Ja, alle Linken sind Kinder der Aufklärung, alle Rechten sind Kinder der Finsternis. Aber die Finsternis, das hat sie seit je an sich, ist nicht einfach finster. Sie verdient stets hohes, hochromantisches Interesse. Sie steckt voller Ungeheuer, die ungeheuer interessant sind.
Die »Debatte des Jahres« - so wurde die lose Zusammenstellung von Texten von Botho Strauß, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger im SPIEGEL genannt. Eine Debatte des Jahres wollte auch die Frankfurter Allgemeine unter dem Titel: »What''s left?« beginnen - und nichts anderes hatte auch Die Zeit mit ihrer Reihe »Umdenken« im Sinn. Der gemeinsame Nenner all dieser Diskurs-Versuche ist, daß sie nach einer neuen Rolle der Intellektuellen in Deutschland fragen. Das Zwischenergebnis scheint zu sein, daß fürs erste mehr Staub aufgewirbelt als Klarheit geschaffen wurde. Vier Jahre nach dem großen Beben in Europa ist also immer noch Sturm und Brausen in den Köpfen. Auch das ist eine Standortbestimmung.
Was mich betrifft: Ich habe den »Anschwellenden Bocksgesang« des Botho Strauß nicht ganz verstanden, jedenfalls nicht so, daß ich zweifelsfrei _(* Reaktionen auf SPIEGEL-Beiträge von ) _(Botho Strauß, Hans Magnus Enzensberger ) _(und Martin Walser. ) wüßte, was er will und wohin er will. Verstanden haben ihn offenbar alle außer mir, wenn man der schnellen, schrillen und einstimmigen Ablehnung trauen darf.
Das kann am altdeutschen Gestus und am Titel liegen: So ein numinoser, archaisch-raunender Dunkel-Spruch reicht manchmal als alleinige Interpretationsgrundlage für gewaltige Retourkutschen. So verführerisch-vieldeutig der Strauß-Text sich ankündigte, so wenig er, rein sprachlich, in einzelnen Passagen davon einlöste, so eindeutig war das Echo ganzer Zeitungsbreitseiten: Bocksgesänge, Bocksprünge, Sündenböcke, Exorzismus. Saul, selbst fiebrig, war also unter die berauschten Propheten geraten.
Bräuchte es noch eines Beweises, daß es die »gefallenen Kultleidenschaften« des Botho Strauß wirklich gibt, dieses Echo der anschwellenden Empörungen wäre der Beweis. Alarmierender nämlich als der Ursprungstext ist die Wirkung, die er auslöste. Das ist kein Kommentar mehr, das ist ein eigener Text, der sich nur mit Irritationen lesen läßt. Als wäre nur ein Stichwort notwendig gewesen, um die Schleusen einer gierigen, lange aufgestauten Wut zu öffnen, die den Autor und seine ganze Zunft gleich mitverschlingt.
Woher kommt diese Wut? Und was eigentlich sind Kultleidenschaften? Es sind die altbekannten, menschlichen Leidenschaften - Liebe, Haß, Rivalität, Sucht, Sehnsucht, Rausch und Dämonen -, die kultisch gebändigt sind.
Nur im (meist religiösen) Ritual, selten auch im Theater und in mancher Musik, bewahren sie eine Erinnerung an die ursprünglichen Schrecken und die Faszination, an die reale Gewalt, aus der sie einmal entstanden sind: Krieg, Brudermord, Menschenopfer, Vernichtung, Inzest. Solche Leidenschaften aus der Gegenwart in die Urzeit und hinter die Traumgrenze zu verbannen, sie kultisch zu fesseln, damit sie die Gemeinschaften nicht zerfetzen, ist eine Kulturleistung; sie steht am Anfang aller Zivilisation. Fallen diese Leidenschaften aus ihrer rituellen Bindung und Zähmung, fallen die Menschen aus der Kultur, zerfällt die menschliche Zivilisation.
