Herbert Wehner über Julius Hay: "Geboren 1900" Wo die Kesselpauken stehen
Julius Hay schildert, wie er 1948 Dresden wiedersah, das er aus den zwanziger Jahren kannte: »Gegenüber dem Zwinger-Eingang stand schon wieder hergerichtet: das Schauspielhaus, in welchem ich einst gelernt hatte, im Theater, mit dem Theater, für das Theater zu leben ... aber keiner der Anwesenden wußte, daß ich, der Fremde, dieses Gebäude länger kannte als irgend jemand von ihnen. Als man mich hinter die Kulissen führte, fragte ich verwundert: »Warum hier? Warum nicht dort, wo die Kesselpauken stehen? Und die Kesselpauken standen wirklich dort. Kesselpauken haben immer ihre vernunftdiktierten Plätze. Nur Menschen wissen selten, wo sie hingehören.«
Im Theater, mit dem Theater, für das Theater zu leben -- das hat der bedeutende Dramatiker Julius Hay in Deutschland, in Österreich, in der Sowjet-Union, in Ungarn, in der Schweiz verstanden und versucht -- im Strom der Ereignisse des Jahrhunderts, mit dem und in das er geboren worden ist. Sein Erinnerungsbuch ist ein Bericht über verschobene und abgesagte, über triumphale und beklemmende Premieren. Durch den Filter des Erlebens erkennt der Beschreibende Mit- und Gegenspieler. Sein Bericht ist ungemein human. Er wird niemals ätzend. Man lernt aus ihm liebenswerte und komische Seiten von sonst nur in Heldenpose porträtierten Personen kennen.
Hay gesteht eigene Vorurteile ein, die er als solche erkannt hat, und er versucht, anderen die ihren überwinden zu helfen. Er gibt zu, schwach gewesen zu sein, wo er sich schwach fühlte, und er bleibt stark im Tragen von Lasten, die andere ihm und er sich selbst auferlegt hatten.
»Werde ich in meiner regellosen Erzählung irgendwo auf mein Damaskus stoßen, wo ich durch einen spektakulären Umschwung ein anderer geworden bin?« -- so fragt Hay im Einleitungskapitel, das er mit den Zeilen begonnen hat: »An einem Sommertag 1934 starb mein Vater. Ich konnte ihn nicht zum Grab geleiten, weil ich in Wien im Gefängnis saß. Als gefährlicher Kommunist. An einem Herbsttag 1958 starb meine Mutter. Ich konnte nicht zu ihrem Begräbnis gehen, weil ich in Budapest im Kerker saß. Als gefährlicher Antikommunist ... Habe ich mich im Verlauf dieser Jahre so grundlegend verändert? Hat sich die Welt so sehr verwandelt, als wäre ich heute das Gegenteil dessen, was ich einst war?«
Seine eigene Antwort knüpft er an Gedanken über die Zeit im ungarischen Gefängnis, 1957 bis 1960: »All die Jahre, Tage und Nächte schuf ich in der Zelle an meinem Drama weiter Wo bin ich aus einem Saulus ein Paulus -- oder aus einem Paulus ein Saulus -- geworden? Ich glaube, nirgends. Und eben dafür sollte ich büßen. Jahrzehntelang schon ging und hastete und trottete ich denselben Weg, den ich als den Weg zum Sozialismus kannte. Andere aber, die sich die Partei nannten, verließen diesen engen Pfad. Sie wählten die Straße der Macht und Gewalt und sagten, diese Straße führe zum Sozialismus, zum Kommunismus ... Sie haben ihr Ziel nicht erreicht, und ich habe mein Ziel nicht erreicht. Aber ich gebe zu, daß dieses Ziel unerreichbar ist. Für die Verwirklichung meiner Träume muß die Welt sich einen anderen, einen noch nicht bekannten Weg suchen.«
Steckt darin doch etwas Selbstgerechtigkeit? Hat er vereinfacht oder vergessen, was er erlebt und mit anderen erlitten hat? Hay beschreibt ohne Umschweife, wenn jemand, den er als Apparatmenschen oder als scheinbar unnahbaren Potentaten erlebt hat, anderen Hilfe erweist oder eingesteht, warum er versagt. Und umgekehrt.
