Wissenschaft ohne Wirklichkeit?
Vor rund 2600 Jahren sagte der griechische Weise Thales von Milet, einer der ersten Philosophen und Mathematiker Europas: »Schön ist der Kosmos, denn er ist ein Werk der Gottheit.« Vor noch nicht zwei Jahren schrieb der Amerikaner Steven Weinberg, einer der bedeutendsten Nuklearphysiker der Gegenwart: »Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch.«
Dieser Satz ist paradox, denn er bejaht eine Erkenntnis, die ins Absurde führt. Dieser Satz ist pessimistisch, denn der Kosmos ist nicht mehr das Werk der Gottheit, sondern des Zufalls. Dieser Satz ist aufregend, denn er sagt, was der Fall ist: zumindest für die Welt der modernen Physik.
Das soll heißen: Dieser Satz spiegelt den widersprüchlichen, den gebrochenen Weltbezug einer Wissenschaft wider, die seit Planck und Einstein, seit Rohr und Heisenberg beides zugleich ist: die Pionierin moderner Naturerkenntnis, aber auch das Schlachtfeld einer Grundlagenkrise, die den gloriosen Vormarsch der klassischen Physik (von Galilei und Newton bis zum Ende des 19. Jahrhunderts) in einen subtilen Rückzug vor der Realität verwandelt zu haben scheint.
Scheinbar dem widersprechend reden die Astrophysiker nun wieder von einem »Standardmodell« der Welt. Es bezieht sich auf eines der umstrittensten Themen in der Geschichte von Philosophie und Naturwissenschaft: auf die Lehre vom Weltall (Kosmologie) und von dessen Entstehung (Kosmogonie).
In den vergangenen Jahren hat die Mehrheit der Naturforscher dieses Modell akzeptiert. Das geschah aufgrund einer kosmologischen Revolution, die seit 1965 der Überprüfbarkeit der sogenannten Urknall-Hypothese über Entstehung und Geschichte des Universums neue Grundlagen gab.
Die kosmologische Revolution führt Professor Weinberg, 44, der an der Harvard-Universität Elementarteilchenphysik lehrt, geradezu exemplarisch vor Augen, indem er sie faszinierend leichthändig, pädagogisch brillant und philosophisch fragwürdig beschreibt. Sein schnell berühmt gewordenes Buch liegt ein Jahr nach Erscheinen schon auf deutsch vor.
Die Urknall-Theorie führt die Entstehung des Weltalls auf eine in ihrem »Anfang« physikalisch bislang noch nicht erklärbare Urexplosion zurück. Sie lehrt zudem -- entgegen sogar noch der Meinung Einsteins -- die Expansion des Universums: Seit dem Urknall befindet sich das Weltall in ständiger Bewegung, es wird durch Ausdehnung immer größer.
Die neue Überprüfbarkeit dieser Hypothese ergibt sich aus einer wichtigen Neuentdeckung. In den Jahren 1964/65 spürten die amerikanischen Radioastronomen Arno A. Penzias und Robert W. Wilson die kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung auf. Sie ist nachweisbar das älteste astronomische Signal aus dem Weltall und stammt aus dessen Frühzeit vor rund zehn bis 20 Milliarden Jahren.
Laut Weinberg ermöglicht diese Strahlung, zum erstenmal einen (sehr groben) Schätzwert der statistischen Häufigkeit von Lichtquanten und Kernteilchen im frühen Universum abzuleiten. Danach entfiel je ein Kernteilchen auf rund eine Milliarde Lichtquanten.
Aus dieser Verhältniszahl von einer Milliarde Lichtteilchen auf ein Kernteilchen ergibt sich für die Frühzeit des Weltalls:
Eine kosmische Strahlung von ungeheurer Energiedichte und Temperatur hielt sozusagen eine geringe Anzahl von Kernteilchen in Schach. Sie entstanden in einer noch ungeschiedenen kosmischen Ursuppe von Strahlung und Materie ständig aus »purer Energie« -- was immer das sein mag -- und wurden sehr schnell wieder zersprengt, ohne jemals schon leichte oder gar schwerere Atome bilden zu können.
