BAYREUTH Wolfgangs letzter Wille
Als Toni Schmid, Vorsitzender des Stiftungsrats der Bayreuther Festspiele, zur Eröffnung der letzten Sitzung am Dienstag vergangener Woche einen Brief von Wolfgang Wagner verlas, da brach in der Runde, so sagt es ein Teilnehmer, stiller Beifall aus. Stiller Beifall: Das ist natürlich eine spezielle Sorte Freude, und sie beschreibt recht gut, wie sich die Mitglieder des Gremiums, das über die Leitung des noch immer wichtigsten Musikfestivals der Welt bestimmt, derzeit fühlen.
Groß muss die Erleichterung gewesen sein, am Nachmittag des 29. April überhaupt ein Ereignis verkünden zu können: Mit dem Rücktritt Wolfgang Wagners, 88, bis spätestens zum 31. August löst sich das Patt zwischen Stiftungsrat und Festspielleitung, ein seit Jahren schwelender, zur trostlosen Blockade erstarrter Machtkampf um die zukünftige Leitung in Bayreuth.
Sagenhafte 57 Jahre, seit dem Tod von Bruder Wieland im Jahr 1966 als alleiniger Herrscher, seit 1987 ausgestattet mit dem berüchtigten Vertrag auf Lebenszeit, hatte Wolfgang an der Spitze der Festspiele gestanden. Der letzte formal korrekte Versuch des Stiftungsrats, mit Eva Wagner-Pasquier, 63, Tochter Wolfgangs aus erster Ehe, eine neue Leitung zu installieren, war 2001 am Alten gescheitert.
Im Sommer vergangenen Jahres hatte sich dann Katharina Wagner, 29, Tochter Wolfgangs aus zweiter Ehe, als Kandidatin ins Gespräch gebracht; ihren Anspruch untermauerte sie mit ihrem Bayreuther Debüt als Regisseurin der »Meistersinger von Nürnberg«. Im November erweiterte sie ihre Bewerbung zur Troika - um den Dirigenten Christian Thielemann und den Kulturmanager Peter Ruzicka.
Erst der Tod von Wolfgangs zweiter Ehefrau Gudrun Ende November 2007, die zuletzt als heimliche Festspielleiterin galt, brachte so richtig Schwung in das festgefahrene Kandidatenkarussell:
Am 18. Dezember bewerben sich Eva Wagner-Pasquier und ihre Cousine Nike Wagner, 62, Tochter des Wolfgang-Bruders Wieland, gemeinsam um die Leitung. Am Ostersonntag dieses Jahres treffen im Hause Wolfgangs die Halbschwestern Katharina und Eva mit ihrem Vater zusammen. Bei dem Treffen gibt Wolfgang die seit Jahrzehnten verhängte Kontaktsperre zu Eva auf; die Schwestern kommen sich näher und entdecken, wie Katharina später zu Protokoll geben wird, »welche Ähnlichkeiten es zwischen uns gibt«.
Am 8. April überrascht Wolfgang den Stiftungsrat mit einem Brief, in dem er seinen Rücktritt andeutet. Als mögliche Nachfolger nennt er eine Doppelspitze seiner Töchter Katharina und Eva - ein Vorschlag, den die Geldgeber im Stiftungsrat sogleich als vielversprechend, aussichtsreich und »charmant« (der bayerische Kunstminister Thomas Goppel) bezeichnen. Seit Mitte April liegt dem Stiftungsratsvorsitzenden das neue Konzept Evas vor - jenes Papier also, das den erstaunlichen Wechsel der Schlüsselfigur Eva von der Cousine zur Halbschwester besiegelt.
Und nun endlich, mit dem Abtritt des dienstältesten Festspielleiters der Welt, kann das Gerangel um die Zukunft Bayreuths, von der Öffentlichkeit zuletzt nur noch mit Unverständnis, Schulterzucken und Kopfschütteln begleitet, in die nächste, die wohl entscheidende Runde gehen.
Dass auf der Sitzung vorigen Dienstag nicht gleich über die Nominierung des favorisierten Duos Eva/Katharina entschieden werden konnte, liegt an der speziellen Satzung der Stiftung. Und so schwingt im Fazit, das der Ratsvorsitzende Toni Schmid zog, genau jene Mischung aus Ironie, Beschwichtigung und abwartender Vorsicht mit, die für die Entscheidungsträger in Bayreuth so typisch ist: »Wir haben jetzt die Möglichkeit, mehr zu tun, als die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten. Das ist der Fortschritt.«
Zur Erklärung: Vor nun 35 Jahren hatte Wolfgang Wagner das Familienunternehmen Bayreuth in eine Stiftung verwandelt. Deren Zweck war es, den »künstlerischen Nachlass von Richard Wagner dauernd der Allgemeinheit zu erhalten«, also nicht weniger als die Sicherung einer bis heute beispiellos idealistischen und demokratischen Festspielidee, die 1876 mit dem »Ring des Nibelungen« zum ersten Mal zur Aufführung gekommen war.
Das Festspielhaus ging in den Besitz der Stiftung über, Haus Wahnfried und das Richard-Wagner-Archiv wurden Dauerleihgabe. Im Gegenzug verpflichtete sich das Land Bayern, den Betrieb mit öffentlichen Zuschüssen zu erhalten.
Der Nachfolgefall ist in der Satzung unter Paragraf 8 geregelt: Mit der Bekanntgabe des Rücktrittstermins des Festspielleiters setzt eine viermonatige Bewerbungsfrist ein. Innerhalb jener Frist haben die Mitglieder der Familie Wagner im Stiftungsrat die Möglichkeit, mit der Mehrheit der Stimmen einen Vorschlag zu machen. Einigt sich die Familie innerhalb dieser Frist nicht auf einen Kandidaten, so beginnt eine offene Ausschreibung, an der sich die Wagners dann noch einmal, auch ohne Mehrheit, beteiligen können.
