AERODYNAMIK Zickzack nach Darwin
Der Eingebung und oftmals auch glücklichem Zufall verdanken Generationen von Flugzeugtechnikern zukunftweisende Lösungen. Aber ein Student der Technischen Universität in West-Berlin möchte den Fortschritt kalkulabel machen: Er fand für das Roulette-Spiel der Flugzeugingenieure ein System.
Zahllose aufwendige Versuchsreihen in mietshausgroßen Windkanälen, deren Bau Millionen Dollar kostet und in denen Mammut-Flügelräder leichte Brise ebenso wie heulenden Orkan oder mehrfach schallschnelle Luftströme erzeugen können, sind bei den großen Flugzeugfirmen nötig, um für ein neues Flugzeug die jeweils günstigste Form zu ermitteln.
Der West-Berliner Ingenieur-Student Ingo Rechenberg, 29, hantierte nur mit einigen schmalen Brettern, mit Aluminiumblechen, Kleister, Schaumgummi und einem Windkanal, der - so Rechenberg - »trotz seiner zehn Meter Länge nur ein Zwerg unter seinesgleichen ist«. Dennoch nannte sein Lehrer Rudolf Wille, Professor für Strömungslehre an der TU in Berlin, die Überlegungen und Versuche Rechenbergs »eine entscheidende Tat, einen Durchbruch auf dem Gebiet der Strömungstechnik«.
Ein beinahe primitiv anmutendes Experiment, das der Student im Sommer dieses Jahres in einer Versuchshalle des Hermann-Föttinger-Instituts in West -Berlin vornahm, lieferte den Beweis für die Zuverlässigkeit des von ihm ersonnenen Systems:
Im Luftzug vor dem Windkanal war eine Jalousie aus Leisten aufgehängt - sechs schmale aluminiumverkleidete Bretter, die an ihren Längskanten durch Schaumgummistreifen gelenkig miteinander verbunden waren. An jedem der Gelenke befand sich eine Arretierung, die es erlaubte, jeweils zwei Leisten in verschiedenen Anstellwinkeln zickzackförmig gegeneinander zu verstellen.
Zu Beginn des Versuchs waren die Jalousie-Bretter so stark gegeneinander verwinkelt, daß ihr Strömungswiderstand - der sich im Windkanal-Luftstrom messen ließ - besonders groß war. Nun galt es, Schritt um Schritt die Einstellungen der Jalousie -Winkel so zu verändern, daß der Strömungswiderstand des Zickzackbrettes immer geringer würde - bis schließlich die Versuchs-Jalousie Ihre strömungstechnisch ideale Form erreicht hätte.
Der Ausgang des Experiments war für den jungen Forscher nicht erstaunlich, er hatte ihn sogar vorausgewußt. Den geringsten Luftwiderstand bot die Test -Jalousie, als ihre ursprüngliche Zickzackform so weit gestreckt war, daß das Modell wie ein ebenes Brett in der Strömung lag.
Verblüffend aber war das Tempo, mit dem Rechenberg dieses Versuchsresultat herbeiführen konnte. Insgesamt bot die Test-Jalousie 345 Millionen Einstellmöglichkeiten. Wenn jede Messung und jede Neueinstellung jeweils etwa 30 Sekunden Zeit in Anspruch nehmen, so rechnete Rechenberg, »würde man für das Durchprobieren aller Möglichkeiten rund 600 Jahre brauchen«. Der West -Berliner Nachwuchstechniker indessen kam im Verlauf eines Arbeitstages ans Ziel - mit insgesamt nur 340 Einstellungsschritten.
Das Denkmodell, das Rechenberg ersonnen hat und das dem simpel erscheinenden Versuch zugrunde lag, wird aller Voraussicht nach die Arbeitsmethoden in den Strömungslabors der Flugzeug- und der Schiffbautechnik revolutionieren: Wie bei dem nutzlosen Versuchsbrett im Windkanal des Föttinger-Instituts, so werden künftig Flugzeugbau- und Werfttechniker erstmals mit Hilfe von Elektronenrechnern die strömungstechnisch günstigste Rumpf-, Kiel- oder Tragflächenform ermitteln können - auf kürzestem Experimentierweg und mit optimalem Ergebnis.
Noch immer herrscht bei Probestarts neuer Flugzeuge und bei Stapelläufen ein wenig Ungewißheit unter den Technikern. Zu viele - oft nur ungenügend meßbare - Faktoren bestimmen die Strömungsverhältnisse etwa an einem Schiffskiel oder einem Flugzeugrumpf, als daß die Ingenieure exakt vorausberechnen könnten, wie sich die Produkte ihrer technischen Phantasie in der Praxis verhalten werden. Und immer noch sind es - zumal im Flugzeugbau - die scheinbar abwegigen Ideen von Außenseitern, die gelegentlich einen technischen Durchbruch möglich machen, wo niemand ihn vermutet hätte.
Nach allen Regeln der modernen Flugzeugtechnik hatten beispielsweise die Ingenieure der US-Flugzeugfirma »Convair« Anfang der fünfziger Jahre den amerikanischen Überschalljäger F-102 entwickelt. Doch als der Prototyp startete, mußten die Testpiloten resignierend feststellen, daß die Maschine die vorausberechnete Leistung nicht erreichte: Die überschnell konzipierte F-102 ließ sich nicht einmal bis zur Schallgeschwindigkeit beschleunigen, sie »blieb unterhalb der Schallmauer stekken« (so einer der Testpiloten).