Die unvorstellbar hohe Temperatur der kosmischen Strahlung nahm jedoch umgekehrt proportional zur immer weiter zunehmenden Größe und Ausdehnung des Universums rapide ab.
Da nämlich die Energiedichte des expandierenden Universums vor allem von dessen Temperatur abhängt, läßt sich die kosmische Temperatur auch als Maß der Zeit, als eine Art Uhr verwenden, die laut Weinberg »bei der Expansion des Universums kühler wird, anstatt zu ticken«. Aus dem mathematisch festgestellten Verhältnis von Energie und Temperatur, heißt das, wird daher ebenso die Zeitdauer errechenbar, in der sich das Weltall von einer (bestimmten) Temperatur auf die andere abkühlt.
Hieraus -- und aus anderen Annahmen -- ergibt sich etwas noch nie Dagewesenes: eine Art Fahrplan des Weltalls, der über dessen Beschaffenheit in den ersten dreidreiviertel Minuten Phase für Phase am Maßstab der sich ungeheuer schnell vermindernden Temperatur -- von 100 Milliarden Grad nach einer Hundertstelsekunde bis auf etwas weniger als eine Milliarde nach 225 Sekunden -- Auskunft gibt. Der Anfang, die erste Hundertstelsekunde, bleibt dabei außer Betracht.
Erst nach 700 000 Jahren ist jedoch die Temperatur so weit abgesunken, daß es zur Bildung stabiler Atome aus Elektronen und Kernen kommen kann. Erst von dieser Zeitenschwelle an beginnt die Vorherrschaft der Materie über die Strahlung.
»Und so«, schreibt Weinberg, »konnten aus den beigemengten Kernteilchen und Elektronen die Sterne, Gesteine und Lebewesen des heutigen Universums entstehen.« Nach rund zehn Milliarden Jahren, meint er weiter, würden dann Lebewesen damit beginnen, »diesen Ablauf zu rekonstruieren«.
An der philosophischen Deutung dieses mathematisch-kosmologisch rekonstruierten Ablaufs hapert es freilich. Auch Weinberg -- der vor 1965 jede wissenschaftlich begründete Kosmologie für unmöglich hielt -- muß bekennen: »Ich kann nicht leugnen, daß ich einen Anflug von Unwirklichkeit empfinde, wenn ich über die ersten drei Minuten in einer Weise schreibe, als wüßten wir wirklich, wovon wir sprechen.«
Eben darin besteht die Aporie der modernen Physik: Sie ist im Ernst unsicher geworden, ob sie die Wirklichkeit (der Natur) überhaupt noch erreicht.
Charakteristisch hierfür ist das Heisenberg-Dilemma. Einerseits deutete der 1976 verstorbene Physik-Nobelpreisträger die Unschärfe-Relationen der Quantenmechanik als prinzipielle Grenze der Naturerkenntnis: Sie gibt dem Menschen, laut Heisenberg, niemals ein Bild der Natur, sondern nur ein Bild seiner Beziehungen zur Natur.
Andererseits strebte Heisenberg in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens eine allgemeine Feldtheorie der Materie an. In ihr wird jedoch die Natur endgültig mathematisiert -- und die prinzipielle Erkenntnissehranke für den Menschen wieder eliminiert.
Wie bei Pythagoras und dem späten Platon gelten auch für Heisenberg wieder die Zahl respektive die mathematischen Grundformen als Wurzel der Dinge. Form und Symmetrie -- letztlich »die zentrale Ordnung« -- bilden also das Wesen der Wirklichkeit, sind »die mathematischen Transformationseigenschaften in ganz abstrakten Räumen, die hinter der bunten Vielzahl der Erscheinungen nur für den Mathematiker erkennbar sind«.
Damit verwandelt sich jedoch Physik wieder einmal in Metaphysik. Denn bereits das emanzipatorische Pathos der klassischen Physik hatte auf dem Glauben beruht, die alte Metaphysik abgelöst zu haben und statt ihrer sagen zu können, was die Wirklichkeit (der Natur) in Wahrheit, also ihrem Wesen nach ist.
Ungeklärt bleibt also, ob die Physik die Wirklichkeit der Natur erreicht. Heisenbergs Deutung der Unschärfe-Relationen verneint das ausdrücklich. Seine allgemeine Theorie der Materie hingegen zieht sich auf die Abstraktionsstufe der Mathematik zurück, die freilich idealistisch zum Wesen der Natur erklärt wird.
