Margret Boveri über Peter Hoffmann: "Widerstand, Staatsstreich, Attentat" ZUFÄLLE, PANNEN, TRÄUME
Die Besatzungsmächte haben den Deutschen nach dem Zusammenbruch von 1945 nicht erlaubt, die Geschichte ihres eigenen Widerstands zu erfahren. Deshalb sind die Bücher der Hassell, Gisevius und Schlabrendorff, der Dulles und Rothfels im Ausland erschienen. Es fragt sich, ob sie im besiegten Land bei einer breiteren Schicht hätten »einschlagen« können und ob bei uns die Dinge anders gelaufen wären, wenn im Zustand halber Betäubung nach dem Zerreißen aller Verbindungen mit der unmittelbaren Vergangenheit diese eine geschichtliche Kontinuität ins Bewußtsein hätte dringen dürfen -- stärkend für die Kollektiv-Angeklagten, weiterführend durch die Pläne derer, die über die Erneuerung Deutschlands »nach Hitler« schon unter Hitler nachgedacht hatten.
Der zweite Teil der Frage ist überholt. Der erste wird neu gestellt durch das Buch von Peter Hoffmann: als Frage, ob das Thema sich doch noch einen Platz im Bewußtsein der Deutschen erobern kann. 988 Seiten könnten abschrecken, darunter 209 Seiten Anmerkungen. Doch das Buch liest sich bei aller schier unfaßbaren Materialbewältigung und minuziösen Genauigkeit zügig und Ist selbst für den Kenner der Materie spannend.
Bestimmte Konstanten fallen auf, so die Uneinheitlichkeit im Soziologischen, Charakterlichen, Weltanschaulichen der verschiedenen Beteiligten. In normalen Zeiten hätten viele dieser Männer abgelehnt, etwas miteinander zu tun zu haben. Um so bewundernswerter die Versuche der Koordinierung. Das begann schon 1933 bei Ernst Nickisch, dem Freund des Kommunisten Dr. Beppo Römer und des konservativen Reserveoffiziers Fabian von Schlabrendorff. Es wurde ab 1940 bewußt in Kreisau verwirklicht, wo die Gruppe der »Grafen« sich mit Vertretern der verschiedensten Berufe, mit Sozialisten und Liberalen, katholischen und protestantischen Theologen über das »Nachher« auseinandersetzte. Es endete mit dem Putschversuch und rund 7000 Verhaftungen derer, die gemeinsam hatten handeln wollen.
Eine andere Konstante ist die geradezu unglaubwürdige Reihe von Zufällen, die sich fast immer gegen die Personen und die Vorhaben des Widerstands auswirkten, das, was Hitler so oft mit rollendem R die Vorsehung nannte. Seine Witterung für die Gefahr und sein übersteigertes Mißtrauen -- Hoffmann bringt erstaunliche Beispiele dafür in einem angehängten »Exkurs« -- taten noch das ihre: Hitler reist mit dem Zug statt, wie angesagt, mit dem Flugzeug; er kommt nicht nach Poltawa, wo ein Attentat unter der Beteiligung des Generalmajors Hans Speidel vorbereitet war, sondern nach Saporoschje; die Bombe, die Tresckow in der Maschine placieren konnte, in der Hitler tatsächlich flog, explodierte nicht -- die Zündstoffmisere der Offiziere ist ein Kapitel für sich, das Hoffmann bis ins Detail der technischen und chemischen Vorgänge behandelt, ohne allerdings die Frage zu berühren, ob vielleicht die Deutschen als Attentäter besonders unbegabt sind.
Bei der Heldengedenkfeier des März 1943 verließ Hitler, seine Begleitung entlassend, so unerwartet schnell den Besichtigungsraum« daß der Oberst von Gerstorff, der entschlossen war, sich selbst mit Hitler in die Luft zu sprengen, nicht in dessen Nähe bleiben konnte. Die Vorführung einer neuen Uniform mit zugehörigen Ausrüstungsgegenständen, bei der der Hauptmann von dem Bussche bereit war, sich und Hitler mittels Handgranaten zu töten, fiel aus, weil das Vorführungsmaterial während eines Luftangriffs zerstört wurde.
