GEHORSAM »X X X«
Zwei Durchschnittsamerikaner hatten
sich für das Experiment zur Verfügung gestellt: ein Geschäftsmann und ein Buchhalter. Von Wissenschaftlern erfuhren sie, der Versuch solle die Frage klären, inwieweit sich die Gedächtnisleistung eines Erwachsenen durch körperliche Züchtigung beeinflussen lasse.
Das Los entschied, daß der Geschäftsmann ("lächelnd und selbstsicher") die Rolle des bestrafenden »Lehrers«, der Buchhalter ("gutmütig und liebenswürdig") die Rolle des zu bestrafenden »Lerners« zu spielen habe. Der Geschäftsmann wurde an ein Schaltpult gesetzt, der Buchhalter - im Nebenraum hinter verschlossener Tür - auf einen Elektrischen Stuhl: Für jeden Fehler, der dem »Lerner« bei einem Gedächtnistest unterlief, mußte ihm der »Lehrer« einen Elektroschock verabreichen.
Der »Lehrer« sah, wie der »Lerner« auf dem Elektrischen Stuhl festgeschnallt und seine Handgelenke »zur Verhütung von Blasen und Brandwunden« mit Salbe eingerieben wurden. Ein Wissenschaftler erläuterte: »Die Schocks können zwar sehr schmerzhaft sein, aber sie verursachen keine dauernden Gewebeschäden.«
Als der Buchhalter den ersten Fehler machte, legte der Geschäftsmann auf Geheiß des wissenschaftlichen Kontrolleurs den ersten von insgesamt 30 Schalthebeln um: »15 Volt«. Beim zweiten Fehler betätigte er den zweiten Hebel: »30 Volt«. Beim dritten Fehler drückte er »45 Volt«.
Als er den 20. Hebel betätigte ("300 Volt"), vernahm er, wie der Buchhalter
im Nebenzimmer gegen die Wand trommelte. Beim 21. Hebel wiederholte sich das unheilkündende Geräusch. Dann wurde es im Nebenzimmer still. Nervosität befiel den Geschäftsmann. Er zupfte am Ohrläppchen, verschränkte seine Hände, schlug sich schließlich mit der Faust an die Stirn und murmelte: »0 Gott, laß uns aufhören.«
Aber er schockte weiter. Jetzt bediente er die Hebel mit der Aufschrift »Gefahr: Schwerste Schocks« für 375, 390, 405 und 420 Volt, schließlich auch die letzten Hebel für 435 und 450 Volt, die nur noch mit »X X X« gekennzeichnet waren.
Er tat es, weil es ihm ein Mann im
grauen Staubmantel mit »strengem Gesichtsausdruck«, der Wissenschaftler, befahl. Psychologen der Yale-Universität hatten eigens einen Kontrolleur mit finsterer Miene abgestellt. Er sollte helfen, den Geschäftsmann zu düpieren: Das Experiment diente keineswegs dazu, die Beziehungen zwischen Gedächtnisleistung und Bestrafung zu ermitteln. Es sollte vielmehr zeigen, unter welchen Umständen normale Bürger bereit sind, »blind zu gehorchen«.
Das tat der Geschäftsmann. Freilich verwandelte er sich während des Experiments, wie es in dem wissenschaftlichen Bericht heißt, innerhalb von 20 Minuten »in ein zitterndes, stotterndes Wrack« und »näherte sich rapide dem Zustand eines Nervenschocks«. Sein Opfer saß derweil ungeplagt im Zimmer nebenan; Schaltpult und Elektrischer Stuhl waren gar nicht miteinander verbunden. Der Buchhalter, von Psychologen eingeweiht, spielte lediglich den Gemarterten. Die Losziehung war manipuliert worden.
Im Oktober-Heft des »Journal of Abnormal and Social Psychology« erläuterte der Yale-Psychologe Dr. Stanley Milgram den Sinn des Versuches. Er sollte den Wissenschaftlern Aufschluß geben, wie viele Bürger bereit sind, bedingungslos zu gehorchen, auch wenn sie wissen,
- daß die Ausführung des ihnen erteilten Befehls einem anderen Menschen körperliche Schmerzen zufügt und
- daß die Ausführung des Befehls im Grunde nicht erzwungen werden kann.
39mal wiederholten die Forscher das Experiment. Sie setzten Hilfsarbeiter, Angestellte, Kaufleute und Akademiker vor das Schaltpult. Das Resultat: Nur 14 von 40 Amerikanern widersetzten sich den Schalt-Befehlen des streng dreinblickenden Wissenschaftlers und brachen den Test vorzeitig ab. Einer von ihnen: »Nein, ich will nicht weitermachen. Das ist Wahnsinn.«
Die übrigen 26 führten die Prozedur zu Ende. Einige widerstrebend wie der Geschäftsmann, andere freilich »blieben während des ganzen Experiments ruhig und zeigten von Anfang bis Ende nur geringe Anzeichen nervöser Spannung«. Der hohe Anteil (65 Prozent) von Befehlsvollstreckern, der auch in einer zweiten Testserie mit Studenten erreicht würde, »überraschte« die professionellen Seelenkenner von Yale. Sie hatten erwartet, daß höchstens drei von hundert Amerikanern die zwei »X X X« -Schalter noch betätigen würden.
Psychologe Milgram wies auf mildernde Umstände hin, die wenigstens zum Teil erklären könnten, warum die
Testpersonen - obwohl sie »oft gegen ihre innere Einstellung handelten« - so gründlich gehorchten:
- Das Experiment wurde von einer Institution mit »unantastbarem Ruf« (Milgram) unternommen, der Yale -Universität.
- Das Experiment diente scheinbar
einer »guten Sache«, der Forschung.
- Die Versuchspersonen mußten glauben, daß ihnen auch die Rolle des Opfers durch das Los hätte zufallen können.
Allerdings: Bei seinen letzten Versuchsreihen - deren Ergebnisse bislang noch nicht veröffentlicht wurden - mußte Milgram erkennen, daß, auch außerhalb der angesehenen Yale-Universität amerikanische Bürger gern gehorchen. In Experimenten, die der Forscher andernorts vornahm (ohne sich als Yale-Mann zu identifizieren), drückte noch jeder zweite US-Bürger auf den letzten Schalter.