Model will Pastorin werden Gottes schöne Dienerin

Jaqueline Thießen, 19: Shooting in einer Hamburger Kirche
Foto: Phillip Gätz / UNI SPIEGELJacqueline Thießen läuft über einen hellen Teppich, der auch ein roter sein könnte. Sie trägt einen kurzen Rock, hohe Schuhe, ein blaues Top, Lederjacke. Ihre langen, dunklen Locken wirft sie über die Schulter. Laufen, das kann sie gut. Sie hat es bei Heidi Klum gelernt. Schließlich war sie eines ihrer Mädchen.
Jetzt hält sie ein Gebetbuch in der Hand. Ihr Laufsteg ist heute das Mittelschiff der evangelischen Sankt-Stephan-Kirche im Hamburger Stadtteil Wandsbek. Jacqueline eilt zwischen einem Dutzend Teenager hin und her, sorgt dafür, dass die Jugendlichen in Ruhe arbeiten. Sie sollen Notizen über die verschiedenen Teile der Kirche machen, den Altar, die Orgel, den Glockenturm. Jede Woche betreut sie die Schüler während des Konfirmandenunterrichts, zusammen mit dem Pastor. "Jacky, haben wir jetzt alle Aufgaben verteilt? Die Kanzel, die Kerzen?", fragt der Pastor. Die 19-Jährige nickt.
Gemeindearbeit und Modelbusiness - für Jacqueline passt das wunderbar zusammen. Sie wird nun fotografiert, für diesen Artikel. Ein Shooting in der Kirche. Jacqueline sitzt vor dem Altar, malt sich die Lippen rot, schaut dabei in ein Gebetbuch, das sie wie einen Schminkspiegel hält. Nun posiert sie an der Stelle, an der Klum sie vor ein paar Jahren überraschte.
Ein Laufsteg aus alten Brettern
"Wir haben für unser Nikolaus-Stück geprobt, als eine helle Erscheinung in die Kirche kam", erinnert sich Jacqueline. Klum, die wie ein Engel in die Kirche schwebte und sie auserwählte. So ähnlich klingt das, wenn die 19-Jährige über die erste Begegnung mit dem Fernsehstar spricht.
Auf die Idee mit dem Modeln war ursprünglich Jacquelines Mutter gekommen. 2007 - die Tochter ist elf Jahre alt - entdeckt sie Klums Sendung "Germany's Next Topmodel", zeichnet jede Folge auf. Damals lebt Jacqueline mit ihrer Familie auf dem Land in Schleswig-Holstein. Die beiden Höhepunkte im persönlichen Wochenplan des Mädchens: Im Fernsehen moderiert Heidi Klum, und in der Kirche predigt ein junger Pastor, der Jacqueline begeistert. Er gestaltet einen modernen Gottesdienst mit einer Band, die englische Lieder spielt. Jacqueline ist oft schon vor ihrem Konfirmandenunterricht in der Kirche, um mit dem Pastor über den Glauben und das Leben zu sprechen. Er weckt in ihr den Wunsch, Pastorin zu werden.
Gleichzeitig stolziert sie zu Hause über den Laufsteg, den ihr Vater aus alten Brettern für sie gebaut hat. Sie sei damals "superschüchtern" gewesen, sagt Jacqueline. Attraktiv habe sie sich nicht gefühlt. "Auf Familienfotos fand ich mich furchtbar." Als sie endlich 16 ist und damit alt genug, um bei "Germany's Next Topmodel" mitzumachen, will sie ihr Glück versuchen. Sie bewirbt sich - und wird zum Star der Sendung. "Sie hat es gesagt. Ich bin schön", schreibt Jacqueline nach einem Zusammentreffen mit Heidi Klum 2012 in ihr Tagebuch.
