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Kinder unter Erfolgsdruck Very Important Babys

Chinesisch für Babys, Managerkurse für Kleinkinder, Yoga in der Krippe: Wenn Erziehungsunsicherheit von Eltern in Panik umschlägt, droht dem Nachwuchs eine Lern-Orgie. Dabei ist es fatal, dass simple Förderung zur Konkurrenz um Zukunftschancen eskaliert - von der vor allem Bildungskonzerne profitieren.
Babys (bei Säuglingsmassage): Eltern träumen vom sozialen Aufstieg

Babys (bei Säuglingsmassage): Eltern träumen vom sozialen Aufstieg

Foto: UNITED PHOTOS/ REUTERS

Heute gibt es in Deutschland so wenige Kinder wie nie zuvor - doch nie war die Sorge um sie größer. Die "Bild"-Zeitung beruhigt nervöse Eltern und erklärt, "was bei meinem Kind in welchem Alter normal" ist, Bestseller warnen davor, dass "unsere Kinder Tyrannen werden". Spiele werden in den Anleitungen gepriesen wie ein Aufbaupräparat für Spitzensportler: "Fördert die Auge-Hand-Koordination". Oder: "Erhöht die Lernmotivation".

Einfach nur spielen, als schönes Kinderprivileg? Das geht heute gar nicht mehr.

Dass die Perfektionierung schon in der Kindheit besonders heftig tobt, hat einen Grund. Es ist der Traum vom sozialen Aufstieg - und die Kluft zwischen dieser Möglichkeit und der Realität. Aus Müttern und Vätern werden Familienmanager, der Nachwuchs ist ihr wichtigstes Investitionsobjekt: Wir geben dir größtmögliche Unterstützung, damit du durch deine Leistung zeigst, wie gut wir als Eltern sind.

Der gesamte Komplex zwischen Geburt und Abitur ist zu einer Mischung aus Wettrüsten und Leistungsschau geworden. Schlimme Krisen drohen, wenn Leander zwei Wochen später krabbelt als vom Erziehungsratgeber vorgesehen, denn selbstverständlich ist Leander hochbegabt. Vor allem für Eltern der unter Druck geratenen bürgerlichen Mitte wird Erziehung so zur Abschottungsstrategie nach unten wie auch zum Vehikel für den Aufstieg nach oben. Soziologen sprechen von "Statuspanik". Wo andere Blockflöte spielen, spielt Leander Saxofon. Leander kickt nicht, er spielt Tennis oder besser noch Polo. Und wenn er als Kind davon träumt, später Müllmann zu werden, treiben ihm die Eltern diese Flausen schnell aus. Sie wollen, dass "etwas aus ihm wird".

Die subtile Diktatur des Machbaren

Diese Hoffnung folgt einem zentralen marktwirtschaftlichen Prinzip: Jeder kann alles schaffen, wenn er nur will. Das ist natürlich eine Illusion - aber eine mächtige. Das neue Leitbild ist der Mensch als Unternehmer seiner selbst, der unentwegt nach Möglichkeiten sucht, sein Potential noch besser auszuschöpfen. Längst zieht sich dieses Streben nach Perfektion durch alle Bereiche. Bessere Jobs, mehr Gehalt, attraktivere Körper, schlauere Kinder - Tausende Ratgeber wiederholen das immergleiche Mantra: Du bist nicht so glücklich, wie du sein könntest. Und das ist deine eigene Schuld. Denn das perfekte Leben ist machbar.

Indes: Weil jeder die Chance hat, den Jackpot des Lebens zu knacken, ist die Konkurrenz gewaltig. "Jeder ist seines Glückes Schmied" - es ist nicht nur eine Verlockung und ein Versprechen, sondern auch eine zermürbende Pflicht.

Der Optimierungsstrudel erfasst schon die Kleinsten. Jedes vierte Kind bis acht Jahre wird mittlerweile zur Fördertherapie geschickt. Wo Bildung als Ticket für Aufstieg und Erfolg gilt, bewerten überwältigende drei von vier Eltern, verstört durch die Pisa-Studien, den Schulabschluss ihres Kindes als "persönlich sehr wichtig". Seit zudem die Hirnforschung als wissenschaftliche In-Disziplin beinah im Wochentakt neue Erkenntnisse ausspuckt, ist sie zum Sekundanten einer aufstrebenden Frühförderindustrie geworden. Es geht um Zeitfenster, um das Vernetzen von Synapsen, um die Koordination von rechter und linker Gehirnhälfte. Aber im Grunde immer um eines: dem Nachwuchs einen Startvorteil zu verschaffen im Rattenrennen, das Eltern für die Zukunft erwarten.