Schlimmer für die Organisation und den Zusammenhalt der Verschwörung waren die Unglücksfälle, die sich im Umkreis der Abwehr abspielten: etwa der vergebliche Versuch Osters, verräterische Zettel auf dem Schreibtisch Dohnanyis unbemerkt in seiner Tasche verschwinden zu lassen, der zur Verhaftung Dohnanyis, Bonhoeffers und anderer und zur Erhöhung des Mißtrauens gegen Canaris führte.
Hoffmann verschweigt die vielen Pannen nicht. Aber er spielt sie auch nicht hoch. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, daß er die Anregung zu seinem Buch und erste Finanzhilfe vom »Hilfswerk 20. Juli 1944« erhielt. Er behandelt vor allem die Honoratioren des Widerstands; mit großer verständnisbereiter Gerechtigkeit, am schonendsten vielleicht seine engeren Landsleute, die Schwaben. Er legt aber auch an Beispielen, so an den Generälen Beck und Fellgiebel, klar, daß sie sich von Hitlers ganzer Abgründigkeit keine Vorstellung machten. Von den Generälen in ihrer Gesamtheit heißt es, sie hätten nicht gemerkt, daß Eid, Befehl, Gehorsam ihnen als Versteck dienten »vor der apokalyptischen Drohung, die man nicht verstand«.
Ein Ton der Ironie mag in Hoffmanns Feststellungen mitschwingen: »Den Nicht-Militaristen erschien zu warten unmöglich und unverantwortlich, so griffen sie zur einzigen ihnen zur Verfügung stehenden Waffe und verfaßten Denkschriften.« Aus der Flut der Denkschriften Kordts, Goerdelers, Etscheits, aber auch Becks und Leebs wird des längeren zitiert. Was fehlt, ist die Summe der Kreisauer, etwa der Anfang des Briefes, mit dem Moltke die Zusammenarbeit mit Yorck einleitete und vom »Triumph des Bösen« spricht, dies im Augenblick der französischen Kapitulation Juni 1940 -- bester Gegenbeweis gegen den Vorwurf, erst in der Niederlage sei in Deutschland der Widerstand erwacht.
Hauptgrund für die Pannen: Es wurde zuviel geredet. Das kann bezeugen, wer damals in Berlin lebte. Oster entsetzte den Generaloberst von Witzleben durch den Leichtsinn, mit dem er auf Reissen mit Exemplaren des Aufrufs umging, die nach dem Attentat verlesen werden sollten. Die Generäle hatten also in den Zeiten ihres Einverständnisses mit den Staatsstreichplänen manchen Grund, zurückzuschrecken und sich zu distanzieren. Sie werden von Hoffmann streng, in manchen Fällen (Brauchitsch« Fromm, Kluge) scharf beurteilt. und viel ausführlicher behandelt als die Zivilisten.
Am besten dürfte dem Autor die Charakterisierung der Offiziere gelungen sein, die am 20. Juli, ob positiv oder negativ, eine entscheidende Rolle spielten: Stauffenberg, für, den er nur Bewunderung hat; Fromm, der sich immer nach allen Seiten absicherte; Thiele, der verantwortliche Nachrichtenmann, der als einziger in der Bendlerstraße sofort von der Explosion in der Führer-Baracke benachrichtigt wurde und sogleich Olbricht hätte informieren müssen, es statt dessen aber vorzog, länger unauffindbar zu sein, mit der Folge, daß die »Walküre«-Befehle viel zu spät ausgesandt wurden.
Nicht nur das: Zu den verhängnisvollsten Pannen des Tages gehört die Rückfrage des Leutnants Röhrig, der das Fernschreiben an die Wehrkreiskommandos aussenden lassen sollte, ob das Dokument, das mit dem Satz »Der Führer Adolf Hitler ist tot« begann, nicht mit höchstem Geheimhaltungsgrad gesendet werden müsse. Während ein weniger geheimes Schreiben mittels Konferenzschaltung an alle zwanzig Empfänger gleichzeitig befördert werden konnte, mußte nun ein jedes einzeln auf besonders empfindlichen Geräten abgesetzt werden. Die Folge: Die Walküre-Befehle kamen erst ans Ziel, als auch schon die Gegenbefehle des noch lebenden Führers aus der Wolfschanze eintrafen. Es ist offenbar niemand auf den Gedanken gekommen, nachzusehen, ob intern alles richtig läuft, oder dafür zu sorgen, daß die Telephonleitungen ausschließlich den putschenden Offizieren zur Verfügung standen.
