»Worum geht es eigentlich?«
Der Film »Rossini« sollte - so war die Absicht - nicht die Geschichte von ein oder zwei Individuen in einer sie umgebenden Gesellschaft erzählen, sondern die Geschichte einer Gesellschaft selbst, oder sagen wir bescheidener: einer Gruppe, der Gruppe von Stammgästen eines Lokals nämlich. Es war also von Anfang an klar, daß es nicht die Hauptrolle und die Nebenrollen geben durfte, sondern viele Hauptrollen (besser: große Rollen) und viele kleinere Rollen geben mußte. Wir landeten schließlich bei - je nach Gewichtung gerechnet - 7 bis 10 großen, 13 bis 17 mittleren und 10 bis 12 kleinen Rollen sowie 45 Komparsen.
Es war ferner klar, daß alle Haupt- und möglichst viele der Nebenfiguren ihre eigene, wie immer kleine, Geschichte, ihre eigene Entwicklung haben mußten, ihr Schicksal, wenn diese pompöse Bezeichnung erlaubt ist; daß also die Geschichte
der Gruppe zusammenzusetzen war aus
Patrick Süskind, 47, der mit dem Millionenerfolg »Das Parfum« berühmt wurde, veröffentlichte zuletzt »Drei Geschichten und eine Betrachtung« (1995).
den Einzelgeschichten ihrer Mitglieder. Gelobt sei die Prosa, verflucht sei der Film als erzählerisches Medium! Diese teuflische WirklichkeitsvorSPIEGELungsmaschine kennt keinen Nebensatz und kein Konditional, kein »à propos«, keine Einschübe, nicht die simpelste rhetorische Figur, keine Zeitenfolge, kein »wenn«, kein »während«, kein »sowohl als auch« - nichts als dieses primitive, undifferenzierte, grobschlächtige »Hier bin ich« des Bildes auf der Leinwand, das nichts anderes neben sich duldet und mit dessen plumper Behauptungssyntax man gezwungen ist, unter Verwendung eines unendlich schwerfälligen dramaturgischen Hebelwerks so lächerlich einfache Wörtlein auszudrücken wie beispielsweise »immer« oder »nie« oder »leider« oder »ach«!
Ach, ich weiß nicht mehr, woher wir den Mut genommen haben weiterzumachen! Mut? Es war wohl nicht Mut, der immerhin ein gewisses Maß an Zuversicht voraussetzt, es waren eher Fatalismus, der gelegentlich in sarkastischen Humor umschlug, und eine beiderseits angeborene Sturheit, die uns bei der Stange hielten. Jedenfalls beschlossen wir, unser wiederholtes Scheitern als interessante Erfahrung zu begreifen und das Projekt zu einem guten, mittelmäßigen oder meinetwegen mißratenen Ende zu führen, jedenfalls aber zu einem Ende, selbst wenn wir noch zehnmal vor einem Scherbenhaufen stehen sollten und noch zehn Jahre unseres Lebens daran- wenden müßten.
- Laß uns noch einmal am Anfang anfangen!
- Mit dem größten Vergnügen!
- Vielleicht wäre es nicht ganz verkehrt, wenn wir, ehe wir versuchten, dem Zuschauer irgend etwas unmißverständlich klarzumachen ... wenn wir ... wie soll ich sagen ...
- ... wenn wir uns selber klarmachten, was wir klarmachen wollen ... möglichst unmißverständlich.
- So ist es. Wenn wir uns die Frage stellten: Worum geht es eigentlich in dem Film »Rossini«?
- Interessante Frage nach anderthalbjähriger Arbeit an ebendiesem Film! Aber ich glaube, ich kann''s dir sagen: Es geht ...
- Nicht sagen. Aufschreiben!
- Bitte sehr, auch das ist längst geschehen. Wir haben hier in der Ablage diverse Fragmente von Synopsen, Treatments und Auflistungen von Szenenfolgen.
