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Artikel 58 / 81

WOZU HEUTE NOCH PHILOSOPHIE?

aus DER SPIEGEL 43/1969

SPIEGEL: Herr Professor Löwith, in der vergangenen Woche beschäftigte sich der IX. Deutsche Kongreß für Philosophie in Düsseldorf in einer Fülle von Veranstaltungen mit dem Thema »Philosophie und Wissenschaft«. Philosophie wird in der Bundesrepublik, von der Öffentlichkeit wenig bemerkt, fast ausschließlich an den Universitäten betrieben -- dort aber gleich auf 82 Lehrstühlen gelehrt. Wozu, so kann man sich fragen, wird ein derart großer Aufwand mit der Philosophie getrieben?

LÖWITH: Ich finde den großen Aufwand auch lächerlich; man hat die Möglichkeiten und die Apparate und nutzt sie aus. Aber diese Betriebsamkeit spricht weder für noch gegen die Philosophie. Das Thema dieses Kongresses, das Mißverhältnis von Philosophie und Wissenschaft, war sogar außerordentlich sinnvoll.

SPIEGEL: Der Vorstand der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland hat von einer »Entfremdung zwischen der Philosophie und den positiven Wissenschaften« und von einer »fragwürdigen und gefährdeten Stellung der Philosophie« gesprochen.

LÖWITH: Das ist faktisch so und liegt einfach daran, daß schon seit mindestens 50 Jahren diejenigen, die Philosophie unterrichten, selbst wenn sie begabt und noch so fleißig sind, den ununterbrochen sich erneuernden Forschungsergebnissen nicht mehr folgen können.

SPIEGEL: Sie selbst haben andererseits auch hervorgehoben, daß die »produktiven Antriebe alles gegen-

* Mit SPIEGEL-Redakteuren Dieter Brumm, Dr. Helmut Gumnior und SPIEGEL-Stenograph Heinz Daenicke (l.).

wärtigen Denkens schon seit hundert Jahren nicht mehr der Philosophie entspringen, sondern den großen wissenschaftlichen Entdeckungen zu verdanken sind«. Da taucht doch die Schwierigkeit auf, daß die Philosophie auf Entdeckungen angewiesen ist, die sie gleichwohl nicht verarbeiten kann.

LÖWITH: Das ist höchst bedauerlich. Epochale Entdeckungen wie die von Darwin, Marx, Freud und Einstein sind in ihren Konsequenzen heute von einem durchschnittlichen Studenten oder auch Dozenten der Philosophie nicht einmal dann beherrschbar, wenn er sich dafür interessieren würde.

SPIEGEL: Was bleibt dann aber für die Philosophie zu tun übrig? Soll sie nur noch einen Generalaspekt geben -- in der Gefahr, das Ganze in einer falschen Perspektive zu sehen?

LÖWITH: Das ist in der Tat die Schwierigkeit. Um sie von den hochspezialisierten Wissenschaften grob zu unterscheiden, kann man sagen, daß die Philosophie ganz gleich, ob im traditionellen Sinn Metaphysik oder das, was sich Heidegger darunter vorstellt -- in der Tat nur möglich ist, wenn sie sich um das »Ganze« kümmert. Das Ganze war traditionellerweise nicht einfach der Mensch, sondern bis hin zu Hegel eine Dreiheit. Gott, Mensch (Seele) und Welt. Heute hat sich dieses Ganze, meiner Ansicht nach mit Recht, durch die Kritik der Onto-Theologie reduziert auf Mensch und Welt. Welt kann dabei aber nicht nur verstanden werden in der Beschränkung auf die Menschenwelt, sondern Welt heißt Universum, das wirkliche physische Weltall.

SPIEGEL: Aber wer könnte es heute wagen, Aussagen über das Universum zu machen?