»Gefallene Kultleidenschaften« sind also freigesetzte Leidenschaften, deren rituelle oder kulturelle Bändigung nicht mehr gelingt. Es sind streunende Wölfe auf der Jagd nach neuer Beute, die die alten Urszenen nachspielen. Botho Strauß nennt als Beispiele Rassismus und Fremdenhaß. Er ahnt, daß nach dem aktuellen kulturellen Sündenfall, den in ganz Europa ausbrechenden Pogromen, keiner mehr weiß, »ob unsere Gewaltlosigkeit den Krieg nicht bloß auf unsere Kinder verschleppt«.
Wer diese Ahnung nicht hat, hat keinen Grund, sich zu fürchten. Aber warum fürchten sich so viele? Und wovor fürchten sie sich, wenn doch sonst keiner »das Reißen von Strängen, gegebenen Händen, Nerven, Kontrakten, Netzen und Träumen« vernimmt?
Wer klug ist, der kann sich derzeit in Deutschland als alles outen, aber besser nicht als Dichter, Filmemacher und Intellektueller. Die Kreativen sind die edlen Tiere, die Sündenböcke. Was ist ein Sündenbock? »Er sammelt den einmütigen Haß aller in sich auf, um die Gemeinschaft davon zu befreien. Er ist ein metabolisches Gefäß« (ein Gefäß der Umwandlung) - so Strauß in Anlehnung an Rene Girard. Schön gesagt: metabolisches Gefäß. Wer aber gibt sich schon freiwillig her zur Entsorgung von gefährlichen Instinkten seiner Zeitgenossen, zur Kloake von Seelenmüll im Gefolge einer großen Flut von Wirklichkeitsveränderungen? Es ist Volkes- und Medienwille, der sich seine metabolischen Gefäße so nachdrücklich schafft, daß den »Erwählten« dabei Hören und Sehen vergeht.
Vielleicht ließe sich, nach soviel Exzessen, auch einmal über Schadensbegrenzung und Schonung von Ressourcen der Kreativität nachdenken. Es handelt sich doch um besonderes Material aus besonderem Stoff: Christa Wolf, Günter Graß, Wolf Biermann, Heiner Müller, Botho Strauß, Martin Walser, Bärbel Bohley, Hans Magnus Enzensberger, Wim Wenders, Peter Sloterdijk, allesamt Magierinnen und Zauberer, alle schon aus gegebenen Anlässen exkommuniziert und aus der Gemeinschaft der »richtig« Denkenden ausgeschlossen.
Wie viele dieser seltenen Sorte inspirierter Zeitgenossen haben wir wohl noch zuzusetzen für die gefräßigen Veränderungsprozesse einer Gesellschaft im Schmelztiegel? Obwohl, wer wüßte das nicht, auch bei der Hochzeit beginnt man mit dem besten Wein. Soviel Neues passiert nicht unter der Sonne.
Dieter E. Zimmer hat in der Zeit beklagt, es sei der Altar der PC ("political correctness"), der altbornierten politischen Richtigkeiten, auf dem all diese Haßlieblinge des öffentlichen Diskurses unters Messer kämen. Damit rechnet er den luxurierenden Verschleiß an kreativen Persönlichkeiten allein der politischen Linken zu. Da ist was dran - und doch greift seine Analyse im Entscheidenden zu kurz.
Das Pathos und das Vokabular der »political correctness« ist der bevorzugte Dialekt der ganzen Moderne; jede Weltanschauung, jede Streitschrift, jede Parlamentsdebatte, jeder Leitartikel ist davon in gleicher Weise durchdrungen. Wer sich öffentlich zu Wort meldet, redet in der Regel genauso - laut, undialogisch, frei von Zweifeln und letzten Geheimnissen.
Wenn Zimmer die Tugenddiktatur und die Beschränkung geistiger Freiheiten allein der politischen Linken anlastet, so müssen dem Autor doch einige Strafaktionen der Konservativen gegen moderate Querdenker schlicht entgangen sein: gegen Heiner Geißler beispielsweise, Rita Süssmuth, den frühen Kurt Biedenkopf, Joachim Fest, Alfred Grosser, Wolfgang Herles, sogar Michael Stürmer. Nein, erfunden hat das »Denken bei Hofe« und die nachhaltige Ächtung von Opponenten wohl doch die politische Rechte. Aber für wen soll das ein Trost sein?
