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CONVAIR-ABSTURZ Zangen und Zeugen

aus DER SPIEGEL 45/1966

Elf Männer standen am Donnerstag L letzter Woche auf dem sorgfältig gebohnerten Parkett im Festsaal des Bremer Rathauses und lauschten. Flugmotorengebrumm dröhnte vom Tonband aus einem Lautsprecher, ebbte ab und schwoll wieder an.

Geräuschspenderin war eine zweimotorige Lufthansa-Maschine vom Typ Convair 440. Ein Flugzeug gleichen Typs, Lufthansa-Flug 005, war am 28. Januar dieses Jahres nach einem abgebrochenen Landeversuch nahe dem Flughafen Bremen abgestürzt. Sämtliche 46 Personen an Bord hatten den Tod gefunden.

Das Tonband-Brummen gehörte zur Beweisaufnahme durch eine Untersuchungskommission, die den Hergang des Unglücks klären soll. Zum erstenmal wurde in Deutschland eine Flugunfall-Untersuchung öffentlich abgehalten. Sie galt dem rätselhaftesten Absturz, dem je eine Maschine dieses Typs zum Opfer fiel.

Ex-Flugkapitän Max Brandenburg, der unter Einsatz von elf Fachgruppen für das Luftfahrt-Bundesamt die Voruntersuchung dieses ersten Lufthansa -Absturzes auf dem innerdeutschen Streckennetz leitete, durchforschte das Untersuchungsmaterial sämtlicher 16 voraufgegangenen Abstürze gleicher Maschinen in aller Welt. Er fand keine Parallele. Fazit seines 40-Seiten-Berichts: Nach normalem Funkkontakt, bei dem nichts auf irgendwelche Schwierigkeiten hindeutete, muß das Flugzeug im Anschluß an den abgebrochenen Landeversuch beim Steigflug »in einen überzogenen Flugzustand geraten sein«, der zum Absturz führte.

Durch einen mysteriösen Fund unter den ausgeglühten Flugzeugfetzen war das rätselhafte Unglück, bei dem auch die deutsche Schauspielerin Ada Tschechowa und sieben italienische Wettkampfschwimmer starben, nur noch geheimnisvoller geworden: In der linken Hand des Kopiloten fand sich eine angerostete Kombizange, zwei weitere Zangen lagen nahebei.

»Kampf zwischen Fluggast und Piloten?« fragte darauf die »Süddeutsche Zeitung«, ausgehend von der Vermutung, der Kopilot könne die Zange als Waffe gegen einen Angreifer verwendet haben. Die »Frankfurter Rundschau« mutmaßte, der Kopilot habe mit der Zange »in letzter Minute noch einen technischen Schaden« beheben wollen, obwohl sie nachweislich nicht zum Standard-Bordwerkzeug gehörte.

Die vier Experten der Bremer Untersuchungskommission, unter dem Vorsitz des Ministerialdirigenten und Freiballonfahrers Dr. Heinrich von Spreckelsen vom Bundesjustizministerium, mühten sich, Licht auch in dieses Gewebe aus Spekulationen und Teilbeobachtungen zu bringen. Doch als letzte Woche im Bremer Rathaus die einschlägigen Zeugen - Kriminalbeamte und Männer des Technischen Hilfswerkes, die als erste am Ort des Unfalls waren - zu dieser Frage aussagten, wurde nur eines aufgehellt: In dem vernichtenden Aufprall des Unglücks-Flugzeugs und dem kopflosen Wirrwarr der ersten Stunden nach der Katastrophe ging auch die Möglichkeit verloren, das Geheimnis der Zange in der Hand des Piloten nachträglich aufzuklären.

Wie wenig verläßlich offenbar die Zeugenwahrnehmungen im Augenblick der Katastrophe sind, bewies in Bremen schon der Teil der Untersuchung, der sich der Frage widmete, ob die Convair mit laufenden oder verstummten Motoren abstürzte. Fast einmütig bekundeten jetzt auch in Bremen Ohrenzeugen, die damals in der Nähe des Unglücksorts weilten, sie hätten ein abruptes Aussetzen der Motoren einige Sekunden vor dem Aufprall deutlich wahrgenommen.

»Ich hörte Unregelmäßigkeiten im Motorengeräusch«, erzählte beispielsweise Fluglehrer Rolf Reese, der sich während der Unglücksminuten anderthalb Kilometer entfernt in seiner Wohnung aufhielt, »dann kam es wieder normal und brach unmittelbar darauf vollkommen ab - es herrschte Totenstille. Sie dauerte fünf bis sechs Sekunden.«

Die Untersuchungskommission hatte die Möglichkeit erwogen, daß solche Wahrnehmungen einer Motorenstille in Wahrheit als eine akustische Täuschung der Ohrenzeugen zu erklären seien: Wenn sich ein Flugzeug, so entdeckten die Experten, im Steigflug und auf einem Kurvenkurs entfernt, bilden sich für den Lauscher am Boden gleichsam Schallschatten, Zonen, in denen der Geräuschpegel der Flugzeugmotoren nahezu auf Null absinkt.

Letzten Monat flog ein Lufthansa -Pilot mit einer Maschine gleichen Typs die nachträglich errechnete Steig- und Kurvenroute der Unglücks-Convair nach. Und das An- und Abschwellen der Motorengeräusche während dieses Simulationsfluges wurde - von drei verschiedenen Meßpunkten - auf Tonband festgehalten.