LÖWITH: Dazu möchte man wissen, was in der Physik, Astronomie, Weltraumforschung und dergleichen vor sich geht. Ich kenne unter sämtlichen Philosophen, die zu meiner Zeit noch gelebt haben, einen einzigen, der kompetent war, weil er zugleich ein bedeutender Mathematiker und Physiker war, ein Mitarbeiter von Bertrand Russel: nämlich Alfred Whitehead. Whitehead konnte es noch riskieren, in seinem großen Werk eine Kosmologie zu entwickeln, die nicht einfach in der Luft schwebt, sondern exakte Kenntnisse in der Physik und Mathematik zur Voraussetzung hat. Die deutschen Philosophen dagegen, Fichte, Schelling, Hegel, hatten keine produktive Berührung mehr mit den Fachwissenschaften.

SPIEGEL: Würden Sie dann sagen, daß von den gegenwärtigen Richtungen der Philosophie in Deutschland nur diejenigen an der Zeit sind, die sich besonders mit den Naturwissenschaften beschäftigen und von daher auch ihre Methoden nehmen wollen -- also etwa der Positivismus oder der Neopositivismus?

LÖWITH: Soweit ich die Dinge übersehe, möchte ich bezweifeln, daß die Positivisten oder Neopositivisten in den Naturwissenschaften wirklich mitreden können.

SPIEGEL: Muß man sich angesichts all dieser Schwierigkeiten dann aber nicht der Frage stellen: Wozu heute noch Philosophie?

LÖWITH: Darauf kann ich nur mit zwei Beispielen antworten: Die zwei philosophischen Werke, die vor mehr als 40 Jahren Aufsehen erregt und mit Recht viele junge Menschen angesprochen haben, das waren Heideggers »Sein und Zeit«, 1927, und die bald darauf erschienene dreibändige »Philosophie« von Karl Jaspers. Jaspers hatte fachliche Kenntnisse der Psychiatrie; er lehnte es ausdrücklich ab, daß Philosophie mit beweisbaren oder widerlegbaren Dingen zu tun habe. Sie wird zu einem vagen Lesen von Chiffren der Transzendenz. Das hat uns zwar damals in gewisser Weise auch beeindruckt. Aber heute sehe ich es in der Tat als außerordentlich unbefriedigend und unverbindlich an.

SPIEGEL: Würden Sie das gleiche von Heidegger auch sagen?

LÖWITH: Nein, denn Heidegger fragt unentwegt nach der Wahrheit des Seins im Ganzen. Zur Vorbereitung dieser Seinsfrage analysiert er mit großer Energie das menschliche Dasein, und diese Analyse hatte kraft ihrer zeitgeschichtlichen Bedingtheit eine außerordentliche Wirkung.

SPIEGEL: Sie meinen also, daß Jaspers und Heidegger die Philosophie noch einmal gerettet haben?

LÖWITH: Das wäre zuviel gesagt, aber Sie sehen an diesen zwei Beispielen, und bei Heidegger sehr viel eindringlicher als bei Jaspers, daß es offenbar auch heute noch möglich ist, unter Abstraktion von den Ergebnissen fachwisserschaftlicher Forschung über das Ganze des Seins nachzudenken. Dennoch würde ich nicht zurücknehmen, was ich vorhin gesagt habe: daß es außerordentlich prekär ist, wenn die Ergebnisse der Fachwissenschaft dabei in keiner Weise eingearbeitet sind. Heidegger hatte damals weder eine Zeile von Marx gelesen, noch interessierte er sich für Darwin und für Freud. Aber trotz dieser fundamentalen Mängel kann ein bedeutender spekulativer Denker heute noch konkrete Analysen geben, die von seinem prinzipiellen Anliegen relativ unabhängig sind.

SPIEGEL: Sie selbst aber sind auch skeptisch dem Fortschritt der Wissenschaften gegenüber. Sie haben vor dem Vertrauen gewarnt, das von der modernen Wissenschaft in den Fortschritt gesetzt wird.

LÖWITH: Ich bezweifle nicht, daß ein evidenter, unwiderleglicher Fortschritt in den Naturwissenschaften gemacht worden ist, der alle Verhältnisse des gesellschaftlichen und politischen Lebens unserer Zeit mitbestimmt. Ich frage mich nur in bezug auf all diese Fortschritte im Plural, ob sie heute noch den Optimismus motivieren können, eine fortschreitende Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens hervorzubringen. Denn ich behaupte, daß heute selbst für die maßgebenden Leute, die diesen Fortschritt in den Naturwissenschaften befördern, der Fortschritt zum Fatalismus geworden ist. Man kann ihn nicht mehr aufhalten; die Entwicklung der wissenschaftlichen Technik ist irreversibel.