1956, inmitten der Kämpfe in Budapest, dachte Julius Hay: »Wenn alles, wofür wir lebten, stirbt, dann müssen wir mitsterben. Würde das allgemeine Sterben aufgeschoben werden, bekämen auch wir eine Galgenfrist. Aber soll man sich diese Galgenfrist noch wünschen? Nach einem Leben, verbracht -- vielleicht vergeudet -- im Dienste einer gloriosen Idee, die sich als Vorwand sehr andersartiger Absichten erwies, mit der man uns betrogen und belogen hatte -, durften wir im letzten Augenblick Werkzeug dieses Betruges werden?« Wer ist, wer sind »man«?
Anfang Oktober 1956 hatte Hay einen Artikel veröffentlicht mit der Überschrift: »Warum mag ich den Genossen Kucsera nicht?« Darin hieß es: »Kucsera ist der große Irrtum unserer Geschichte ... der Nichtwisser aus Überzeugung und Leidenschaft, der vom Piedestal seiner Unwissenheit auf uns herabblickt und verbissen am falschen Lehrsatz von der ständigen Verschärfung des Klassenkampfes festhält, weil dieser ihm die Möglichkeit gibt, die Rolle der politischen Zuverlässigkeit in Person mit Seltenheitswert weiterzuspielen ... Er lebt davon, daß wir in unserer Gesellschaft einen ansehnlichen Teil des Mehrwertes nicht für gemeinnützige Dinge ... sondern für Kucsera ausgeben.«
Für Hay sah die Auseinandersetzung so aus: »Zwei Fronten haben sich in unserem Land gebildet ... Der Trennungsstrich ging mitten durch das Lager, das sich kommunistisch nannte. Es waren die »Kueseras« und die, die sie nicht mochten ... Die Antikucseras ... wollten auch eine Gesellschaftsordnung »Kommunismus«. Aber in dieser Ordnung sollte es keine Bürokratenherrschaft, keine Parasiten geben, keine Ausbeutung ... Ein Kommunismus für die Menschheit und ein Kommunismus für Kucsera: das ist der große Gegen-Satz der kommenden Jahre. In welcher Form sich beide die entscheidende Schlacht liefern werden, kann niemand im voraus sagen.«
Wer Hays Dramen kennt, den werden solche Überlegungen nicht überraschen. Hay sagt beiläufig von sich: Um etwas richtig zu verstehen, müsse er es sich als »Stück« denken. Doch er hat oft erlebt, wie seine eigenen Stücke zu verschiedenen Zeiten ganz verschieden aufgenommen worden sind. Sein Buch gibt dafür manch erschütterndes und manch erheiterndes Beispiel.
Aber ihm geht es um die Wahrheit. Ihr hält er sich verpflichtet, so wie er selbst in kritischer Zeit in der »Irodalmi Ujsag« geschrieben hat, dem Schriftsteller müsse »wie jedem anderen Menschen unbeschränkt erlaubt« sein, »an allem und an jedermann Kritik zu üben; traurig zu sein; verliebt zu sein; an den Tod zu denken ... an Gottes Allmacht zu glauben; nicht an Gottes Allmacht zu glauben; die Richtigkeit einiger Planziffern zu bezweifeln; auf nicht-marxistische Art zu denken; auf marxistische Art zu denken, auch wenn dabei Gedanken entstehen, die noch nicht als offiziell sanktionierte Wahrheit gelten ...«
Wer das liest, wird verstehen, daß Hay nicht nur »schwierig« ist, sondern es auch schwer hat. Er ist nicht das, was man einen »Politiker« nennt. Aber er geht mit politischen Tatbeständen um und bezieht Seite.
Der Dramatiker Julius Hay ließ sich nicht einordnen in den »sozialistischen Realismus« und nicht in dessen Gegenteil. Er paßte nicht in Brechts Schema und litt doch darunter, daß er das Gespräch mit Brecht nicht hatte zu Ende führen können.
»Geboren 1900« zu lesen, lohnt. Viele, leben sie in West oder Ost, Nord oder Süd, werden durch die Nachdenklichkeit und die unverdorbene Humanität des Schriftstellers nachdenklich über manches werden, das sie bisher unbeachtet gelassen hatten. Wenn's erlaubt ist, sei hinzugefügt: Möge Julius Hay selbst weiter nachdenklich bleiben.