Zwischen Allmacht und Ohnmacht?
Professor Friedhelm Farthmann, 48, SPD-Politiker und Gewerkschafter, ist Arbeits- und Sozialminister in Nordrhein-Westfalen. -- Dr. Norbert Blüm, 43, ist CDU-Bundestagsabgeordneter, Gewerkschafter und Vorsitzender der CDU-Sozialausschüsse.
Über das Selbstverständnis und die Aufgabenstellung der Gewerkschaften in einer modernen Industriegesellschaft gibt es erstaunlich wenig gesicherte Erkenntnisse. Das gilt nicht nur für die Wissenschaft, die diese Thematik bisher eher stiefmütterlich behandelt hat. Auch in den gewerkschaftlichen Organisationen selbst herrscht hinter der Fassade vordergründiger Formelkompromisse in dieser Frage entweder Ratlosigkeit oder Meinungsverschiedenheit.
Dabei reicht das Spektrum unterschiedlicher Ansichten von der Vorstellung, die Gewerkschaften seien ein Ordnungsfaktor für den Status quo, bis zu dem Anspruch, sie hätten als Keimzelle der Revolution zu wirken. Diese Unsicherheit hat verschiedene Ursachen.
Zum einen ist die Rolle der Gewerkschaften abhängig von dem Charakter der jeweiligen Gesellschaft, in der sie tätig sind. So übernehmen etwa die Gewerkschaften in einer zentral gelenkten Planwirtschaft völlig andere Aufgaben als in einer Wettbewerbswirtschaft mit privatem Eigentum an den Produktionsmitteln.
Zum anderen gibt es Gewerkschaften unterschiedlicher weltanschaulicher Prägung. Christliche, sozialistische, kommunistische oder auch sogenannte Einheitsgewerkschaften, wie wir sie in der Bundesrepublik vorfinden, messen sich jeweils eine andere Rolle in der Gesellschaft zu.
Einen neuen Versuch zur Standortbestimmung der bundesdeutschen Gewerkschaften hat Norbert Blüm unternommen, der dazu vor allem durch seine praktischen Erfahrungen in der Gewerkschaft besonders berufen ist. Allerdings gelingt es dem engagierten Gewerkschafter nicht immer, dem parteipolitischen Imperativ die Grenzen zu weisen. Aus der Gesamtdarstellung, die naturgemäß auch vieles längst Bekannte noch einmal zusammenfaßt, sind vier Fragenbereiche von besonderer Bedeutung:
Erstens: In einem sehr lesenswerten Abschnitt über die Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung wird geschildert, mit welcher Hartnäckigkeit und Eifersucht sowohl Kirchen, namentlich die katholische, als auch die Sozialdemokratische Partei in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg darum gekämpft haben, die ihnen nahestehenden Richtungsgewerkschaften zu beherrschen.
Dabei überrascht aus heutiger Sicht nicht nur der ungeheure Kräfteverschleiß, den dieses Ringen erforderte und den man angesichts des Elends der Arbeitermassen anderweitig besser hätte nutzbar machen sollen.
Vielmehr zeigt sich daran auch, wie mühsam der Weg zu der Erkenntnis war, daß der Mensch in seinen vielfältigen Rollen als Christ, Arbeitnehmer, politisch Interessierter, Mitglied eines Sportvereins, Hauseigentümer oder Familienvater sehr vielfältige und sehr divergierende Interessen haben kann und daß es deshalb ein Stück Freiheit bedeutet, wenn er sich in diesen verschiedenen Rollen auch verschiedenen und voneinander unabhängigen Organisationen anvertrauen kann.
Als beängstigend stellt sich dem heutigen Leser immer wieder die Geschichte der Gleichschaltung der Gewerkschaften durch Hitler dar. Die letzten Monate ihres Bestehens im Jahre 1933 waren kein Ruhmesblatt der deutschen Arbeiterbewegung. ihre Führer konnten oder wollten die kompromißlose Entschlossenheit und die tödliche Gefahr des neuen Regimes nicht erkennen. Sie waren zu immer neuen Verhandlungen und Zugeständnissen bereit, nur um ein Weiterbestehen ihrer Organisation auch unter dem Nationalsozialismus zu erreichen.
Diese Ereignisse sind ein Lehrbeispiel für die Gefahren, die entstehen, wenn Politik mehr zum Beruf als zur Berufung wird und wenn die Organisation zum Selbstzweck ausartet.