SPIEGEL: Sie meinen, Fortschritt sei heute schon zum Selbstzweck geworden?

LÖWITH: Ich frage mich, ob vielleicht im ganzen Verhältnis des Menschen zur Welt etwas nicht mehr stimmt, wenn man glaubt, sie auf diese Weise immer mehr beherrschen zu müssen und beherrschen zu können. Es ist mir zweifelhaft, ob der Mensch wirklich alles machen soll, was er de facto machen kann. Es gibt ja für uns keine Instanzen mehr, weder religiöse noch moralische, die uns Einhalt gebieten könnten.

SPIEGEL: Würden Sie der Philosophie eine solche Instanz zubilligen?

LÖWITH: An sich wäre es eine legitime Aufgabe der Philosophie, so wie es in früheren Jahrhunderten eine legitime Aufgabe der Religion und der Kirche war, in allen solchen Fragen Maßstäbe und Grenzen der Verantwortung zu setzen. Wenn man aber nicht weiß oder sich nicht zutraut, behaupten zu können, welches die oberste Instanz ist, und das kann heute niemand, dann wird diese an sich legitime Aufgabe unerfüllbar.

SPIEGEL: Bezieht sich Ihre Skepsis nicht nur auf die deutsche Situation? In Frankreich zum Beispiel haben die Philosophen ein ganz anderes Gewicht als bei uns in Deutschland.

LÖWITH: Die akademische Isolierung der deutschen Philosophie war immer auffallend groß. In Frankreich dagegen hatte die Philosophie schon immer eine viel nähere Verbindung zur Literatur und den sozialen und politischen Problemen. Und dazu kommt, daß in Frankreich der Marxismus, ganz gleich, in welcher Variante, eine ungleich größere Rolle gespielt hat als bei uns, wo nach Kriegsende der Marxismus zunächst der Ostzone überlassen wurde.

SPIEGEL: Sie haben aber selbst gesagt, daß der »Marxist im Sinne von Marx nicht zugleich Philosoph sein kann«.

LÖWITH: Ja, das würde ich trotzdem aufrechterhalten. Ebenso wie viele französische sind auch unsere Intellektuellen, die heute eine gewisse Rolle spielen, so das Frankfurter Institut, Horkheimer, Adorno und vor allem der außerordentlich kluge und verantwortungsvolle Habermas, durch Marx und den Marxismus geprägt. Das ist ein Novum. Marxismus aber, wie ihn Marx selber verstand, ist faktisch mit Philosophie in dem vorhin besprochenen Sinn unvereinbar. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil schon der junge Marx klipp und klar erklärt hat, daß es nach der Vollendung der deutschen spekulativen Philosophie darauf ankomme, die Philosophie als solche aufzuheben und sie in der sozialen Praxis zu verwirklichen und damit die Welt zur Vernunft zu bringen. Wenn man dieses Programm ernstnimmt, dann hat man damit die Philosophie als solche abgeschafft, und an ihre Stelle tritt eben das, was sich nunmehr Marxismus nennt.

SPIEGEL: Aber viele Marxisten betrachten sich dennoch als Philosophen -- sogar in Rußland.

LÖWITH: Ein Marxist, der sich selber versteht, kann keine Philosophie neben sich dulden. Wenn in den kommunistischen Ländern wie Jugoslawien und der Tschechoslowakei an den Universitäten noch Philosophie unterrichtet wird, dann ist das nur eine Konzession an den überlieferten Betrieb: Man unterrichtet eben in marxistischer Orientierung noch immer Geschichte der Philosophie.

SPIEGEL: Soll das heißen, daß Habermas, Horkheimer, Adorno entweder keine Marxisten sind oder keine Philosophen?