Von Schleswig-Holstein nach New York
Die Show verändert ihr Leben radikal. Anfangs ist schon die Bahnfahrt zum ersten Shooting nach Wiesbaden eine Herausforderung. "Ich war vorher höchstens mal eine Woche zur Klassenfahrt von zu Hause weg." Jetzt fliegt sie für zwei Monate nach Dubai, Los Angeles und New York, wird von berühmten Fotografen abgelichtet, während ihre Klassenkameraden in der Schule sitzen.
Die Kamera folgt ihr fast überallhin. Auch in dieser Zeit bleibt der Glaube für Jacqueline wichtig, wird ihr Wiedererkennungsmerkmal in der TV-Sendung. "Es ist halt eine Show", sagt sie heute. "Besser, als wenn ich die Zicke oder die Lästerschwester geworden wäre. Ich fand es süß."
Oft wird gezeigt, wie Jacqueline betet und Tagebuch schreibt. Für das Fernsehformat wird sie als Kirchenmaus inszeniert, manchmal auch als Staffelstreberin. In einer Szene moniert Klum, Jacqueline habe sich die Achselhaare nicht ordentlich rasiert. Eifrig erklärt das Mädchen, sie werde das künftig sorgfältiger machen, notfalls mit einer Taschenlampe. Vor dem "Umstyling", dem Highlight jeder Topmodel-Staffel, kommen ihr allerdings Zweifel: "Schließlich schuf Gott die Menschen aus gutem Grund genau so, wie sie eben aussehen", schreibt sie in ihr Tagebuch.
Die eigenen Bedürfnisse unterdrücken, bloß nicht widersprechen - für Jacqueline ging die Strategie auf: Bei der Modelshow kam sie in die Top Ten. Was sie gelernt hat, möchte sie nun weitergeben. Vor Kurzem ist ihr Buch "Life Edition" erschienen, eine Anleitung für angehende Models. Die Kapitel sind überschrieben mit Psalmen aus der Bibel. Darunter stehen Sätze wie: "Meckernde Mädchen mag niemand."
"In der Kirche ist es egal, wie du aussiehst."
"Doch wo verläuft die Grenze zwischen Ehrgeiz und Selbstaufgabe? Von Klums Agentur, die ihr zu weit von Hamburg entfernt ist, hat sie sich inzwischen getrennt. Als sie eine neue Agentur suchte, habe man ihr gesagt, sie solle zehn Kilo abnehmen. "Ich hungere mich nicht total runter für einen Job." Aber eine Weile auf Süßigkeiten und Kohlenhydrate verzichten, das sei "kein Problem", schiebt sie hinterher. Warum die Show einer Studie zufolge Essstörungen fördern soll, könne sie sich nicht erklären. Die Models in Katalogen und auf dem Laufsteg seien doch viel dünner.
Klums Show habe sie selbstbewusster gemacht, sagt Jacqueline. Außerdem sei ihr der Glaube eine Stütze. "In der Kirche ist es egal, wie du aussiehst", sagt sie. Einige ihrer Konfirmandinnen haben Jacqueline im Fernsehen gesehen. Sie finden es normal, dass Heidis Mädchen ihnen jetzt etwas über das Erntedankfest erzählt.
Wie es weitergeht? Ab Mitte dreißig sei man geeignet für das Pastorenamt, findet Jacqueline. "Die meisten Kirchen wollen jemanden mit Lebenserfahrung. Die habe ich noch nicht." Deswegen studiert sie nun zunächst Sozialökonomie an der Universität Hamburg. Außerdem modelt sie weiter, "so lange, bis ich dafür zu alt bin".
Dann, mit etwa Ende zwanzig, habe sie genau das richtige Alter, um mit dem Theologiestudium zu beginnen. Sie würde am liebsten in Hamburg bleiben, in der Nähe ihrer Familie. Und sie möchte sich noch intensiver in der Gemeinde engagieren: Jacqueline kandidiert jetzt um den Einzug in den Kirchenvorstand. Der Pastor hat sie ausgewählt.

Ausgabe 6/2015
Freunde auf Zeit
Was vom Erasmus-Gefühl bleibt