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DDR-ZEITSCHRIFT Zwischen zwei Welten

aus DER SPIEGEL 38/1962

Die rund 6000 gesamtdeutschen Bezieher der kulturellen DDR-Zweimonatsschrift »Sinn und Form« werden sich möglicherweise nach neuem Lesestoff umsehen müssen. Letzte Woche meldeten bundesrepublikanische Zeitungen, daß die Ostberliner »Beiträge zur Literatur« (Untertitel) endgültig eingestellt werden.

Die Meldung wurde weder von den »Sinn und Form«-Herausgebern in der »Sozialistischen Akademie der Künste« noch vom Ostberliner Verlag Rütten & Loening dementiert. Schon seit einiger Zeit nehmen ostdeutsche Buchhändler keine Bestellungen für die Zeitschrift mehr an.

»Sinn und Form«, an Qualität durchaus vergleichbar dem westlichen »Merkur« ("Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken"), wurde bislang von Literaturkennern in beiden deutschen Staaten gleichermaßen geschätzt. Etwa ein Drittel der Auflage ging in die Bundesrepublik und nach Westberlin.

Die Revue sei »eine der besten Literaturzeitschriften des deutschen Sprachraums«, so rühmte 1959 Willy Haas in einer Laudatio auf den Lyriker und »Sinn und Form«-Chefredakteur Peter Huchel, dem damals eine Plakette der »Freien Akademie der Künste« in Hamburg verliehen wurde (Plakettenträger 1955: Thomas Mann).

Sie beachtete in den 13 Jahren seit ihrer Gründung nicht nur Becher, Brecht und die Seghers, Ehrenburg und Scholochow, sondern auch in der DDR weniger genehme Autoren wie Kafka und Hemingway. Von Beiträgen talentloser, aber einflußreicher Kulturfunktionäre wie Hans Marchwitza ("Walzwerk"), Alexander Abusch ("Der Kampf vor den Fabriken") und Kuba ("Stalin -Kantate") konnte die Redaktion das Literaturblatt durchweg frei halten.

Daß die Redaktion von »Sinn und Form« sich dennoch bis heute zu halten vermochte, ist um so erstaunlicher, als fast alle DDR-Zeitschriften immer wieder ihr Personal wechselten, um sich den Kursänderungen der SED anzupassen.

Als zum Beispiel 1956 der Revisionist Wolfgang Harich verhaftet wurde, entfernte die Partei Harichs Gesinnungsgenossen aus der Redaktion der »Kulturbund«-Zeitung »Sonntag«. Im Jahr 1958 mußte der Altkommunist Willi Bredel als Chefredakteur der »Neuen Deutschen Literatur« zurücktreten. Nach 13jährigem Bestehen wurde im selben Jahr der literarische »Aufbau« liquidiert, und Ende September wird auch die »Junge Kunst« der »Freien Deutschen Jugend« schließen.

Vor solchem Mißgeschick blieb »Sinn und Form« nicht zuletzt deshalb verschont, weil die Zeitschrift offenkundig mehr im Westen für die DDR als im eigenen Land für den sozialistischen Realismus werben sollte.

Für diese Aufgabe schien die Redaktion personell gut ausgestattet: Chef Peter Huchel und Redakteur Herbert Ihering sind seit jeher auch in Westdeutschland wohlangesehen.

Der heute 59jährige Lyriker Huchel, vor 1933 Mitarbeiter der »Literarischen Welt«, vermochte sich nicht nur sozialistisch-realistischer Traktoren- und Stalin-Hymnik zu enthalten; während des Tauwetters im Jahr 1953 beklagte er sich sogar freimütig über »eben jene, die Fehler auf Fehler machten, die Stirn hatten, den Standpunkt der Unfehlbarkeit einzunehmen und den schöpferischen Menschen ein Gefühl von Unsicherheit, ja Furcht einflößten, indem sie aus jeder Zeile, aus jedem Pinselstrich sofort ein Politikum machten«.

Auch Ihering, 74, der in den zwanziger Jahren als Kritiker beim »Berliner Börsen-Courier« renommiert war und 1922 den Kleist-Preis an Bertolt Brecht verlieh, ist trotz seiner Sympathie für den Kommunismus kein Marxist und gehört zu den wenigen Westberlinern, die noch heute Uraufführungen auf beiden Seiten der Mauer besuchen dürfen.

Die anderen Redaktionsmitglieder, der Lyriker und Spanienkämpfer Stephan Hermlin (bürgerlich: Rudolf Leder) und der »Krieg«-Romancier und Spanienkämpfer Ludwig Renn (bürgerlich: Arnold Friedrich Vieth von Golssenau), sind zwar loyale Parteimitglieder, ließen aber den weltoffen liberalen Stil der Zeitschrift unverfälscht.

Trotz dem wohlabgewogenen Proporz der Redaktion ist freilich »Sinn und Form« in den vergangenen Jahren immer wieder von der Staats- und Parteibürokratie angegriffen worden. So denunzierte Kultur-Funktionär Walther Victor den »esoterischen Charakter« der Zeitschrift; am 30. März dieses Jahres forderte Politbüro-Mitglied Willi Stoph, daß »kein Künstler mehr, wie das noch vor dem 13. August 1961 bei manchem der Fall war, als Wanderer zwischen zwei Welten leben und in doppelter Perspektive denken« dürfe.

Altkommunist Willi Bredel griff Stophs Walter-Flex-Zitat auf und präzisierte es für »Sinn und Form": »Die Zeitschrift war, wenn ich das einmal ganz zugespitzt sagen darf, trotz ihres hohen künstlerischen Niveaus eigentlich ein Wanderer zwischen zwei Welten. Deshalb ist es erforderlich, daß jetzt endgültig eine Änderung herbeigeführt wird.«

Sinn und Form dieser Änderung sind noch offen. Ungewiß bleibt, ob nun auch die Redaktion von »Sinn und Form« neu besetzt wird und etwa der Schriftsteller und Nationalpreisträger Bodo Uhse, ehedem Chef des »Aufbau«, an Huchels Stelle tritt, oder ob die Zeitschrift ganz eingeht, weil sie für den DDR-Hausgebrauch schädlich ist und als Aushängeschild für westdeutsche Leser nicht mehr benötigt wird.

Peter Huchel zum SPIEGEL: »Ich bin nur bis zum Ende dieses Jahres für 'Sinn und Form' verantwortlich. Was dann geschieht, weiß ich nicht. Das sind die Fakten; eine Auslegung kann ich nicht geben.«

»Sinn und Form«-Chef Huchel

Querschuß im Politbüro

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