Desasters sind nicht auf fehlerhafte Organisation zurückzuführen, sondern darauf, daß wir bei allen Risiken, die wir eingehen mußten, vom Unglück verfolgt waren
An Sir Edgar Speyer:
Wir werden sterben wie Gentlemen
Ich glaube, dies wird zeigen, daß die Tapferkeit und der Durchhaltewille unserer Rasse nicht entschwunden sind.
Beim Herannahen des Todes steigerte sich Scott wie ein Märtyrer in einen Zustand der Verzückung. In seinem Schlafsack bereitete er seinen legendären Nachruhm vor -- und schien ihn schon im voraus auszukosten.
Kathleen Scott hatte ihren Wagner-Helden nebst dazugehörigem Untergang. Und Britannien hatte eine aktuelle Symbolgestalt für den hirnamputierten Heroismus und den halb religiösen, halb patriotischen Kult sinnloser Selbstaufopferung, der auf der Insel ebenso um sich griff wie im deutschen Kaiserreich. Er machte die sinnlosen Blutbäder des Ersten Weltkriegs möglich: Langemarck, Verdun und den 1. Juli 1916 an der Somme, als britische Freiwillige dichtgedrängt und ohne Deckung, ganz »im Geiste Scotts« (wie ein Berichterstatter nicht zu erwähnen vergaß) in das deutsche Maschinengewehrfeuer hineinmarschierten.
Robert Falcon Scott, meint Huntford, sei »ein passender Held für eine niedergehende Nation« gewesen. Obwohl Britannien nach außen hin auf dem Höhepunkt seiner Weltmacht stand, hätten die Engländer auch da schon deutlich genug geahnt, daß ihre ökonomische und politisch-militärische Potenz nicht ausreicht, ihr Empire noch viel länger aufrechtzuerhalten. Deshalb hätten sie eine Schwäche für »glorreiches Scheitern« entdeckt.
Und die Deutschen? Warum die Untergangslust bei ihnen? Vielleicht, weil sie genauso deutlich spürten, daß sie noch weniger Chancen hatten, ein Weltreich zu gewinnen, als die Engländer, das ihre zu verteidigen.
Sicher ist, daß Captain Scott, Royal Navy, durch seinen Tod und seine Legende an Roald Amundsen, dem Sieger, subtil Revanche nahm. Der Schatten, den der Untergang der Briten auf Amundsens Erfolg warf, wollte nicht
* 1913 bei einem Vortrag in der Sorbonne.
mehr von ihm weichen. Auch hatte der Norweger, den sie den »letzten Wikinger« nannten, eigene Dämonen, die ihn zu einem umgetriebenen Peer Gynt, zu einer zerrissenen Hamsun-Figur machten -- zerrissen zwischen Menschen -, genauer: Frauenscheu und seiner von ihm selbst so genannten »schrecklichen Einsamkeit«.
Er steigerte sich in den Wahn hinein, ganz Britannien habe sich verschworen, seine Leistung zu verkleinern, ja zu schmähen. Er glaubte dem Gerücht, Lord Curzon von der Royal Geographical Society habe einen Toast ("Three cheers for the dogs!") auf Amundsens Schlittenhunde ausgebracht, machte deswegen öffentlich Eklat, kündigte seine Ehrenmitgliedschaft bei der Society. Andererseits grübelte er noch nach 15 Jahren über der Frage, ob er Scott nicht eine oder zwei Kannen Paraffin-Brennstoff aus seinem großen Vorrat am Pol hätte zurücklassen sollen. Vielleicht wäre das die Rettung gewesen.
Als der italienische Admiral Nobile 1928 mit seinem Luftschiff in der Arktis abstürzte, beteiligte sich der 56jährige Amundsen an der Suchaktion. Mit einem von Frankreich zur Verfügung gestellten Flugboot startete er bei schlechtem Wetter von Tromsö aus nach Norden und blieb verschollen.
Huntford: »Amundsen hatte sein Leben fortgeworfen ... Sein Ende war der alten nordischen Seekönige würdig, die sich selbst den Tod gaben, wenn sie wußten, daß ihre Zeit gekommen war ...
Doch hier gerät der Legendenkiller Huntford selbst in Gefahr, eine neue Saga zu weben.