Doch als die Tonaufnahmen im Bremer Rathaus-Festsaal den elf Ohrenzeugen vorgespielt wurden, bekundeten sie, einer nach dem anderen - und einer auf den anderen hörend -, das aus dem Lautsprecher ertönende Geräusch sei mit ihren damaligen Wahrnehmungen »nicht vergleichbar«.

Und für die letzten Sekunden vor dem Aufprall deckten sich die Aussagen der elf Ohrenzeugen mit denen des einzigen Augenzeugen: Auch Spaziergänger Julius Göckes, der sich 300 Meter vom späteren Aufschlagpunkt befand und die Maschine, »mit dem linken Flügel unten«, auf sich zustürzen sah, hörte »kein Motorengeräusch«.

Einen völlig anders lautenden Befund erbrachte die mit modernsten technischen Hilfsmitteln unternommene fachmännische Überprüfung der aus dem Acker geborgenen Triebwerke. Sie waren offenbar bis zum letzten Sekundenbruchteil vor dem Aufprall normal gelaufen: »An keinem Einzelteil der Motoren«, so formulierten die Voruntersucher vom Braunschweiger Luftfahrt-Bundesamt, »konnten irgendwelche Spuren ... gefunden werden, die auf die Möglichkeit der Störung eines Motors vor dem Unfall hinweisen.«

Doch längst nicht alle Trümmer der verunglückten Convair mit der Lufthansa-Kennung D-ACAT ließen für die Unfallforscher so eindeutige Schlüsse zu wie die angekohlten Zylinderblöcke, Kolben und Ventile der Triebwerke. Das zeigt sich bei keinem Relikt aus dem Flugzeug deutlicher als am Beispiel der Zange, die in der Hand des Kopiloten gefunden wurde.

Für die Mitglieder der Bremer Untersuchungskommission war es entscheidend wichtig, die ursprüngliche Position der Leiche des Kopiloten, die Haltung seiner Hand und die Lage der Zange exakt zu rekonstruieren. Das erwies sich als unmöglich: Es gab weder ein Photo der ursprünglichen Fundlage noch ließ sich klären, wer als erster die Zange in der Pilotenhand entdeckt hatte.

Als erster der Bremer Zangen-Zeugen schritt der Kriminal-Obermeister Fritz Schraml aus Oldenburg zum Zeugenpult. Er erinnerte sich, den Kopiloten unter einer anderen Leiche liegend gesehen zu haben, die später als die eines italienischen Fluggastes identifiziert wurde. Schraml: »Der Kopilot hielt in der angewinkelten Hand eine Zange voll umschlossen.«

Später jedoch, als Schraml die mittlerweile in eine Flugzeughalle verbrachten Leichen photographierte, fand er »die Hand geöffnet und die Zange locker in der Hand«.

Kriminal-Obermeister Günther Hartmann aus Oldenburg wiederum, der damals Auftrag hatte, die Leiche des Kopiloten abzuwaschen, gab zu Protokoll: »Die Hand war zur Faust geballt und die Zange leicht verschiebbar, die Hand war nicht verkrampft.« Und: Er habe »nichts angerührt und angefaßt, sondern nur mit dem Schlauch gewaschen«. Erst nach eindringlichem Befragen erinnerte er sich dann doch: »Ich habe die Zange herausgenommen und genauso wieder 'reingesteckt.«

Hartmann war nicht der einzige, der

- eventuelle Spuren verwischend -

an der Zangen-Hand manipuliert hatte. Schon auf dem Acker hatte Bergungshelfer Wilhelm Herrman aus Bremen »mit der Hand den Dreck von der Zange abgekratzt ... und versucht, die Zange erst mal zu drehen«.

Auch der medizinische Sachverständige, Professor Siegfried Krefft vom Medizinischen Institut der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck, sah sich ob solch fahrlässiger Spurensicherung außerstande, »eine sichere Erklärung für den Vorgang mit der Zange« zu geben. Krefft hält für möglich, daß die Zange erst nach dem Aufprall in die Hand geschleudert wurde. Denn, so führte der Luftwaffen-Mediziner aus, es sei unwahrscheinlich, daß eine während eines Flugzeugabsturzes in der Hand gehaltene Zange beiM Aufprall in ihr verbleibe. Krefft: »Bei einem solchen Aufschlag werden Millionen PS frei, da löst sich alles.«

Neun Monate lang hatten elf Expertengruppen aus Trümmern und Zeugenaussagen einen verläßlichen Anhaltspunkt für die Ursache der Katastrophe zu finden versucht - vergebens. Und es scheint, als ob auch die erste öffentlich abgehaltene Untersuchung einer Flugzeugkatastrophe in Deutschland nur ein sicheres Resultat zutage förderte: »Hier sieht die Öffentlichkeit einmal«, so formulierte es Lufthansa -Vorstandsmitglied Gerhard Höltje, »wie unsagbar schwer so etwas aufzuklären ist.«

Höltjes Urteil über die Schwierigkeiten beim Auffinden der Wahrheit: »Tote und Trümmer, und dann diese Zeugen - wie wollen Sie da was finden?«

Convair-Untersuchungskommission bei der Beweisaufnahme im Bremer Rathaus: Die Spurensucher ...

Zangen aus dem Unglücks-Flugzeug*

... verwischten die Spuren

Trümmer des Unglücks-Flugzeugs, Kriminalbeamter: »Da löst sich alles«

* Oben: Die in der Hand des Kopiloten aufgefundene Zange.

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