Der Beitrag der Linken zur Zerstörung der Debattenkultur ist Teil ihrer Selbstzerstörung als Aufklärer. Sie sind an das Anti festgeschmiedet wie Prometheus an seinen Felsen. »Die Linke denkt, statt mit dem eigenen Kopf, mit dem Kopf eines ehrenwerten Ideologie-Amalgams aus allem nur ungefähr Linken, dessen Kitt das Anti ist«, schreibt zornig Günther Nenning, auch so ein freischweifender Links-Rebell. »Bitter fehlt den Antifaschisten das Pro, die große Pro-Idee, die ,die Massen ergreift'' . . . Die NS-Ideologie liefert den letzten Maßstab dessen, was die Linke denken darf bzw. nicht denken darf. Hitler ist immer noch Terrorist, er hält die Linke als Geisel.« Triste Konsequenz: »Die Leitung des linken Verstandes liegt gegenwärtig bei den Rechten.«
Das genau ist die Tragödie. Lebendig begraben in der Gruft der alten Welt und ihrer Schlachten, zählen die Übriggebliebenen jeden Morgen die verbliebenen Häupter ihrer Lieben. Abgang ist überall. In dieser Atmosphäre der Untergangsstimmungen aber tritt man nur als Überläufer ab, als Verräter.
Wo immer man heute einen Querschnitt der Binnenwelten macht - bei der SPD oder bei den Grünen, bei der Zeit oder bei der taz, im Schriftstellerverband und sogar bei der RAF, überall das gleiche Bild: Einzelne, die sich lösen, zum Preis äußerster Isolation. Extreme Kränkung derer, die die alte Identität zu wahren versuchen. Auf beiden Seiten: wild um sich schlagende Nicht-Identität. Und weit und breit keine neue Freiheit in Sicht.
Wenn die weiten Perspektiven verschwimmen, sollte man das Naheliegende nicht außer acht lassen. Wenn keiner weiß, wo es langgeht, sollten alle wenigstens suchen dürfen. Es ist ja nicht sinnvoll und für intelligente Menschen auch ziemlich langweilig, in den alten Gräben zu verharren, wenn der Krieg schon vorbei ist - verloren oder gewonnen, das mag dahingestellt bleiben. Es muß diese Langeweile - und natürlich auch die Neugier - gewesen sein, die Botho Strauß, Wolf Biermann, Hans Magnus Enzensberger vor der Zeit fahnenflüchtig werden ließ. Kann man''s ihnen verdenken?
Ich plädiere für Demokratisierung dieser intellektuellen Freigeisterei. Ich warte auf die Zeit, in der das Suchen und das Verlassen der alten Kameradschaften jedweder Lagerzugehörigkeit für alle erlaubt ist und nicht länger soziale Sanktionen nach sich zieht. Geben Sie endlich Gedankenfreiheit, Sir und Madame von der linken und rechten Linienpolizei!
Wenn etwas dabei herauskommen soll, müßten trotzdem, aus Gründen der Überlebensklugheit und der Schonung aller Beteiligten, ein paar Diskursregeln beachtet werden. So sollte - wenigstens, bis sich die Themen herauskristallisiert haben, um die sich eine neue Identität der deutschen Intellektuellen bilden könnte - das beliebte Dämonisieren unterbleiben, auch das Spekulieren darüber, was einer zwar nicht gesagt hat, aber doch hinterhältigerweise meine und beabsichtige.
Das Totschlagargument, daß ein Begriff, ein Gedanke, eine Position nur dem politischen Gegner nütze und daß genau das bezweckt sei, könnte für einige Zeit außer Kurswert geraten. Und nicht zuletzt sollte nicht länger erlaubt sein, denkende, redende oder schreibende Mitmenschen, nur weil sie konservative Themen behandeln, willkürlich in die Nähe des Faschismus zu rücken und damit ihre Texte faktisch mit Leseverbot zu belegen.
