
Abschied von der Kanzlerin Die kuriose Merkel-Verehrung der Linken


Die Ära Merkel ist vorbei, ihre Fans werden sie vermissen
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Es begann schon vor Monaten. Vor über einem Jahr, als klar wurde, dass Angela Merkel keine fünfte Amtszeit anstrebt, ging es los mit den großen Gefühlen. »Wir werden Merkel noch vermissen«, hörte man. Oft in Kombination mit dem Satz: »Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage.«
Es waren keine Konservativen und keine CDU-Mitglieder, die das sagten. Es waren Leute, die ich vorher als stabile Antifa eingeschätzt hätte, als Linke, als Feminist*innen.
Erst waren es nur vereinzelte Statements, ein leises Seufzen hier und da, vorauseilende Nostalgie gewissermaßen, und ich dachte mir, na gut, die Pandemie hat uns alle irgendwie zu komischen Vögeln gemacht. Aber dieses sehnsuchtsvolle Seufzen, dieses eigenartig liebevoll-melancholische »ach, Merkel, wir werden sie vermissen« steigerte sich mit der Zeit , bis man heute, an Merkels vermutlich letztem Tag im Amt, sagen kann: Unter Linken hat sich eine absolut kuriose Merkel-Verehrung breit gemacht. Sagt mal, Leute, spürt ihr noch was? Reißt euch mal zusammen.
Dass Politiker*innen, die mit Merkel zusammengearbeitet haben, jetzt ihre Verdienste loben: geschenkt. Eine Frage der Höflichkeit. Abschied mit Respekt: ja klar. Dass Journalist*innen mitunter zu dem Schluss kommen, dass Merkel »uns« fehlen wird: eigenartig, aber im Rahmen des Möglichen. Im Sommer, während der Flutkatastrophe, hieß es auf » t-online « , es lasse sich »besser denn je prognostizieren, dass wir alle Angela Merkel noch schmerzlich vermissen werden«. Wer »wir alle« sind und warum so »schmerzlich« – unklar.

Knapp die Hälfte der Deutschen wird Merkel vermissen
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Laut einer Umfrage des Insa-Instituts sind rund 60 Prozent der Deutschen mit Merkels Arbeit zufrieden . 47 Prozent sagen, dass sie sie vermissen werden. Unter diesen 47 Prozent sind, wenn man sich so umhört, haufenweise Leute, die sie nie gewählt haben.
»Ich werde sie vermissen« – wenn Leute das sagen, okay, mag sein. Aber oft genug heißt es nicht »ich werde...«, sondern »wir alle werden sie noch vermissen«, mit einem so sicheren Unterton, als sei das einfach klar. Auf Twitter gab es vor ein paar Tagen über 13.000 Likes für den Witz eines »heute-show«-Autors: »Letzte Amtshandlung«, schrieb er, und dazu zwei Fotos, auf denen Angela Merkel Andi Scheuer die Hand gibt und lacht: »Ach, übrigens, was ich noch sagen wollte... Du bist gefeuert!« – Ja, witzig. Witziger wäre gewesen, sie hätte Andi Scheuer wirklich rausgeworfen und Jens Spahn gleich mit. In der Abschiedsfeier Merkels mischen sich Dinge, die sie getan hat, mit Dingen, die sie nie getan hat.
Simone Schmollack nannte Merkel in der »taz« »die heimliche Revolutionärin«: Sie habe »der Gesellschaft ein Update verpasst«, auch wenn sie »die Modernisierung nicht bewusst forciert« habe, »sie ließ sie eher geschehen«. Äh, ja, ... danke Merkel, sehr großzügig.
In einem anderen »taz« -Text hieß es: »Ihren Stil – preußisch, sachlich, ironisch – werden wir vermissen. Ihre Politik nicht.« Immerhin mal eine Differenzierung. Denn die meisten, die Merkel »jetzt schon vermissen« oder erklären, dass »wir alle« sie noch »sehr vermissen« werden, erklären nicht sehr gründlich, warum genau.
Ja, warum? Sicher, bei einigen wird es an 2015 und »wir schaffen das« liegen. Aber sonst? Was werden wir vermissen? Was ist es, was da so abgekultet wird? Die Tatsache, dass Merkel wider besseres Wissen eine angemessene Klimapolitik verhindert hat? Dass sie gegen die Korruption in ihrer Partei nicht wirklich etwas unternommen hat? Dass am Ende ihrer Regierungszeit in Deutschland immer mehr Leute in Armut leben, vor allem Kinder und alte Menschen? Dass Merkel bezüglich des Adoptionsrechts für Homosexuelle erklärte, »dass ich mich schwertue mit der völligen Gleichstellung«? Und dass sie gegen die »Ehe für alle« stimmte? Dass sie von Frauenquoten nie was hielt, auch wenn sie dann – recht spät – irgendwann erklärte, Parität erscheine ihr »einfach logisch«? Dass sie Seehofers rassistische Ausfälle hinnahm? Dass die Aufklärung der NSU-Verbrechen unter ihrer Regierung nicht sehr weit kam? Dass trotz ihres »wir schaffen das« weiterhin an den europäischen Außengrenzen so unfassbar viele Menschen sterben? Oder sind es die Rüstungsexporte an Diktaturen? Das Desaster in Afghanistan?
Erfolgreiche Frauen sind nicht automatisch Feministinnen
Nein, natürlich nicht, werden jetzt manche sagen, aber immerhin hat sie gezeigt, dass eine Frau Bundeskanzlerin sein kann, ein leuchtendes Vorbild... so so. Ein so leuchtendes Vorbild, dass am Ende ihrer Kanzlerinnenschaft der Frauenanteil im Bundestag bei unter einem Drittel lag. Was für eine feministische Ikone. Frauen verdienen immer noch weniger als Männer, Alleinerziehende sind weiterhin überdurchschnittlich oft von Armut betroffen, Abtreibung ist immer noch nicht legalisiert, Gewalt gegen Frauen allgegenwärtig.
Es wird gern betont, dass Merkels Weg mit den politischen Leichen der von ihr ausgebooteten Männer nur so gepflastert ist, aber was hat sie für Frauen getan, außer selbst eine Frau zu sein? Nicht viel.
Merkel hinterlässt in ihrer Partei ein Trümmerfeld voller zerschellter Männeregos, von den Frauen kandidiert keine für den Vorsitz. Klar kann man sich als Linke auch darüber amüsieren, dass die CDU so dermaßen am Abgrund steht, aber es ist eben auch ein Beweis dafür, dass mächtige Frauen nicht notwendigerweise andere mächtige Frauen nachziehen.
Es gibt einen Denkfehler, zu dem der Kapitalismus verleitet: beruflich erfolgreiche Frauen automatisch für Feministinnen zu halten. Das ist Quatsch. Selbst wenn eine Frau mit hohem Posten zum Vorbild für andere wird, ist sie dadurch nicht automatisch Feministin. Man muss ihr nicht dankbar sein, dass sie für sich selbst kämpft, echt nicht. Übertriebene Dankbarkeit blockiert das Gehirn.
Gut, manche sind ausdrücklich nicht dankbar für Merkels politische Leistungen, sondern vermissen jetzt schon ihren Stil, ihre Gestik und Mimik, ihre Persönlichkeit. Sie war »in keiner Weise bestechlich«, schrieb Dietmar Bartsch (Linke). »Ich werde die unprätentiöse und uneitle Art von Angela Merkel vermissen«, erklärte Tabea Rößner (Grüne).
Lustig, sympathisch, uneitel – reicht das?
Währenddessen häufen sich in den sozialen Medien die lustigsten, rührendsten Bilder und Videoschnipsel von Merkel: wie sie mit den Augen rollt, als Putin sie vollquatscht, wie sie Emmanuel Macron umarmt, beim Fußball jubelt, Karneval erträgt.