Zweitens: An verschiedenen Stellen seines Buches befaßt sich der Autor mit der sehr schwierigen Problematik der innergewerkschaftlichen Demokratie einschließlich des Verhältnisses zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten. Dabei befürwortet er tendenziell mehr Basisdemokratie, das heißt mehr Beteiligung der Mitglieder zu Lasten der Kompetenzen der Vorstände. Eine solche Forderung findet hierzulande meist viel Zuspruch -- häufig auch von Seiten, die in anderen Bereichen gerade nicht für mehr Mitbestimmung eintreten.
Wer dieser Frage gerecht werden will, darf zwei Gesichtspunkte nicht außer acht lassen: Zum einen muß Gewerkschaftspolitik kalkulierbar sein. Dadurch erhöht sich das Verhandlungsgewicht der Organisation und damit letztlich auch ihre Erfolgsaussicht; Gewerkschaftsvertreter müssen in der politischen Auseinandersetzung sicher sein können, daß der programmatische Rahmen gültig bleibt und daß bei ausgehandelten Kompromissen das erzielte Ergebnis in aller Regel auch in der Mitgliedschaft durchgesetzt wird.
Andernfalls wird die gewerkschaftliche Verhandlungsposition geschwächt. was im Ergebnis dazu führt, daß sieh die Gegenseite überhaupt nicht mehr zu Zugeständnissen bereit findet.
Daraus folgt. daß Entscheidungs- oder Empfehlungsorgane auch von ihrer Größe her die Gewähr für rationale und vertrauliche Beratungen bieten müssen, damit unvorhersehbare Resultate infolge von Emotionen tunlichst vermieden weiden.
Zum anderen ist zu bedenken, daß mehr Beteiligung der Basis die von Blüm erhoffte Aktivierung der schweigenden Mehrheit gar nicht bringt, sondern lediglich Aktivisten und Kadern einen zusätzlichen Einfluß verschafft. Dies ist eine der bittersten [ehren der politischen Beobachtung der letzten zehn Jahre. Es ist leider nicht zu bestreiten, daß gewerkschaftliche Vertrauensleute in den Betrieben, verschiedene Bürgerinitiativen und erst recht Studentenparlamente manchmal von Vertretern beherrscht werden, deren Auffassungen Weit von der Einstellung der Mehrheit der Repräsentierten entfernt sind.
Das nicht zuzugeben. wäre unredlich oder unrealistisch. Offensichtlich kommt es wegen der Trägheit, Mutlosigkeit oder fehlenden Information der großen Zahl in derartigen Gremien häufig zu »Mitnehmereffekten« zugunsten kleiner aktiver und entschlossen handelnder Gruppen. Das nimmt in Einzelfällen sogar Formen von Meinungsterror an. Viele Aktivisten, die unter dem Banner »Mehr Demokratie« angetreten sind, entpuppen sich später als Meister bürokratischer Manipulation und Intoleranz.
Deshalb bleibt im Grunde nur die Alternative zwischen dem direkten Plebiszit und der Entscheidung durch relativ kleine Führungsgremien. Alle Zwischenlösungen bergen unabsehbare Gefahren für die Beherrschbarkeit der sozialen Prozesse in sich.
Im Gegensatz zu Norbert Blüm halte ich es nachdrücklich für wünschenswert, wenn sieh bei Betriebsratswahlen die Wahlvorschläge auf eine einzige Liste beschränken -- nicht um damit die eigentliche Wahl überflüssig zu machen, sondern um eine Persönlichkeitswahl zu erreichen, die mit Abstand idealdemokratischen Vorstellungen am nächsten kommt.
Die Einrichtung der Listenwahl dient dem Minderheitenschutz. Sie mag als letztes Mittel gegen übermütige Mehrheiten nützlich sein. Ihre extensive Anwendung zersplittert jedoch die Belegschaften und bereitet den Weg für Minderheiten jedweder Couleur -- auch für die »RGO« (Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition). Die oft beschworene »Gemeinsamkeit der Demokraten« kann sich auch hier bewähren.
