Zur Ausgabe
Artikel 52 / 75

GESCHICHTE Zeit der Totalitären

Propyläen Geschichte Europas, Band 6: Karl Dietrich Bracher »Di. Krise Europas 1917-1975«. Propyläen Verlag, Berlin; 520 Seiten; 168 Mark.
aus DER SPIEGEL 3/1977

Dies ist der bislang anregendste Band der neuen Geschichte Europas. Der Bonner Historiker Karl Dietrich Bracher, als Erforscher der Weimarer Republik hochangesehen, beschreibt darin die Krise des Kontinents, die mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und der russischen Revolution begonnen hat.

Der Text enthüllt Nutzen wie Nachteil der Zeitgeschichte. Zwar verfügt sie neben anderen Quellen über lebende Zeugen, doch fehlt ihr andererseits die Distanz: Die Ereignisse und die Personen sind für ein abwägendes Urteil noch zu nahe. So fordern sie auch den Gelehrten, der sie handelnd oder leidend erlebt hat, zu leidenschaftlichem Bekenntnis, zu schroffem Werturteil heraus.

Charakteristisch hierfür ist die Sprache der Polemik, mit der Bracher nicht nur den Nationalsozialismus, sondern auch den Kommunismus verdammt. Als Anhänger der Totalitarismus-Theorie wirft er beide in einen Topf. Für ihn sind -- wie ursprünglich auch für Hannah Arendt Diktaturen von rechts und links nicht nur ähnlich, sondern in ihrer Unterdrückung der Menschen, in ihrem rücksichtslosen Gebrauch der Gewalt so gut wie identisch: »Diese neuartige Technik der Herrschaftsgewinnung und Herrschaftskontrolle, hinter der entweder die Weltrevolution oder der Krieg mit der Perspektive auf den totalen Staat steht, macht linke und rechte Machtergreifungen ... eben doch vergleichbar. Und darauf gründet auch das Konzept des Totalitarismus.«

Folgerecht verwirft Bracher das marxistische Begriffspaar Revolution-Konterrevolution. Für ihn ist auch der Nationalsozialismus genuin revolutionär, er nennt Hitler den zweiten Lenin und spricht ihm die entscheidenden Attribute des Weltveränderers zu: »die Fixierung auf radikal verändernde Ideen, die Entschlossenheit. diese zu realisieren, koste es, was es wolle, und die Fähigkeit, dafür die Mittel und die Massen zu mobilisieren«.

So besteht ein entscheidendes Verdienst seines Buches darin, auch den Rassenrevolutionär (und nicht den Konterrevolutionär) Hitler -- der für den Vulgärmarxismus nur ein Handlanger des Großkapitals gewesen ist -- als mörderische Gefahr für die Menschheit dargestellt zu haben.

Die Gemeinsamkeit des linken und rechten Totalitarismus versucht Bracher mit einer These Carl Schmitts zu belegen. Zum Wesen des Totalitären, schreibt er, gehöre eine »Doktrin vom absoluten Feind« -- sei es nun der Rassen- oder Klassenfeind.

Im vorigen Jahr hat jedoch der konservative Gaullist Raymond Aron in seinem Clausewitz-Werk gezeigt, daß Lenin den Begriff des absoluten Feindes weder kannte noch indirekt gebrauchte. Aron macht den Unterschied zwischen den extremen Ideologien von rechts und links eindrücklich klar. Für ihn gibt es eine unaufhebbare Differenz »zwischen einer Philosophie, deren Logik monströs ist, und einer anderen, die sich zu einer monströsen Deutung hergibt« -- wie der Kommunismus durch den Stalinismus.

Obschon Bracher sich ausdrücklich für die Notwendigkeit des demokratischen Sozialismus in Europa ausspricht und die SPD als demokratiefördernde Partei lobt, entgeht auch er nicht dem geheimen Dilemma des zweigeteilten Deutschen. Auch Bracher kann sich nicht endgültig und eindeutig gegen den überkommenen Nationalstaat und für die notwendigen supranationalen Zusammenschlüsse entscheiden.

So sehr Bracher betont, daß die Nationalstaatsbildung »kein ehernes Gesetz« sei, so sehr er mal dem Primat Kleineuropas, mal einer Realpolitik der Blöcke das Wort redet -- über die Situation in Deutschland heißt es dann doch unmißverständlich: »Aber sofern der Begriff des Nationalstaats die politische Welt bestimmt und die Integration in supranationale Systeme keinen wirklichen Ersatz darstellt, bleibt das Problem der deutschen Nation ein wesentlicher Bestandteil und Bezugspunkt der Entwicklung beider deutscher Staaten.« Rudolf Ringguth

Rudolf Ringguth
Zur Ausgabe
Artikel 52 / 75
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren