
Zuhör-Kiosk: Der Mann im Glaskasten
Anlaufstelle in U-Bahnstation Der Zuhörer
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Einmal ist ihm ein Ohr auf die Gleise geflattert. Da musste der U-Bahnverkehr kurz unterbrochen werden. Christoph Busch hat auf allen vier Seiten seines Kiosks Plakate mit Ohren angebracht. Gezeichnete Ohren, geschriebene Ohren. "Ich höre Ihnen zu. Jetzt gleich oder ein anderes Mal", steht daneben.
Der 71-Jährige hat den Kiosk in der Hamburger U-Bahnstation Emilienstraße gemietet, um sich Geschichten erzählen zu lassen. Von Menschen, die zufällig vorbeikommen. Von Menschen, die sonst niemanden zum Zuhören haben.
So wie Elfriede K., 68. Nur mit Mühe hat sie es mit ihrem Rollator in die U-Bahnstation geschafft. Der Aufzug ist kaputt. Sie sorgt sich jetzt schon darum, wie sie wohl wieder hinaufkommt. Busch sagt, sie solle sich keine Sorgen machen, er helfe ihr.
Die alte Dame hat ihn schon am Vortag besucht. Aber da sei sie nur bis zu ihrem 17. Lebensjahr gekommen, sagt sie. "Und das waren nur die Eckdaten, die Geschichten kommen erst noch!" Es klingt ein bisschen wie eine Drohung.

Zuhör-Kiosk: Der Mann im Glaskasten
Vor fünf Wochen hat Busch seinen Zuhör-Kiosk eröffnet. Und seine erste Nachbesserung war die Anschaffung einer Uhr. "Als Selbstschutz", wie er sagt: "Am Anfang hatte ich Angst, dass keiner kommt. Jetzt muss ich aufpassen, dass es nicht zu viel wird." Wenn jemand länger als eine Stunde rede, frage er ihn freundlich, ob er nicht ein anderes Mal wiederkomme wolle.
Busch ist kein Therapeut und auch kein Psychologe. Wer ihn googelt, stößt auf den schönen Satz: "studierte Jura, fuhr Taxi und verkaufte Antiquitäten". Er hat Hör- und Drehbücher geschrieben, zweimal war er für den Deutschen Fernsehpreis nominiert. Und Anfang der Neunzigerjahre schrieb er freiberuflich eine Artikelserie für die "taz": Er sprach fremde Menschen in Cafés an und ließ sich ihre Lebensgeschichten erzählen. Nach einem Dutzend Folgen war Schluss.
238 Euro Miete im Monat
Vielleicht ist es die Sehnsucht nach diesen Begegnungen, die ihn dazu gebracht hat, den Kiosk zu mieten. Die Gewissheit, dass es so viele Geschichte gibt, die in Vergessenheit geraten, obwohl sie es verdient hätten, erzählt zu werden. So genau kann er das selbst nicht erklären. "Ich bin hier so reingestolpert", sagt er.
Zwei Jahre ist es her, dass er zum ersten Mal ein "Zu vermieten"-Schild am Kiosk entdeckte und sich fragte: Ein Glaskasten mitten auf dem Bahnsteig - wäre das nicht ein famoses Büro? "Ich dachte, da kann ich schreiben und gucken. Arbeiten und gleichzeitig was erleben", sagt er. Aber der Glaskasten war schnell wieder mit Süßigkeiten und Getränken gefüllt. Und als das Schild nun wieder da hing, war für ihn klar: jetzt oder nie.
Er schaffte es, die Hochbahn von der Idee des Zuhör-Kiosks zu überzeugen und ihm einen Sonderpreis zu machen. 238 Euro Miete zahlt er jetzt pro Monat, mit Strom und Versicherung kommt er auf knapp 300 Euro. Sechs Monate geht der Vertrag, Verlängerung offen.
Die erste Monatsmiete konnte Busch durch eine Kulturförderung der Stadt sichern. Wie er die anderen fünf Raten finanzieren soll, weiß er nicht. Aber er sieht das locker: "Ich habe in meinem Leben viel ausprobiert, und es ist bisher immer gut gegangen." Eine Spendenaktion will er starten. Und irgendwann die Geschichten als Buch verkaufen. Mit Fotos.
"Ich unterschreibe alles"
Elfriede K. hat er am Vortag schon fotografiert. Da hat er aber die Einverständniserklärung vergessen. "Geben Sie her, ich unterschreibe alles!", sagt die alte Dame nun, als er ihr den Vordruck reicht. Sie sei schwer krank und habe nicht mehr lange zu leben, da sei eh schon alles egal. Sie lacht, während sie das sagt. Aber als Busch sie fragt, ob sie glücklich sei, verneint sie.
Die Glücklichen kommen nicht in den Kiosk.
Busch findet das schade. Er würde gern auch fröhliche Geschichten hören. Aber er will sich nicht beklagen. Schon jetzt habe er genug Material für ein ganzes Buch zusammen.
Er hat sich eine Tabelle vorgedruckt, um den Überblick über seine Gesprächspartner zu behalten: Name, Kontaktdaten, Themen.
Da ist die Mutter, deren Sohn mit der Bundeswehr in Afghanistan war und die ihm ein Bild mit Angela Merkel geschenkt hat. Die Frau, die sich mit einer U-Bahnfahrt von ihrer Klaustrophobie befreien wollte und mit dem Zug im Tunnel stecken blieb. Das Pärchen, das sich immer wieder trennt und liiert.
Frauen und Männer, Junge und Alte - seine Besucher seien bunt gemischt, sagt Busch. Von 9.30 Uhr bis 15 Uhr empfängt er Gäste. Dann muss er sich um seine Töchter kümmern. Die beiden sind noch klein, auf dem Spielplatz wird er immer für den Opa gehalten. Das stört ihn aber nicht. "Ich habe die richtige Liebe eben erst spät getroffen", sagt er und lächelt.
Die Erotik der Blicke
Busch hat ein gewinnendes Lächeln und eine Stimme, mit der sich gut Hörbücher vertonen lassen würden. Man würde ihm ohne Weiteres glauben, wenn er sich als Psychologe ausgäbe. Aber das will er gar nicht. "Ich glaube, es ist ein Vorteil, dass ich keinen professionellen Blick auf die Dinge habe. Ich hake nach, sage meine Meinung, unterbreche auch mal", sagt er. Viele seiner Besucher hätten schon einen Therapeuten. Und den wolle er gar nicht ersetzen.
Die Töchter haben ihm zwei Plüschtiere mitgegeben, sie sitzen auf dem Fenstersims hinter seinem Besucher-Klappstuhl. Sessel durfte er nicht aufstellen, wegen möglicher Feuergefahr. In der U-Bahnstation gelten strikte Regeln.
"Ehrlich gesagt hatte ich schon ein bisschen Angst, mich hier allein hinzusetzen", sagt Busch. "Untergrund ist doch irgendwie unheimlich." Aber er sei bisher weder angepöbelt noch beschimpft, sein Kiosk weder beschmiert noch beklebt worden. "Ich scheine da einen Nerv getroffen zu haben: Toll, endlich hört mal jemand zu! Das habe ich jetzt so oft gehört. Irgendwie haben wohl alle das Gefühl, dass im Leben niemand mehr zuhören mag."
Und auch über die, die nicht mit ihm reden wollen, könne er viel erzählen, sagt er: "Allein über die Erotik der Blicke könnte man ein Buch schreiben!" Da seien die, die beschämt weggucken. Die, die ihn böse fixieren. Und die Lächelnden. Buschs bisher schönste Erkenntnis: Die Freundlichen sind in der Mehrzahl.