LÖWITH: Adorno ist ein besonderer Fall, weil er ein hochgebildeter, philosophisch informierter Mann gewesen ist, der sich auf Theorie beschränken wollte; aber der eigentliche Kern und das Motiv seiner philosophischen Schriften ist doch der Versuch, auf eine sublimierte, mehr oder minder raffinierte Art die revolutionäre Tendenz von Marx in die Philosophie hineinzubringen: durch eine radikale Kritik alles Bestehenden.

SPIEGEL: Und wie ist es bei Habermas?

LÖWITH: Habermas hat mir einmal erklärt, und das hat mich beeindruckt, daß für ihn die Frühschriften von Marx ungleich wichtiger geworden seien als Nietzsche. Das ist ein Generationsunterschied. Mag sein, daß für die jungen Leute heute das ganze Pathos und der Jugendstil von Nietzsches Zarathustra unerträglich geworden sind. Ich habe mich daran nicht gestoßen und habe ebenso wie später Heidegger immer Nietzsche für den letzten großen deutschen Philosophen gehalten.

SPIEGEL: Herr Professor Löwith, Sie sind in gewisser Weise zugleich Schüler und Zeitgenosse Heideggers; das gleiche gilt ja für Herbert Marcuse, dessen Gesellschaftskritik Sie einen »utopischen Marxismus« genannt haben. Wenn Sie nun sagen, daß die junge Generation sich mehr als die Ihre auf Marx zurückbesinnt und wenn Sie weiter sagen, daß dies Ernstnehmen von Marx eigentlich die Zerstörung der Philosophie bedeutet, bestreiten Sie dann nicht einer ganzen Generation junger Philosophen, Philosophen zu sein?

LÖWITH: Ja, das tue ich in der Tat, denn wer die Welt auf die sozialpolitische Praxis der geschichtlichen Menschenwelt reduziert, hat damit aufgehört, sich noch auf das Ganze dessen, was ist, zu besinnen. Als Ende der zwanziger Jahre zum erstenmal die Texte des jungen Marx veröffentlicht wurden, also die Kritik der Hegelschen Philosophie, da haben sie auf mich sofort einen außerordentlich starken Eindruck gemacht. Marx« Kritik der traditionellen Philosophie wurde mir außerordentlich wichtig. Marcuse, den ich schon damals kannte, war darin mit mir einig. Aber andererseits hat mein Interesse an Marx nie dazu geführt, daß ich mich politisch engagiert hätte -- auch wenn ich, im Unterschied zu Adorno, an einem so klugen Mann wie Marcuse begrüße, daß er in so offener Weise eine politisch relevante Position bezogen hat.

SPIEGEL: Dennoch befürworten Sie theoretisch das Engagement des Philosophen. Sehen Sie die Aufgabe der Philosophie darin, auf eine Veränderung der Gesellschaft hinzuwirken?

LÖWITH: Ich kann mir überhaupt keine Philosophie im eigentlichen Sinn vorstellen, die die Tendenz oder auch die faktische Möglichkeit haben könnte, in der heutigen Gesellschaft oder in irgendeiner Gesellschaft -- sonst unmittelbar effektiv zu sein. Nach meiner altmodischen Auffassung ist sie eine Angelegenheit für wenige, einzelne. Wenn sie ernst betrieben wird, verlangt sie eine Konzentration auf das Wesentliche, die den Seitenblick auf unmittelbare zeitgenössische Wirksamkeit ausschließt. Mittelbar kann sie sehr wohl wirken.

SPIEGEL: Dann wäre es doch nur konsequent, die Philosophie von der Universität verschwinden zu lassen, so wie jetzt auch das Philosophikum verschwindet.