Drittens: In einem sehr umfangreichen Kapitel des Buches werden Handlungsempfehlungen für die praktische Gewerkschaftspolitik der nächsten Jahre entwickelt. Wegen der Vielfältigkeit dieses Komplexes muß hier auf Einzelheiten verzichtet werden. Hellhörig macht jedoch der Vorschlag, die Sozialpartner sollten das Aussperrungsproblem selbst lösen, indem die Gewerkschaften auf billige und wirksame »Schaltstellenstreiks« und die Unternehmer auf die Angriffs- und Sympathieaussperrung verzichten.
In dieser höchst empfindlichen Frage muß jeder Vorschlag daran gemessen werden, ob er einer Seite einen Vorteil verschafft. Durch eine immer mehr verfeinerte Arbeitsteilung und durch möglichst knappe Lagerhaltung nimmt in einer hochgezüchteten Volkswirtschaft jeder Streik schnell früher nicht gekannte Dimensionen an. So gesehen, arbeitet im Arbeitskampfrecht die Zeit ohnehin gegen die Gewerkschaften.
Das Arbeitslosenproblem wird von Blüm -- wie ich meine, unzutreffend -- als eine neue Art des Klassenkampfes zwischen den Arbeitslosen und den »Arbeitsbesitzern« charakterisiert. Gerade die jüngsten Tarifauseinandersetzungen um Arbeitszeitverkürzungen haben deutlich gemacht, daß die Arbeitnehmerschaft die Notwendigkeit der Solidarität mit den Arbeitslosen erkennt und auch ihre Tarifpolitik diesem Ziel unterzuordnen bereit ist.
Alle Einzelforderungen des Verfassers stehen unter dem Leitmotiv, eine sanftere Gesellschaft« zu schaffen. Konkret heißt das: Mehr Humanisierung der Arbeitswelt auf Kosten eines Teiles des materiellen Zuwachses. Dies entspricht durchaus einer breiten Strömung in den deutschen Gewerkschaften, die sich allenthalben Bahn zu brechen beginnt. Die CDU-Gewerkschafter im Parlament werden auch künftig Gelegenheit haben, dazu ihren Beitrag zu leisten -- vielleicht schon sehr bald bei der Reform der Arbeitszeitordnung.
Viertens: Besonders sensibel ist Norbert Blüm erwartungsgemäß für die Frage der Erhaltung des Pluralismus in der deutschen Einheitsgewerkschaft. Ihm gebt es vor allem um die Wahrung eines Handlungsspielraums für die christdemokratisch orientierten Gewerkschaftsmitglieder.
Natürlich ist eine erhebliche Gefahr politischer Einseitigkeit nicht zu übersehen, wenn eine politische Richtung (hier die sozialdemokratische) schon allein quantitativ derartig dominiert wie im Deutschen Gewerkschaftsbund. In den hinter uns liegenden 30 Jahren haben jedoch die meisten Funktionäre und Kongresse gewußt, was sie der Einheitsgewerkschaft schuldig waren.
Im übrigen weist der Verfasser zu Recht darauf bin, daß auch die Union ihren Beitrag zur Erhaltung der Einheitsgewerkschaft zu leisten hat. Ihre praktische Politik muß eben auch für die organisierte Arbeitnehmerschaft akzeptierbar sein.
In diesem Zusammenhang unterzieht sich auch Norbert Blüm der christdemokratischen Pflichtaufgabe, die Kandidatur von führenden Gewerkschaftsfunktionären auf der SPD-Liste für die Europa-Wahl zu beklagen. Solche Kritik ist aus dem Munde eines überzeugten Gewerkschafters nicht verständlich. Die bundesdeutsche Einheitsgewerkschaft hat sich immer darum bemüht, ihre politischen Ziele auch durch aktive Mitarbeit in den politischen Parteien zu erreichen. Die Antwort der CDU-Sozialausschüsse auf diese Herausforderung kann deshalb nur lauten: Prominente Gewerkschafter aus ihrem Lager auf die Spitzenplätze der Union!
Wenn man zum Abschluß die Entwicklung der deutschen Gewerkschaftsbewegung seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts zusammenfassen will, so wird man folgendes feststellen dürfen: Personell und organisatorisch hat sich die Einheitsgewerkschaft unserer Tage sehr stark dem Muster der sogenannten freien, also der sozialdemokratisch orientierten Richtungsgewerkschaft angenähert. Inhaltlich hat sich jedoch in der praktischen Gewerkschaftspolitik nicht die Idee der marxistischen Revolution, sondern die den Wurzeln der christlichen Sozialbewegung entstammende Idee der sozialpolitischen Reformen durchgesetzt.