Doku über überforderte Eltern Anna schlägt, kratzt und beißt ihre Mutter
Es gibt Familien, die erleben einen Albtraum miteinander - wenn das Kind aggressiv ist, sich blutig kratzt, nicht isst. Die Kino-Dokumentation "Elternschule" zeigt einen Ort, wo den Familien geholfen werden kann - wenn Mütter und Väter mitziehen.
Seit acht Tagen verweigert Zarah die Nahrung. Zu Hause aß sie zumindest noch Pommes und Chicken Nuggets; hier, im stationären Aufenthalt der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen, gar nichts mehr. Zarah ist fünf Jahre alt.
Sie bewegt sich wie in Zeitlupe, steht apathisch auf dem Gang, schafft es nicht, selbstständig ihr Unterhemd anzuziehen. Aber heute, als sich die Krankenschwester ein Brötchen mit Käse belegt, greift auch sie zu. Und beißt zaghaft hinein.
Nicht alle Kinder sind hier so apathisch wie Zarah. Felix etwa schreit den ganzen Tag und trinkt nur Milch, die er gleich wieder erbricht. Mohammed kratzt sich, bis er blutet. Joshua tickt völlig aus, wenn er wütend wird. Anna schlägt, kratzt und beißt ihre Mutter. Wenn sich jetzt und hier nichts ändere an ihrem Verhalten, sagt die Mutter, dann müsse sie Anna in ein Heim geben. Sie könne nicht mehr.
Die Hoffnung: ein normales Leben
Völlig erschöpfte Eltern, Kinder mit ausgeprägten Verhaltensauffälligkeiten, Neurodermitis, Schlaf- und Essstörungen: Für sie ist häufig die Kinder- und Jugendklinik in Gelsenkirchen ein Rettungsanker. In der Abteilung "Pädiatrische Psychosomatik" verbringen sie mehrere Wochen in der Hoffnung, danach endlich ein normales Leben beginnen zu können. Die Filmemacher Jörg Adolph und Ralf Bücheler haben sie dabei für ihre Kino-Dokumentation "Elternschule" begleitet.
Die Programme, die die Familien hier durchlaufen, hat der Psychologe und Psychotherapeut Dietmar Langer entwickelt, der Leiter der Abteilung. Eine Kombination aus Bindungs- und Trennungstraining sowie Ess- und Schlafverhaltenstraining soll dem alltäglichen Horror in diesen Familien ein Ende bereiten. Und meistens funktioniert das tatsächlich - sofern die Eltern mitziehen. Für viele ist das eine größere Herausforderung, als sie sich anfangs vorstellen können.
Der Film zeichnet Langer als emphatischen, zugewandten Menschen. Wenn er spricht, klingt deutlich sein Ruhrpott-Dialekt durch, eines seiner Lieblingsworte ist "Alltach". Darum geht es ihm: Dass Eltern und Kinder lernen, gemeinsam den Alltag zu bewältigen. Seine Methode hat er nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelt, zum einen Teil auf Grundlage jahrzehntelanger eigener Forschung, zum anderen auf Basis praktischer Erfahrung. Langner glaubt fest daran, dass Bildung hilft. Auch überforderten Eltern.
"Ein Kind weiß nach seiner Geburt nichts über die Welt. Es weiß nichts über Zusammenhänge", sagt Langer in seinen Seminaren etwa über die frühkindliche Entwicklung. "Wenn es in die Hände klatscht, weiß es weder, dass eine Handbewegung diesen Ton erzeugt, noch ist ihm klar, dass es ihn selbst hervorruft. Die Welt ist chaotisch." Nur der eigene Erkundungsdrang auf der einen und eine sichere Begrenzung durch die Eltern auf der anderen Seite machen, so Langner, aus der Welt einen berechenbaren Ort, an dem Kinder glücklich aufwachsen können.
Offener Blick auf das heutige Elternsein
Kinder brauchen also Grenzen, davon ist Langer - und mit ihm eigentlich alle Kindertherapeuten - überzeugt. Es gibt aber Eltern, die damit überfordert sind. Weil sie den autoritären Erziehungsstil vergangener Jahrzehnte ablehnen. Weil ihre Kinder sie vor besondere Herausforderungen stellen, an Regulierungsstörungen oder anderen psychosomatischen Störungen leiden. Oder weil sie sich übergroße Sorgen um ihren Nachwuchs machen.
"Elternschule"
Deutschland 2018
Regie: Ralf Bücheler, Jörg Adolph
Verleih: Zorro Film in Zusammenarbeit mit mindjazz pictures
Produktion: if... Productions
Länge: 117 Minuten
FSK: ohne Altersbeschränkung (beantragt)
Start: 11. Oktober 2018
So wie die Mutter von Felix, dem blonden Zweijährigen, der nachts nur wenige Stunden schläft, jedes Essen verweigert und die Milch, die er trinkt, kurz darauf wieder erbricht. Sein Fall ist besonders schwer auszuhalten. Der kleine Junge wirkt labil; im Verlauf der Therapie muss ihm eine Nahrungssonde gelegt werden, weil sein Gewicht immer weiter abnimmt. Seine Mutter ist gleichfalls ein Nervenbündel. Zwar stimmt sie der Therapie sichtlich schweren Herzens zu, schleicht sich gegen die Abmachung aber doch nachts an Felix' Bett, um nach ihm zu sehen. Und sein Vater bringt die Behandlung mit emotionalen Auftritten fast zum Scheitern.
Und dennoch: An keiner Stelle verurteilen die Macher die Mütter und Väter, die mutig genug sind, sich in ihrer Verzweiflung auch noch filmen zu lassen. Zurückhaltend, aber genau schauen Adolph und Bücheler hin, auch wenn es wehtut. Was die Doku "Elternschule" so besonders macht, ist eben dieser offene Blick auf das Elternsein heute.
Ein Gesellschaftsbild in Klinikräumen
Mit ihrem Film zeichnen sie, so nennen sie es selbst, ein Gesellschaftsbild in Klinikräumen. Erziehung ist gleichzeitig privat und von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Entsprechend große Erwartungen werden an Eltern gestellt. Als Helikoptereltern verlacht, als Erziehungsverweigerer verschrien, sind viele verunsichert.
Sie sollen ihre Kinder fit machen für das Leben, auf dass sie später beflissene Steuerzahler werden; gleichzeitig werden sie in Restaurants und anderen öffentlichen Räumen als Zumutung wahrgenommen. Lärmen soll die Brut bitte woanders.
Diese aktuellen Debatten nimmt die Doku unausgesprochen auf und betrachtet sie wie unter einem Brennglas. Was geschieht, wenn Erziehungsstrategien fehlschlagen, wenn sich Mechanismen einschleichen, die wie in einem Teufelskreis immer aufs Neue Essverweigerung oder stundenlanges Schreien zur Folge haben?
"Elternschule" zeichnet ein detailliertes Bild und macht die Protagonisten - Eltern und Kinder gleichermaßen - als Individuen mit je eigenen Geschichten sichtbar. Der Film zeigt, wie reaktionär und fehl am Platz Rufe nach Disziplin und Gehorsam sind. Er behauptet auch nicht, dass Erziehung ein leichtes Geschäft wäre.
Aber er zeigt auf überzeugende Weise, dass Wissen und Techniken dabei helfen können, aus glücklichen Kindern glückliche Eltern zu machen. Auch aus Zarah, Felix und ihren Müttern und Vätern.