LÖWITH: Das habe ich begrüßt -- alle vernünftigen Leute haben das begrüßt. Denn warum soll man, um einen vollen Hörsaal zu haben, mit Leuten rechnen, die wegen eines Examens kommen? Auch gegen die Ausklammerung der Philosophie aus der sogenannten Philosophischen Fakultät, in der sie ohnedies eine dubiose Rolle spielt, hätte ich nichts. Die ganze Fakultät nennt sich zwar philosophisch, aber die Philosophie gibt es eigentlich nicht mehr. Ich sage das nicht, weil ich heute emeritiert und nicht mehr unmittelbar beteiligt bin, sondern weil das Faktum, wie wir es in Deutschland um 1800 herum gehabt haben, daß nämlich sehr bedeutende Philosophen europäischen Rangs wie Kant, Fichte, Schelling und Hegel zugleich Universitätslehrer und Universitätsbeamte waren, nur eine unwahrscheinliche Ausnahme gewesen ist. Fast alle anderen bedeutenden Philosophen, die man aus der Geschichte der Philosophie kennt -- F. Bacon, Descartes, Hobbes, Spinoza, Leibniz, Locke, Hume -- waren keine Universitätslehrer.

SPIEGEL: Sie haben den Deutschen vorgehalten, »in besonderer Weise für Pathos und Führung empfänglich und unempfänglich für nüchterne Skepsis, geistigen Leicht-Sinn und common sense« zu sein. Zeigt sich das auch bei den deutschen Philosophen?

LÖWITH: Zum Glück heute etwas weniger als zu meiner Jugend, als noch der Kreis um Stefan George florierte, als man Heideggers »Sein und Zeit« las und Jaspers« »Existenzerhellung«. Und ich glaube, in keinem anderen Land wäre es möglich gewesen, aus der Verehrung für Dichter wie Hölderlin und Rilke eine Art Heiligenkult zu machen. Heute hat die Wiener und die Oxforder Schule nachträglich auch bei uns eine große Ernüchterung gebracht; ich kenne eine ganze Reihe jüngerer Leute, die von diesen sprachkritischen Studien sehr beeindruckt sind. Aber auch die vielen Erörterungen über Gesellschaftstheorie sind ja an sich sehr nüchterne Angelegenheiten. Was ich erschreckend finde, ist, da trotz dieser Ernüchterung unter den führenden Leuten der außerparlamentarischen Opposition. den SDS-Studenten etwa, mit einem doktrinären und dogmatischen Pathos Reden gehalten werden, wie ich sie aus der Nazi-Zeit kannte.

SPIEGEL: Sie vergleichen das nur vom Pathos, nicht vom Inhalt her?

LÖWITH: Mein eigentliches Interesse war immer ein kritisches, in der Linie des jungen Heidegger: »Destruktion« einer nicht mehr lebendigen Überlieferung, ein Abbau auf Fundamente hin. Und dazu gehört der Abbau der christlich-theologischen Überlieferung innerhalb der Metaphysik, ebenso wie der Zweifel an Heideggers Interpretation der Technik, von der er sagt, sie sei nicht etwas bloß von Menschen Gemachtes, sondern ein Geschick des Seins. Ich habe nicht die geringste Erfahrung von diesem Seins-Geschick. dagegen habe ich sehr wohl eine Erfahrung vom Fortschritt der wissenschaftlichen Technik als einem phantastischen Unternehmen der Menschheit in einer Richtung, die schon Max Weber aufs deutlichste aufgezeigt hat: in der Richtung auf eine universale Rationalisierung sämtlicher menschlichen Verhältnisse einschließlich der sozialen und politischen.

SPIEGEL: Kann eine der gegenwärtigen Richtungen in der Philosophie vor Ihrer Kritik bestehen?

LÖWITH: Ich halte die sprachkritischen Arbeiten für philosophisch wichtiger als die Gesellschaftstheorie. Wenn Sprachkritik vernünftig und ohne den übertriebenen Anspruch gemacht wird, zu dekretieren. was sinnvolle und sinnlose Fragen sind, wenn sie philologisch und semantisch kritisch arbeitet, dann kann sie eine außerordentlich fruchtbare und sinnvolle Funktion haben. Deshalb befinde ich mich völlig außerhalb des Horizonts und der Dimension von Heideggers Denken, wenn er behauptet, daß die Sprache nicht nur eine Behausung des Menschen ist, sondern das »Haus des Seins«.

SPIEGEL: Damit bleibt die Philosophie dann aber doch im Wissenschaftsbereich; halten Sie ein Hinausschreiten in soziale oder politische Praxis für unmöglich?