In der Sitzung am 29. April zogen sich die anwesenden Vertreter der Familie - Verena Lafferentz-Wagner, jüngste Schwester Wolfgangs; Neill Thornborrow, Sohn von Friedelind Wagner; der Anwalt Stefan Müller in Vertretung Wolfgang Wagners; Iris Wagner, älteste Tochter Wielands; schließlich Nikes Anwalt Reinhold Kreile - gemeinsam zurück, um darüber zu beraten, ob es für die Nominierung von Eva und Katharina zu einer spontanen Mehrheit reichen würde. Nach 20 Minuten kehrten sie zurück: Man sei sich einig, die vollen vier Monate nutzen zu wollen.
Trotz seiner nun 35-jährigen Geschichte - die längst überfällige Bewährungsprobe als entscheidungs- und handlungsfähiges Gremium hat der Stiftungsrat erst an jenem Dienstag bestanden.
Bis dahin hatten die Mitglieder des Rats zwar über so wichtige Dinge wie die Renovierung von Haus Wahnfried und die Instandhaltung der berühmten Bibliothek beraten können. Seiner entscheidenden Aufgabe aber durfte der Rat (entgegen immer wieder falsch geschürten Hoffnungen der Medien) so lange nicht nachkommen, wie der amtierende Festspielleiter seinen Rücktritt offenließ. Ganz gleich, ob die Kandidaten Eva, Katharina, Nike oder Christian Thielemann hießen - es handelte sich um virtuelle Kandidaturen, solange Wolfgang im Amt blieb.
Alle Energien des Stiftungsrats waren in den letzten Wochen also darauf gerichtet, den Alten vom Hügel zu verdrängen. Die Schwestern Katharina und Eva bekniete der Stiftungsrat förmlich, ihren Vater vom Unvermeidlichen zu überzeugen. Gleichzeitig hatte der Stiftungsrat offen damit gedroht, die Festspiele finanziell auszutrocknen. So hatte Karl Gerhard Schmidt, Vorsitzender des Mäzenatenvereins der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth, angekündigt, die Defizite von knapp rund zwei Millionen Euro aus den Geschäftsjahren 2007 und 2008 letztmalig und nur dann noch einmal auszugleichen, wenn die Rücktrittsfrage geklärt sei.
Dem Festspielleiter Wolfgang wird nach dem Tod seiner Frau Gudrun ein erstaunliches Erwachen seiner Lebensfreude und geistigen Kräfte nachgesagt. Zuletzt muss ihm klargeworden sein: Tritt er jetzt nicht zurück, lässt er seine letzte Chance fahren. Dann gefährdet er das wirtschaftliche Gleichgewicht der Festspiele und, für ihn wohl entscheidender, die Zukunft seiner Lieblingstochter Katharina.
Und doch: Wie vorbildlich satzungsgetreu der Stiftungsrat seine Entscheidungsfindung auch weiter inszeniert, der Geschmack einer Familienposse um den Patriarchen bleibt. Da sich gegen den Festspielleiter keine neue Leitung durchsetzen ließ, beugt man sich seinem Willen. Ein Trost ist, dass sich nun die Kandidatinnen beider Mächte, die von Stiftungsrat und Festspielleiter, durchgesetzt haben.
Und so werden sich die Nachfahren des großen Richard nach der 97. Aufführung der Festspiele, die in diesem Jahr mit der Neuinszenierung des »Parsifal« eröffnen, aller Voraussicht nach für Eva und Katharina aussprechen. Eine Lösung, die der Stiftungsrat bei seiner nächsten Sitzung am 1. September gern bestätigen wird.
Einen Vertrag auf Lebenszeit wird es nicht geben, stattdessen einen Intendantenvertrag über sieben oder acht Jahre.
Dem SPIEGEL erklärt die tapfere Nochimmer-Kandidatin Nike: »Bei ihrem Casting für die Nachfolge haben sich die Verantwortlichen im Stiftungsrat für die Linie Wolfgangs entschieden und gegen eine inhaltliche Neubestimmung. So weit, so machtvoll. Für eine konzeptuelle Gestalterin der Festspiele bleibt in diesem Gefüge kein Platz.«
Die Kandidatin Eva, in dieser Woche als künstlerische Beraterin der Metropolitan Opera in New York tätig, möchte sich zu ihrem zukünftigen Amt, der Festspielleitung, noch nicht gratulieren lassen; zum Rücktritt ihres Vaters allerdings schon.
Anders als vom Stiftungsrat stets behauptet, haben sich im Kampf um die Nachfolge eben nicht die Konzepte, sondern die Personen durchgesetzt, sonst hätte Eva nicht so leicht zur Mitbewerberin Katharina überwechseln können. Das Konzept Evas und Katharinas soll sich vom Konzept Nikes ohnehin nur in Nuancen unterscheiden - etwa in der Frage, ob die drei Frühwerke Wagners in den Kanon aufgenommen werden oder ob der »Ring« von vier verschiedenen Regisseuren inszeniert werden soll. Je radikaler die Erneuerungen, desto unwahrscheinlicher, dass sie sich im Bayreuther Zirkus behaupten.
Längst geht es nicht mehr um Originalität. Es geht um die für Bayreuth dringend notwendige Qualitätssicherung: bessere Sänger, bessere Dirigenten, Inszenierungen, über die man wieder spricht.
Da werden sich die Wagner-Damen in den nächsten Jahren anstrengen müssen.
MORITZ VON USLAR