- Das meine ich nicht. Ich meine: in drei oder vier Sätzen sagen, wovon der Film handelt, so, als habe man ihn schon gesehen und wolle einem Dritten davon erzählen. Und das Ganze schriftlich, in möglichst einfacher Sprache.
- Sozusagen im Stil einer Fernsehprogrammzeitschrift?
- Genau so!
Kann man als Autor tiefer sinken? Wohl kaum. Da wir aber nichts mehr zu verlieren hatten, setzten wir uns hin und knobelten einige Tage lang an verschiedenen Fassungen von Kurzinhaltsangaben unseres eigenen Films herum. Das begann dann jeweils etwa folgendermaßen:
»Abend für Abend trifft sich eine Gruppe von Stammgästen im italienischen Restaurant ,Rossini'' ...«
Oder: »Eine Handvoll Gäste haben das Restaurant ,Rossini'' zu ihrer zweiten Heimat gemacht ...«
Oder: »Sie gehen nicht nur zum Essen zu ,Rossini'', sie gehen vor allem ihren erotischen und geschäftlichen Interessen nach, wenn sie sich Abend für Abend ...«
Auffallend war, daß keine einzige dieser Beschreibungen so begann, wie die diversen bisherigen Fassungen unseres Drehbuchs begonnen hatten. Im ersten Satz war nicht die Rede von dem Wirt Paolo Rossini, der es schwer mit seinen Gästen hat, oder von zwei mittellosen Schauspielerinnen, die sich um eine Rolle bewerben, oder von einer Frau, die sich nicht zwischen zwei Männern entscheiden kann, sondern ganz allgemein von den Stammgästen, von der Gruppe von Gästen oder, noch anonymer, vom Personalpronomen der dritten Person Plural sie. Mehr noch, in allen Varianten bildete dieses sie oder die Stammgäste oder die Gruppe von Gästen das grammatikalische Subjekt des ersten Satzes.
- Wieso das?
- Ganz logisch: weil es nach unserem Willen in der Hauptsache um die Stammgäste gehen soll; und weil, je simpler ein Satz konstruiert ist, desto notwendiger die Hauptsache zum Subjekt des Satzes wird.
- Warum fangen wir den Film dann nicht genau mit einem solchen simplen Satz an?
- Hingeschrieben im Vorspann?
- Nein, szenisch gezeigt im Film. Oder mit zwei Sätzen. Zwei simpelsten Hauptsätzen. Erster Satz: Hier ist das Restaurant »Rossini«. Zweiter Satz: Hier sind die Stammgäste. Der erste Satz dauert fünf Sekunden und lautet szenisch: Totale des Restaurants von außen. Der zweite dauert etwas länger, ungefähr fünf Minuten, und lautet: Restaurant innen/Nacht: Die Stammgäste sitzen da und essen und trinken und reden.
- Im Plural? Alle zusammen? Gleichzeitig?
- Ja.
- Ohne daß man sie einzeln kennt?
- Genau. Denn einzeln kennenlernen wird man sie später.
Warum ist das Einfache so schwer zu finden? Warum das Offensichtliche nur unter größten Mühen zu erkennen? Von Anfang an wußten wir, daß wir einen Film über eine Gesellschaft machen wollten; täglich haben wir es uns gegenseitig eingehämmert; jedem, der uns gefragt hätte, wovon der Film handle, hätten wir wie aus der Pistole geschossen geantwortet: von Menschen in einem Lokal. Auf die am nächsten liegende Lösung, den Film mit dem Subjekt der Handlung, eben jenen Menschen im Lokal, zu beginnen, sind wir nach anderthalb Jahren gestoßen. Dabei lagen die Vorteile einer solchen Eröffnung, wie wir nun erkannten, auf der Hand: Durch eine gemeinsame Einführung der Gäste des Lokals - die durchaus nur kursorisch, eher atmosphärisch als detailliert beschreibend zu sein hatte - war endlich der Raum geschaffen, den wir anschließend für die Einführung der diese Gruppe konstituierenden einzelnen Figuren brauchten.
