Medizin Wundersames Wachstum
Die Ärzte hatten eben begonnen, die Kinderlähmung mit dem ersten brauchbaren Impfstoff auszurotten. Da, im Jahre 1955, wurden in Kalifornien 150 Geimpfte gelähmt -- sie erkrankten an Polio, weil der Impfstoff fehlerhaft gewesen war.
Während noch die Gerichte über diesen Schadensfall verhandelten, entdeckten Wissenschaftler, daß Zellen von Affennieren, auf denen Impfviren gezüchtet werden, manchmal mit Erregern einer tödlichen Hirnerkrankung verseucht sind. Und 1960 wurde bekannt, daß Viren vom Typ SV 40, die gleichfalls in Affennieren vorkommen, mitunter bei neugeborenen Tieren Krebs erzeugen.
1967 schließlich erkrankten Angestellte der Marburger Behringwerke und des Frankfurter Paul-Ehrlich-Instituts -sieben Menschen starben -, nachdem eine Hundertschaft Grüner Meerkatzen, aus Uganda importiert, einen bis dahin unbekannten Krankheitserreger eingeschleppt hatte.
Solche Katastrophen und Risiken sollen nun verhütet werden. Pharmafirmen in aller Welt, darunter die Behringwerke, rüsten sich derzeit, Impfstoffe von stets gleichbleibender Qualität und bislang unerreichbarer Sicherheit zu liefern: Statt auf Körpergewebe von Affen oder in angebrüteten Hühnereiern sollen die immunisierenden Viren auf Zellen vom Menschen gezüchtet werden.
Entdeckt wurde diese Möglichkeit von dem Mikrobiologen Leonard Hayflick, 42, Professor an der kalifornischen Stanford University.
Hayflick hat mit menschlichem Gewebe schon seit anderthalb Jahrzehnten experimentiert. Zusammen mit Kollegen bewies er, daß isolierte menschliche Zellen sich über 50 Generationen vermehren können. Und 1962 fand er im Wistar-Institut von Philadelphia (in dem auch der berühmteste Ratten-Stamm für Tierversuche gezüchtet wurde) den idealen Nährboden für Viren -- Lungenzellen eines weiblichen Embryos, den eine Schwedin hatte abtreiben lassen.
Dieser Zelltyp, WI-38 genannt, ließ sich leichter mit Krankheitskeimen infizieren als jede andere Kultur. So wurden damit in kurzer Zeit allein rund 50 verschiedene Schnupfen-Viren identifiziert.
Mittlerweile haben sich etwa 1000 Laboratorien in aller Welt mit dem Zellstamm WI-38 beschäftigt, durchweg mit positiven Ergebnissen. Impfstoffe, mit Hilfe der menschlichen Zellkulturen hergestellt, wurden beispielsweise von jugoslawischen, sowjetischen und amerikanischen Ärzten schon erprobt -- gegen Polio. Masern und Erkältungskrankheiten. Hayflick selbst verabfolgte seinen fünf Kindern eine WI-38-Schluckimpfung gegen Kinderlähmung.
Die Vorteile des WI-38-Stammes, so erklärt Hayflick, sind vor allem,
* daß die Impfstoffe standardisiert und schwere Nebenwirkungen nahezu ausgeschlossen sind;
* daß Impfviren gegen Krankheiten gezüchtet werden können, gegen die es bislang keinen Immunschutz gibt;
* daß Impfstoffe wirtschaftlicher als bisher zu produzieren sind und das Affen-Schlachten aufhört.
Vor wenigen Monaten beantragte der US-Pharmakonzern Pfizer erstmals eine Produktionserlaubnis für einen WI-38-Impfstoff (gegen Polio). Auch andere Pharma-Firmen, in den USA wie in Europa, warten nur noch darauf, daß solche Impfstoffe für den Arzneimittelmarkt freigegeben werden.
Zuchtmaterial für die Großproduktion wäre hinlänglich vorhanden. Der Großteil des embryonalen Lungengewebes vom Typ WI-38, erläutert Hayflick, lagert noch tiefgefroren in flüssigem Stickstoff -- mit der gespeicherten Fähigkeit zu wundersamem Wachstum.
Da die Zellen sich bei der Kultivierung in jeder Generation verdoppeln. würde sich schon nach zehn Teilungen ihre Zahl vertausendfacht haben.
Mithin ließen sich, bei 50 Zellgenerationen, aus jeder WI-38-Kultur -- zumindest rechnerisch -- 20 Millionen Tonnen Zellen erzeugen: genug, um die ganze Menschheit zwei Jahrzehnte lang mit Impfstoffen aller Art zu versorgen.