Auch ein Termin für die Kanzlerin: Karneval (2008 in Düsseldorf)
Foto: Miguel Villagran/ APJa, einiges davon ist lustig oder sympathisch – aber, ganz ehrlich? Ist es das? Sind die Leute, die jetzt erklären, dass sie Merkel vermissen werden, sicher, dass sie Merkel vermissen werden oder nicht doch eher den Unterhaltungseffekt ihres Charakters? Und wie fortschrittlich ist das, die erste deutsche Kanzlerin nicht danach zu bewerten, was sie politisch geleistet hat, sondern danach, wie charismatisch sie im Vergleich zu ihren indiskutablen Kollegen wirkte? Das ist peinlich und traurig.
Sind das nicht extrem winzige Ansprüche an die mächtigste Frau der Welt? Klar wirkte Merkel oft cool im Vergleich zu den eitlen Gockeln, von denen sie umgeben war. Aber wie tief kann man seine Standards ansetzen? The bar is low, wie die jungen Leute sagen.
Klar hat Merkel einiges geschafft und durchgestanden, obwohl sie »Kohls Mädchen« und »Mutti« genannt wurde. Lässig, wie sie das ignoriert hat, aber lässiger wäre gewesen, sie hätte mal gesagt: Hört auf, mich so zu nennen, ihr Flachköppe.
Tiefe politische Fantasielosigkeit
Wenn Linke Merkel vermissen, dann ist das vor allem ein Zeichen für eine tiefe politische Fantasielosigkeit. Man muss sich schon sehr schönreden, was nicht schön war, um am Ende ihrer Regierungszeit hauptsächlich in sentimentalen Sehnsuchtsanfällen zu schwelgen. Ja, cool, dass Merkel ein Verständnis für wissenschaftliche Fragen hatte und rechnen konnte, aber das ist auch nur deswegen bemerkenswert, weil sie von inkompetenten Männern umgeben war, die sie gewähren ließ.
Linke vermissen Merkel, weil sie nicht wagen, sich vorzustellen, was für ein geiles Leben wir alle haben könnten. Es ist reines Wunschdenken, wenn Merkel jetzt als die feministische, inspirierende Ikone gefeiert wird, die sie nie war. Kurz vor Stockholm-Syndrom, wenn Sie mich fragen. Es ist eine gefährliche Genügsamkeit, die sich da zeigt. Wie innerlich erloschen kann man sein?
Natürlich muss die erste Kanzlerin ein Land nicht binnen 16 Jahren in ein feministisches Paradies verwandeln, nur weil sie eine Frau ist. Aber es gibt noch einiges zwischen »feministischem Paradies« und dem aktuellen Zustand voller Ungleichheit, Ungerechtigkeit und mangelnder Zukunftsfähigkeit. Die politischen Fortschritte, die es in Merkels Regierungszeit gab, sind zu weiten Teilen nicht dank, sondern trotz ihrer Politik passiert.
Es steht allen offen, Merkel zu vermissen, Gefühle sind Gefühle. Klar, Merkel hat Mädchen und Frauen gezeigt, was sie werden können. Aber die Verehrung, mit der sie nun verabschiedet wird, zeigt, wie viele von uns verlernt haben, politisch überhaupt noch irgendwas zu erwarten. Danke Merkel, echt.