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BUCH Zweifel an der Lethe

aus DER SPIEGEL 12/1997

Menschen, die nicht vergessen können, werden depressiv; sie stoßen immer wieder auf ihre Kränkungen und Verluste, auf begangene Fehler und erlittenes Unrecht. Sie können aber auch zu »Gerechtigkeitsfanatikern« werden, zu brandschatzenden Rächern, zum Michael Kohlhaas.

Die alten Griechen-Seelen tranken, um Erinnerung zu tilgen, aus dem Fluß des Vergessens, Lethe. Casanova, der Glücksritter, vergaß einfach Unbill, die er, mangels Ressourcen, nicht heimzahlen konnte. Und für Friedrich Nietzsche schien es »ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt nur zu leben«.

»Vom Nutzen des Vergessens« handelt ein Buch, das auch die Gefahren des Vergessens nicht vergißt. Es wurde inspiriert von einem Kolloquium des Potsdamer »Einstein Forums«, mit Beiträgen einer internationalen Gelehrtengarde von Jerusalem bis Harvard, vom Psychoanalytiker bis zum Historiker - mithin von Nutzen.

Denn der Blick aus vielen Richtungen macht das Psycho-Phänomen zu einem Polit-Faktor ersten Ranges. Nur die »modellierende Selektionsleistung«, das Katzund-Maus-Spiel von Erinnern und Vergessen, kann Kultur und Geschichte sinnvoll und überschaubar halten, manchmal nur unter Schmerzen.

Der Holocaust etwa, das grausigste Exempel. Führt nicht eine Dominanz der Erinnerung, fragte ein Israeli, zum »tragischen und paradoxen Sieg Hitlers?« Im wichtigsten Tempel des antiken Athen stand ein »Altar für das Vergessen«. Den hätten die Deutschen wohl auch gern.

Neue Anforderungen stellt zudem die neue Technik. Die »Gedenkindustrie« und die »Speichermedien« nährten die »Illusion eines totalen Gedächtnisses«; dieses »anonyme Aufbewahren« könne zu einer Zerstörung des kulturellen Gedächtnisses führen, jener historischen Gemeinsamkeit, die ein überzeugender Beleg sei für die »Identität eines Gemeinwesens«.

Ein Gespenst geht offenbar um in der Welt, die »Konjunktur des Gedächtnisses«. Nietzsche, vom Nutzen des Vergessens überzeugt, schlug sich gleichwohl mit Zweifeln herum. »Man vergißt nicht«, schrieb er, »wenn man vergessen will.«

Gary Smith und Hinderk M. Emrich (Hrsg.): »Vom Nutzen desVergessens«. Akademie Verlag, Berlin; 296 Seiten; 48 Mark.

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