Ebenso grotesk ist die Tatsache, daß das Funkhaus befehlsgemäß von einem Ritterkreuzträger besetzt wurde, der leider von Funk nichts verstand und mit dem Bescheid, alles sei abgeschaltet, leicht hinters Licht geführt werden konnte, während der Sendebetrieb tatsächlich überhaupt nicht unterbrochen wurde. Hoffmann: »Hätten die geplanten Maßnahmen funktioniert -- einige Stunden früher wäre das wahrscheinlich der Fall gewesen -,so wäre die Rundfunkmeldung von Hitlers Überleben wohl unterblieben.«
Der perfekteste Mechanismus kann eben nicht funktionieren, wenn die Mitwirkung der Menschen in den unteren Rängen nicht gesichert ist. Hoffmann: »Die Wolfschanze nachrichtentechnisch zu isolieren wäre für zwei oder drei kleine Postbeamte leichter gewesen als für Fellgiebel.« Daß eine Operation heutigentags ohne die Mitwirkung der Sekretärinnen nicht gelingen kann, war militärischem Denken offenbar fremd.
Ins internationale Gespräch ist gerade jetzt eine weitere Konstante aus den Jahren 1938 bis 1944 gekommen: die in vielen Variationen wiederholten Bemühungen der Opposition, mit führenden Männern der Westmächte zu einem Einverständnis zu gelangen. Alle Versuche sind gescheitert. Es ist bezeichnend für Hoffmanns Gerechtigkeitssinn und historische Objektivität, daß er dich an mehr als einer Stelle die kritische englische Position zu eigen macht und etwa das britische Mißtrauen gegenüber der deutschen Opposition für verständlich hält.
Die ablehnende Haltung der britischen Regierung in der letzten Phase des Krieges wird allgemein damit begründet, daß sie den Eindruck vermeiden mußte, hinter dem Rücken der Sowjet-Union einen Sonderfrieden aushandeln zu wollen; daß die Überzeugung, Deutschland könne nur durch eine totale militärische Niederlage gereinigt werden, sich überall durchgesetzt habe und daß der Verdacht, die Vertreter der Opposition seien in Wahrheit Agenten des Hitler-Regimes, nie überwunden worden sei.
Der langjährige Generalsekretär des Weltkirchenrats, Visser 't Hooft, der 1942 ein Memorandum von Adam von Trott zu Solz an dessen Freund Sir Stafford Cripps überbrachte, glaubt, daß diese Gründe, deren erste beide auch er für schwerwiegend hält, die absolut negative Haltung der englischen Regierung nicht rechtfertigen: »Es scheint mir, daß ein schöpferisches Staatsdenken einen Weg hätte finden können, die deutsche Oppositon zu ermutigen.« Er erinnert an den Unterschied zwischen der älteren Generation und der Gruppe, zu der Trott zählte: »Er gehörte zu der breiteren europäischen Widerstandsbewegung, die von der Erneuerung Europas durch radikale soziale Reformen und neue föderative Strukturen träumte.«
Das ist eine Seite des deutschen Widerstands, die von Hoffmann kaum berührt, jedenfalls nicht ernst genommen wird. In einem Nebensatz über das »unrealistische Ziel« der Kreisauer, »einen neuen Menschen hervorzubringen«, sagt er leichthin: »Wie nötig das ist, weiß man schon lange, und es ist heute nicht weniger nötig als damals.« Diese Feststellung führt zurück zur eingangs gestellten Frage: Hätten die Dinge nach 1945 bei uns anders laufen können, wenn die Deutschen damals etwas vom Denken, vom Planen, vom Träumen, von der Substanz derer hätten erfahren dürfen, die die vorhitlerische Vergangenheit nicht verleugnen, aber doch eine ganz andere Zukunft hatten vorbereiten wollen?
Vielleicht werden die Töchter und Söhne der Hingerichteten die Frage aufnehmen. Peter Hoffmann tut es nicht. Er hat in den besten Traditionen positivistischer Geschichtsschreibung eine vorbildliche Arbeit geleistet. Wie lange allerdings die Geschichte der Vergangenheit und die Geschichte der Zeit noch betrieben werden kann, ohne die in ihnen enthaltenen Elemente der Zukunft einzubeziehen, dürfte in Kürze zu einem Prüfstein westlicher Geschichtsforschung werden.