Eine gewisse Durststrecke würde dann zwar immer noch zu überwinden sein, ehe sich die Strähnen zum Zopf verflochten, die Gefahr aber, daß sich die eine oder andere Figur allzusehr in den Vordergrund drängte, oder daß die eine Teilgeschichte die andere vollkommen erwürgte, war deutlich geringer geworden, denn man wüßte ja von Anfang an, oder ahnte es zumindest: Da sind andere, die ihr Wort noch zu sagen haben, da sind mehrere, die auf die eine oder andere Weise noch miteinander zu tun bekommen werden.
Zu unserer Entlastung sei gesagt, daß wir vielleicht nicht ganz von Anfang an diese Lösung hätten praktisch ausführen können, da sich die Gruppe unserer Protagonisten ja erst im Laufe der Arbeit konstituierte. Auch hat man als Autor einen oft unüberwindlichen Widerwillen gegen das Verfassen von Massen- oder Gruppenszenen. Die Hauptursache für unser Unvermögen, für dieses Mit-Blindheit-geschlagen-Sein, lag woanders:
Die Konzeption von Filmen geschieht in Gedanken, und soweit Gedanken nicht ohnehin schon den Kategorien von Sprache folgen, findet ihre erste Entäußerung unvermeidlicherweise sprachlich statt, zunächst vielleicht nur mündlich, dann aber in der geschriebenen Sprache des Drehbuchs. Wohl haben Drehbücher keinen literarischen Wert und sind stilistisch von größter Bescheidenheit, ja Banalität, müssen es sogar sein. Dennoch sind sie geschrieben.
Das entsetzlich Schwierige beim Drehbuchschreiben besteht nun darin, daß man, weil schreibend, zwar unweigerlich von der immanenten Logik der Sprache, ihrer natürlichen Selbstverständlichkeit und einer sich daraus ergebenden »allmählichen Verfertigung der Gedanken« geleitet wird, daß sich diese Gedankenverfertigung aber in den meisten Fällen als viel zu komplex und damit untauglich im Sinne der armseligen Filmsprache erweist und man gezwungen ist, unter Aufbietung aller Geisteskräfte eine Art intellektuellen Regressions- und Reduktionsprozeß herbeizuführen, um, sozusagen stammelnd, den angemessenen Ausdruck in der Primitivsyntax des Films zu finden. Film ist dumm, wie ein gescheiter Mensch einmal gesagt hat.
Das bedeutet keinesfalls, daß Film ein künstlerisch minderwertiges Ausdrucksmittel sei, und noch weniger bedeutet es, daß man sich erlauben könnte, selber dumm zu sein, um einen Film zu konzipieren. Im Gegenteil, man muß gescheit sein, so gescheit und intelligent und raffiniert wie nur irgend möglich, um in der dummen und dabei so unvergleichlich einleuchtenden Sprache des Films eine Geschichte erzählen zu können.
Vielleicht liegt hierin der Grund dafür, daß der aktive Gebrauch dieser Sprache kaum zu erlernen und nie wirklich zu beherrschen ist, sondern immer wieder neu gesucht und gefunden werden muß. Der Mensch ist ein Wortwesen. Selbst der moderne Mensch, ja sogar der Analphabet, denkt und kommuniziert mit Hilfe der Wörtersprache oder einem der Wörtersprache analogen Ausdruckssystem. Für Bilder besitzt er nur ein rezeptives, kein produktives Organ, und für eine so komplizierte Angelegenheit wie das Erzählen einer Geschichte in der Sprache der Bilder ist sein Gehirn einfach nicht simpel genug strukturiert.
Patrick Süskind, 47, der mit dem Millionenerfolg »Das Parfum"berühmt wurde, veröffentlichte zuletzt »Drei Geschichten und eineBetrachtung« (1995).* Joachim Król mit Martina Gedeck als Kellnerin.