Umgekehrt wäre es wünschenswert, daß die, die intellektuelles Neuland betreten, nicht allzu solipsistisch und nebulös von ihren Entdeckungen berichten, sondern so, daß man sie noch begreifen kann - soweit es der Genius eben erlaubt (Kleine Flaschenpost, with best wishes, an Botho Strauß).
Soviel zur Methode. Und nun zu den Inhalten und den Trägern des Neuen. Die neue deutsche Republik in der Umbruchphase braucht ihre Intellektuellen und sogar ihre Dichter(innen). Sie braucht sie nicht als »metabolische Gefäße« oder Sündenböcke, sondern als neugierige, kritische, ahnungsvolle Medien neuer Wirklichkeiten. Gefährdet, wie sie ist, kann sie nicht eine(n) einzige(n) mehr dem inneren oder äußeren Exil überlassen, wie das in den letzten Jahrzehnten in Ost und West gleichermaßen Unsitte wurde. Dies Land braucht auch eine gesellschaftliche Schicht, die sich für das Zentrum der Republik, für seine Kultur und Identität verantwortlich fühlt.
Mit einem klassischen Begriff aus dem verschwundenen Vorkriegs-Europa: Es braucht ein selbstbewußtes, tolerantes, weltoffenes und aus eigener Kraft agierendes Bürgertum.
Die alte Bundesrepublik und die alte DDR waren beide Kleinbürger-Republiken. Kann denn aus diesen Ingredienzien eine Republik von Bürgerinnen und Bürgern werden? Von der materiellen Ausstattung her gibt es diese Schicht längst, vom Bewußtsein und den damit verbundenen sozialen, kulturellen und staatsbürgerlichen Verpflichtungen her ist sie so gut wie nicht existent. Die Ursachen für diese Schwäche liegen weit zurück: Zwei Diktaturen haben diese bürgerliche Substanz zerstört, das jüdische Bürgertum wurde vernichtet, die 68er sind, teils freiwillig, teils genötigt, aus der Gesellschaft ausgewandert, die Bürgerrechtler auch. Für das Primat der Egalität und die populistische Intellektuellenverachtung gab es in der bundesdeutschen Politik immer große Koalitionen.
Kein böses Wort über die Kleinbürger-Republiken! Sie gehen uns nach, und sei es in Form von Präsidentschaftskandidaten. Wir werden sie - gelegentlich - vermissen. Auch gab es nicht nur den Nischen-Ossi, es gab auch den Nischen-Wessi, und beide waren geprägt von einem Milieubündnis, einem Einklang von Gesellschaft und Politik. Die Intellektuellen waren dabei nicht ganz so wichtig, sie hatten kostbare Narrenfreiheiten.
Heute werden die Intellektuellen ernsthaft gebraucht, um einen neuen Gesellschaftskonsens vorzubereiten. Von den alten Gesellschaftskonsensen stimmt kein einziger mehr: Stetiges Wachstum sichert nicht länger durch geregelte Umverteilung den sozialen Frieden, die Natur gleicht unsere Fehler nicht mehr aus, die Pax Atomica des Kalten Krieges hält nicht länger die innergesellschaftliche Gewalt in Schach, die Provinzialität im Innern macht die Deutschen nicht länger weltverträglich, die Ost-West-Spaltung hält nicht länger das Elend des Südens von uns fern.
Botho Strauß hat für die Summe all der neuen Ungewißheiten einen Ausdruck gefunden, der genauer nicht sein kann: »Terror des Vorgefühls«. Es geht nun darum, dieses Vorgefühl aufzuklären, inklusive der Restfinsternisse, und Menschen zu ermutigen, ihm nicht zu verfallen. Y
»In dieser Atmosphäre tritt man nur als Verräter ab«
»Der Krieg wird bloß auf unsere Kinder verschleppt«
»Ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der richtig Denkenden«
»Eine neue Identität der deutschen Intellektuellen«
* Reaktionen auf SPIEGEL-Beiträge von Botho Strauß, Hans MagnusEnzensberger und Martin Walser.