Die Convair-Chefingenieure lächelten nur, als ein junger Strömungstechniker, der damals 31jährige Richard T. Whitcomb, eine scheinbar verrückte Änderung des F-102-Rumpfes vorschlug. Whitcomb empfahl den Rumpf des Flugzeugs in Höhe der Tragflächen taillenförmig einzuschnüren. Als die Convair-Chefs sich trotz anfänglicher Skepsis schließlich doch entschlossen, Whitcombs Vorschlag zu verwirklichen, war der Erfolg sensationell: Bereits beim ersten Testflug durchbrach die abgewandelte F-102, noch während sie stieg, donnernd die Schallmauer. Und Whitcombs Einfall, seither an zahlreichen anderen Überschallflugzeugen bewährt, ging unter den Spitzmarken »Marilyn-Monroe-Taille« oder »Coca -Cola-Rumpf« in die Luftfahrtgeschichte ein.
Intuition und die in umfänglichen Testreihen mehr oder minder zufällig
gesammelten Erfahrungswerte sind stets mit im Spiel, wenn die Couturiers der Luftfahrtbranche einen neuen Flugzeugtyp kreieren: Jedesmal bauen sie zuvor Hunderte von abgewandelten Modellen und hängen sie in den Windkanal, um zu erkunden, ob nicht eine Taillierung der Rumpfform, ein Schlitz in der Tragflächenkante oder eine Applikation am Leitwerk die Strömungseigenschaften noch verbessern können. Die Techniker vermögen sich an die jeweils günstigste Form nur heranzutasten. Denn bislang war es unmöglich, die unübersehbare Vielzahl theoretisch denkbarer Rumpf - oder Tragflächenformen rechnerisch durchzuspielen, geschweige denn jeweils Modelle davon anzufertigen und zu testen.
Demgegenüber wird Rechenbergs System den Flugzeugtechnikern künftig erlauben,
- das langwierige Durchspielen der
verschiedenen aerodynamischen Formen zu mechanisieren,
- zeitraubende Irrwege bei dem Probierverfahren auszuschließen und
- das Auffinden der jeweils optimalen Lösung schließlich sogar einem zukünftigen elektronischen Forschungsautomaten zu übertragen.
Das mathematisch-technische Ausleseverfahren, das Rechenbergs erfolgssicherem Flugzeug-Roulette zugrunde liegt, hat sich bereits seit mehreren Millionen Jahren vorbildlich bewährt: Der junge West-Berliner will die Flugzeugformen der Zukunft nach dem gleichen Prinzip auffinden, nach dem sich in der Natur durch Anpassung und Verbesserung aus einzelligen Amöben der Urzeit ein zufriedenstellend funktionierender Homo sapiens entwickelt hat: nach dem Prinzip der Evolution.
Fortwährend kommt es in der Natur bei der Vererbung von Eigenschaften zu kleinen Abweichungen von der Norm, zu Mutationen. Wenn diese zufälligen Veränderungen sich als zweckmäßig erweisen, bleiben sie erhalten und pflanzen sich in den nachfolgenden Generationen fort. Ist aber die Mutation unzweckmäßig, wird sie von der Natur wieder verworfen - unvorteilhaft abgewandelte Arten sterben aus.
Geradeso unterwarf Rechenberg sein Zickzackbrett einer Evolution à la Darwin, um es zur strömungstechnisch günstigsten Form zu entwickeln. Wie die Natur zufällige Mutationen hervorbringt, so ließ er Würfel darüber entscheiden, welche Veränderungen das Testbrett von einem zum nächsten Experimentierschritt durchmachen sollte. War die Veränderung negativ - der gemessene Strömungswiderstand größer als zuvor -, ließ Rechenberg jeweils die Mutation aussterben und winkelte das Brett wieder zurück. War die Mutation hingegen positiv - der Strömungswiderstand geringer -, würfelte er von der verbesserten Position aus weiter.
Der Ingenieur-Student vermochte nachzuweisen, daß paradoxerweise dieses freie Spiel des Zufalls und der Auslese schneller als irgendeine andere systematische Probiermethode zur günstigsten Lösung führt, wenn so zahlreiche verschiedene Änderungen möglich sind wie beispielsweise bei einem Flugzeugflügel.
Der primitive Zickzackbrett-Versuch, bei dem die Lösung schon vorher bekannt war, diente nur dazu, den Nutzen und die Erfolgssicherheit des Rechenberg-Systems zu beweisen. Aber die Strömungstechniker der West-Berliner Universität gehen schon daran, die Idee des pfiffigen Studenten auf einen komplizierten Tragflächenversuch zu übertragen.
Derzeit wird in der Institutshalle an der Fasanenstraße in Berlin-Charlottenburg ein Tragflügelmodell gebastelt, das Rechenbergs Programm der Mutationen selbsttätig mitspielen wird: Die Außenhaut des Experimentierflügels ist aus biegsamem Stahlblech gefertigt, und eine Reihe von kleinen Elektromotoren in seinem Innern wird die biegsame Haut in den verschiedenen Teilabschnitten mehr oder minder stark zusammenziehen und damit die Tragfläche dicker oder dünner werden lassen - ganz so, wie der entsprechend programmierte Rechenautomat die einzelnen Mutationsschritte erwürfelt.
Wie Säugetiere, Vögel und Reptilien im Verlauf von Jahrmillionen, so soll sich Rechenbergs Test-Tragflügel innerhalb von Stunden oder Tagen zu jener Form entwickeln, mit der er seiner Umwelt - den Luftströmungen, die ihn beim Flug erwarten würden - am besten angepaßt ist.
Student Rechenberg, Lehrer Wille*: Roulette in der Hochschule
Überschallflugzeug »F-102«
Taille à la Monroe
* An der Tafel: Skizze des geplanten Experimentier-Tragflügels.