LÖWITH: Die soziale und politische Praxis enthält Theorie -- heute zum Beispiel marxistische oder antimarxistische -- und also Sprache. Eine Aufgabe sprachkritischer Philosophie könnte es sein, auch in diesem Bereich die Zweideutigkeit, Vieldeutigkeit und oft Sinnlosigkeit des gebrauchten Vokabulars und Jargons in Frage zu stellen.

SPIEGEL: Wäre es also eine Aufgabe von Philosophen, die Sprache im politischen Bereich zu analysieren, um von daher Kritik an der Politik zu üben?

LÖWITH: Gewiß, sogar in erster Linie. Wenn ich in den letzten Jahren alle diese Manifeste und Diskussionen unserer linksradikalen Studenten mit ihrem sozialistischen und marxistischen Vokabular hörte, war es für mich erschreckend, daß junge Menschen, die immerhin doch studieren und etwas lernen wollen, mit einer derart dogmatischen Unverfrorenheit ununterbrochen ein Vokabular verwenden, das zum Teil von Marx abstammt, zum Teil von heutigen Soziologien marxistischer Orientierung, deren Worte wie: spätkapitalistisch, repressiv, progressiv, manipuliert und so weiter völlig ungeprüft sind.

SPIEGEL: Wenn der Philosoph Sprachkritik treibt und auch die zeitgenössische politische Sprache analysiert, haben wir dann nicht den Berührungspunkt zwischen Philosophie und Gesellschaft?

LÖWITH: Zumindest ist es die Stelle, an der sie sich heute am ehesten berühren. Aber ich befürchte, wir sind uns nicht einig in dem, was Sie Philosophie und Gegenwart nennen. Diese ist nicht von heute, sondern von weit her. Und die Philosophie lebt seit jeher in und von der Sprache. Deshalb interessiert mich die sprachanalytische Schule.

SPIEGEL: Will der Philosoph, der die politische Sprache analysiert, nun doch unmittelbar auf politische und gesellschaftliche Praxis einwirken -- zum Beispiel, indem er den Sprachgebrauch des SDS bekämpft?

LÖWITH: Unmittelbar kann er es nicht, selbst wenn er es wollte. Die Sprache der Politik und der Gesellschaftswissenschaft ist wahrhaft kritisch nur der philosophischen Reflexion zugänglich, und wenn Soziologen und Politologen es selber versuchen, dann reflektieren sie eben auf ihr eigenes Geschäft, aber ohne ihre Voraussetzung: daß der Mensch seinem Wesen nach ein gesellschaftliches Gattungswesen ist, in Frage zu stellen. Die Reflexion der reflektierten Soziologen begrenzt sich an der Besessenheit von einem Willen zur Veränderung, den sie sich als soziale Pflicht moralisch auferlegen.

SPIEGEL: Dann würden Sie sagen, daß die Sprachkritik den endgültigen Abgesang auf die Metaphysik anstimmt?

LÖWITH: Sie ist in der Tat eine Art Abgesang auf die Metaphysik. Darin steckt ein positives und fruchtbares Moment, aber man darf sich nicht einbilden, daß man auf dieser Ebene die Philosophie in ihren klassischen metaphysischen Problemen wiederherstellen könnte. Man besinnt sich nur mit Recht auf das universelle Instrument alles Denkens.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß die Philosophie mit ihren klassischen Problemen überhaupt wiederherstellbar ist?

LÖWITH: Nein. Die klassischen Probleme Gott-Mensch(Seele)-Welt: Von der Seele mag sowieso niemand mehr sprechen, weil man nicht weiß, ob man überhaupt eine hat. Von Gott trauen sich nicht einmal mehr die Theologen zu reden. Und von der Welt der Natur könnte man zwar durchaus sinnvoll sprechen, aber, wie gesagt, nur dann in einer nicht dilettantischen oder halb mythischen oder halb dichterischen Weise, wenn man in der Naturwissenschaft die nötigen Kenntnisse hat.

SPIEGEL: Herr Professor Löwith, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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