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FERNSEHEN / DORST / ZADEK Wirklich Schweinchens

aus DER SPIEGEL 22/1970

Piggies, das heißt auf deutsch Schweinchens. Für den Münchener Stückeschreiber Tankred Dorst, 44, sind Piggies aber auch »jene etablierten Leute so um 40, die in einer Art Erstarrung leben«.

Schon lange hat Dorst diese »Kaste mit ihrer ganzen Heuchelei« beobachtet, ihre snobistische Einf alt, ihre langweiligen Dialoge und platten Witzeleien aufgeschrieben. Seine Notizen weitete er letztes Jahr zum Drehbucb aus und ließ es vorn Regisseur Peter Zadek, 44, kinogerecht arrangieren.

»Piggies« wird an diesem Montagabend gleichzeitig im ersten WDR-Programm (22.00 Uhr) und im Münchener Film-Casino uraufgeführt. Weil es »zu schade ist, daß selbst die besten Fernsehsachen höchstens zweimal gezeigt werden und dann in den Archiven verschwinden«, kollaborierte WDR-Fernsehspiel-Chef Günter Rohrbach mit dem Kommerzkino:

Für »Piggies« zahlte der Kölner Sender 560 000 Mark, die Münchener Filmgesellschaft »Iduna« schoß 400 000 Mark zu und geht mit dem Stück in die Lichtspielhäuser. Beide, die Kölner und Münchener Produzenten, spekulieren mit dem Renommee des Autorenpaares Dorst/Zadek.

Denn schon in dem Fernsehdrama »Rotmord«, einer revuehaften Polit-Dokumentation über die Münchener Revolution von 1919, haben sie Spielszenen, Dokumentarphotos, Zwischentitel, Interviews und Songs mittels elektronischer Tricks zu einer Folge oszillierender Bilder montiert. In »Piggies« greift Zadek wieder zur milden Sorte, zum bunten, üppigen Kinofilm. Da arrangiert er routiniert ein paar richtig schöne Stunden. Zu einem Chopin-Prélude, das der französische Schlager-Konfektionist Serge Gainsbourg für sanfte Streicher arrangiert hat, liebt, lottert und langweilt sich die deutsche Schickeria durch ein brillant gefilmtes Schöner-Wohnen-Milieu.

Zadek mietete eine Berliner Industriellenvilla mit Swimming-pool und englischem Rasen. Er holte den Transvestiten Marcel André aus dem Berliner »Chez nous« in ein mit schimmerndem Stanniol ausgeschlagenes Amüsierlokal, läßt Tankred Dorst als Schriftsteller Lotz unter Tankred Dorsts Schleiflack-Regalen meditieren, bringt einen bayrischen Antiquitätenladen, das blaustichige Mittenwald, den abendlichen Starnberger See und die Blumenstände am Münchener Hauptbahnhof malerisch ins Bild.

Damit er seinen ebenso undramatischen wie unkritischen Bilderbogen mit einigen exotischen Panoramen anreichern konnte, jettete Zadek mit seiner Crew letzten Oktober in die tunesische Oase Gafsa, wo neue Paare kopulierten.

Weil das, »was typisch ist für die Leute, die sie mit dem Film meinen, von Schauspielern schwer zu bringen ist« (Dorst), durften auch branchenkundige Laien mitmachen: Der »Theater heute«-Redakteur Henning Rischbieter spielt einen Verleger und führt in seinem Buchladen Besuchern »Böll-Haufen«, die kleine »Graß-Säule« und den »Musil-Berg« vor. Der Poet Erich Fried interpretiert als Zahnarzt seiner Frau beim Plombieren das Wort Romantik: »Das ist die rhythmische Reibung zwischen Glied und Scheidenschleimhaut.«

Also sind Piggies wirklich Schweinchens.

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