Genauso wie bei Heisenberg zeigt sich auch bei Weinberg dieses Schwanken der modernen Physik zwischen klassischem Erkenntnisoptimismus und selbstkritischer Reflexion ihrer nun einmal durch das mathematische Modelldenken bestimmten Grundlagen.
So spricht der amerikanische Forscher auf der einen Seite mit dem Pathos der klassischen Physik von der »unerschütterlichen Objektivität der modernen Astrophysik«, vom puren »Zwang der empirischen Daten«, oder auch vom »ebenso einfachen wie großartigen Blick auf das Universum
Ebenso behauptet er die eindeutige Sicherheit auch der statistischen Mechanik. Deswegen seien Theorien über das aufstellbar, was »im frühen Universum ... geschehen sein muß« -- und das sind offenbar klassische Theorien mit Notwendigkeitscharakter.
Andererseits erklärt Weinberg jedoch genauso, daß es keine »absolute Gewißheit« für die Richtigkeit des Standardmodells gebe. Er bemängelt sogar, es sei logisch nicht zwingend genug, weil es die erste Hundertstelsekunde -- den wirklichen Anfang -- aussparen müsse und daher den Forschern abverlange, die Anfangsbedingungen als theoretische Postulate einzuführen. Er meint dabei vor allem den pauschalen Verhältnisschätzwert von Lichtquanten und Kernteilchen.
Nicht nur ihn. Denn Weinberg weiß genau, daß die theoretischen Voraussetzungen des Standardmodells kontingent sind. So funktioniert dieses Modell beispielsweise nur, wenn das Weltall von vornherein für homogen und isotrop gehalten wird.
Homogen ist das Weltall, wenn es zu einem gegebenen Zeitpunkt allen typischen Beobachtern ungeachtet ihres Ortes als gleich erscheint. Isotrop ist es, wenn es für jeden typischen Beobachter nach allen Richtungen hin gleich aussieht.
Beide Voraussetzungen sind unbeweisbar, obschon die von der Erde aus gemessene kosmische Hintergrundstrahlung »hochgradig isotrop« ist.
Weinberg räumt daher ein: »Es könnte sogar sein, daß das ganze Universum, das wir beobachten können ..., nur ein homogener und isotroper Klumpen innerhalb eines umfassenderen ... Universums ist.«
Damit sagt er jedoch auch, »daß unsere einfachen kosmologischen Modelle vielleicht nur einen winzigen Teil des Universums und einen begrenzten Ausschnitt aus seiner Geschichte beschreiben«.
Hier wird die Crux des mathematischen Modelldenkens erkennbar: Seine Modelle alternieren ständig. Sie können daher gar nicht die Realität (der Natur) abbildend »beschreiben«, sondern nur andeutend symbolisieren.
Dieser Erkenntnisstatus war für die Astronomie schon früh bekannt. Sie galt in Spätantike und Mittelalter nicht als Wissenschaft, sondern als »freie Kunst«. Astronomische Theorien wurden daher nicht als zwingend, wahr und notwendig aufgefaßt -- obschon sie dann doch während des Mittelalters überwiegend im Sinne der Bibel, also geozentrisch, dogmatisiert wurden -, sondern als mathematische Kunstgriffe mit der Absicht, »die Erscheinungen zu retten«, also zu sichern, zu erklären.
Überraschend ist nun, daß die moderne Naturwissenschaft nicht etwa den strengen klassischen Theoriebegriff bis zur Neuzeit repräsentiert, sondern eher jenem relativistischen Begriff von der Astronomie als freier Rechenkunst gleicht.
So betonte etwa der führende Wissenschaftstheoretiker Sir Karl Popper: »Unsere Wissenschaft ist kein System von gesicherten Sätzen, auch kein System, das in stetem Fortschritt einem Zustand der Endgültigkeit zustrebt. Unsere Wissenschaft ist kein Wissen (episteme): weder Wahrheit noch Wahrscheinlichkeit kann sie erreichen ... Wir wissen nicht, sondern wir raten.«