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FILM Zweiter Versuch

In Richard Linklaters Romanze »Before Sunset« begegnen sich ein Amerikaner und eine Französin - neun Jahre nach einer gemeinsam verbrachten Nacht.
aus DER SPIEGEL 25/2004

Beschwingt spazieren die zwei durch das spätsommerliche Paris: der Amerikaner Jesse (Ethan Hawke) und die Französin Celine (Julie Delpy); und mit jedem Schritt kommen sie sich näher. Da fällt vor ihnen ein Blatt vom Baum, und für den Bruchteil einer Sekunde halten sie inne - als wäre ihnen bewusst geworden, wie flüchtig Glücksmomente sind.

Neun Jahre zuvor haben sie sich auf der Zugfahrt von Budapest nach Wien kennen gelernt, sie verbrachten einen Abend und eine Nacht in Wien und gingen dann getrennter Wege. Diese (Vor-)Geschichte erzählte der amerikanische Regisseur Richard Linklater 1995 in seinem Film »Before Sunrise«. Nun lässt er Jesse und Celine in der Fortsetzung »Before Sunset« in Paris erneut aufeinander treffen.

Jesse hat einen Roman über ihre damalige Begegnung geschrieben, den er in Paris vorstellt. Als er Fragen nach dem autobiografischen Gehalt des Buches beantwortet, sind kurze Einstellungen aus dem ersten Film zu sehen - wie Erinnerungsfetzen, die ihm durch den Kopf gehen. Jesse erzählt, dass sich Vergangenheit und Gegenwart vor dem geistigen Auge vermischen, blickt zur Seite, und sieht Celine - wie eine Erscheinung. Doch als ihr Bild nicht weicht, wird Jesse klar: Sie ist es wirklich, in Fleisch und Blut.

Da wird also der Wunsch zum Vater der Geschichte: Zwei, die sich aus den Augen verloren haben, aber einander nie aus dem Sinn gegangen sind, bekommen eine zweite Chance. Sie können der noch offenen Episode in ihrem Leben ein Ende geben.

»Before Sunrise« beschrieb, wie die Erfahrung, zusammen eine fremde Welt zu erkunden und dabei immer mehr Gemeinsamkeiten aneinander zu entdecken, zwei Menschen nach kurzer Zeit das Gefühl geben kann, sich schon ewig zu kennen. »Before Sunset« zeigt, wie eine Affäre, die sich genau aus diesem Gefühl heraus ergeben hat, jahrelang nachwirkt.

Linklater schickt seine beide Helden auf einen langen Spaziergang durch Paris - und lässt sie dabei ihre Lebenswege, die sie in den vergangenen neun Jahren auch zusammen hätten gehen können, in Worten und Gedanken abschreiten.

Die Kamera begleitet sie in langen Fahrten wie ein heimlicher Beobachter, der den Blick nicht abwenden mag. Jeder Schnitt markiert einen Einschnitt: Als Celine plötzlich stehen bleibt, wechselt der Film in eine Großaufnahme von ihr. Sie fragt Jesse, ob er damals, sechs Monate nach ihrer Begegnung, noch einmal nach Wien gekommen sei, um sich mit ihr zu treffen. So hatten sie es vereinbart. Jesse denkt nach, schüttelt den Kopf, und beide lachen befreit. Doch das ist, wie sich bald zeigen wird, nur die halbe Wahrheit.

»Before Sunset« zieht den Zuschauer hinein in den Versuch der beiden, zwischen retrospektiver Verklärung und desillusionierender Selbstberuhigung die Bedeutung ihrer damaligen Begegnung zu ermessen.

Aufgeregt, zunächst unsicher und nervös tastend, erzählen sie und stellen fest, dass sie einige Monate lang zur selben Zeit in New York waren, im selben Viertel sogar. Nach und nach lassen sie den Schutzschild des unverbindlichen Geplauders sinken und geben offen ihre Enttäuschungen und Verletzungen preis.

Selten lässt ein Film den Zuschauer so eindringlich miterleben, wie eine alte Liebe neu entsteht, wie die Blicke immer länger auf dem Gesicht des Gegenübers verweilen, die Hände erst etwas ungelenk und verkrampft, dann immer selbstverständlicher die Berührung des anderen suchen und sich mehr und mehr eine außerordentliche Vertrautheit einstellt.

Doch geschickt hält Linklater den Zuschauer im Ungewissen, wie die Geschichte diesmal endet. Nicht umsonst heißt der Film »Before Sunset": Die Schatten der Nachmittagssonne werden im Verlauf des Films immer länger. Wenn Celine und Jesse einen Schauplatz verlassen, verweilt die Kamera stets noch einen Moment länger als die beiden am Ort - als wollte sie ihn sich einprägen, weil sie vielleicht nie mehr an ihn zurückkehrt. LARS-OLAV BEIER

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