Davon profitiert eine Boom-Branche. Im Bereich Frühpädagogik gilt Deutschland als der am schnellsten wachsende Markt weltweit. 125 Milliarden gierige Gehirnzellen warten in den ersten drei Lebensjahren auf Kost - welche Mutter brächte es übers Herz, ihnen diese zu verweigern? Es gibt keine Entschuldigung mehr, auch der letzte Hinterwäldler hat begriffen, dass das Hirn gerade in der Zeit vor der Einschulung Höchstleistung bringt - wenn man es nur lässt.

Das Drama des begabten Kindes: Leander, Manager von morgen

Der Markt bietet alles für einen erfolgreichen Start in die Globalisierung: Englischkurse etwa, wo Babys wohlig glucksen oder schlafen und dennoch binnen drei Monaten 550 englische Wörter aufsaugen. 2007 gingen 23.000 Kinder zum Marktführer, in die Helen-Doron-Sprachzentren; ihre Zahl verdoppelte sich jährlich, alle paar Wochen eröffnete eine neue Filiale. Wer Englisch zu old-fashioned findet, kann sein Kind am China Coaching Center ja Chinesisch lernen lassen.

Sprachen sind nicht alles. "Baby Einstein", "Baby Bach" oder "Baby Shakespeare" auf DVD oder CD machen die Kleinen, angeleitet von niedlichen Stoffhasen, mit großen Kulturgütern vertraut. Das derzeit wohl ehrgeizigste Förderprogramm bietet das US-Unternehmen Fastrackids, das 2007 mit einer Filiale in Berlin startete. "Ist Ihr Kind darauf vorbereitet, in unserer sich ständig verändernden Welt Erfolg zu haben?", heißt es auf der Homepage listig, ein Appell an die Eltern-Urangst, die wichtigste Zeit im Leben ihrer Kinder nicht mit Sandkasten und schnöden Malbüchern zu verplempern.

Der Lehrplan liest sich wie eine Mischung aus gymnasialer Oberstufe und Traineeprogramm in einem internationalen Konzern: Mathematik, Technologie, Kreativität, Astronomie, Rhetorik und Kreativität sollen die Drei- bis Sechsjährigen lernen. Dazu Ökonomie ("Sie nehmen an einer imaginären Marktstudie teil und denken sich eine Werbestrategie aus") sowie das Fach "Ziele und Lebensstrategien". Das komplette Angebot für zwei Jahre kostet mehrere tausend Euro, abschrecken lassen sich davon nur wenige.

Überdrehte Hubschrauber-Eltern: Wächst denn das Gras schneller, wenn man daran zieht?

Fünfjährige sollen "Tomorrow's leaders" werden, die Führungskräfte von morgen, schnell, klug, mobil. Fastrackids unterrichtet weltweit in rund 40 Ländern, mit den gleichen Inhalten und Methoden, damit Kinder beim Umzug von München-Grünwald nach Peking oder New York keine Nachteile haben. Der Konzern hat den Ehrgeiz globalisiert.

Lernforscher streiten noch, ob das Wissensbombardement Säuglinge und Kleinkinder tatsächlich klüger macht. In Wahrheit geht es (auch) darum, die Eltern glücklich zu machen. Viele Frauen in der Mittelschicht geben ihren Beruf zumindest zeitweise auf und investieren nun die Leidenschaft, die sie zuvor in den Job steckten, ins Kind. Dieses Zurücktreten soll sich wenigstens lohnen.

Das Signal lautet: Wir kümmern uns, wir nehmen unsere Verantwortung ernst - im Unterschied zur Unterschicht, die ihre Brut mit Zuckercola vor die Glotze packt. Es ist ein Statussymbol, wie einst ein Mercedes, nur viel subtiler. Denn es zeigt seine Wirkung erst viel später: dann, wenn sich Leander (der bei Fastrackids war) und Kevin (inzwischen Experte fürs RTL-II-Programm) um Arbeitsplätze bewerben.

Bisweilen entfalten die Statussymbole ihre Distinktionskraft auch in Luxuskinderkrippen wie der frühklassizistischen "Villa Ritz" in Potsdam. Auf dem Programm steht nicht schnödes Sandkastenspiel, sondern mehrsprachige Betreuung, Bionahrung, Musizieren auf Orff-Instrumenten, Yoga, Chinesisch.

Eltern als Architekten der Kindergehirne: "Wahnsinn"

Einst sollten Kindergärten den Nachwuchs möglichst zuverlässig und unfallfrei beaufsichtigen. Heute gelten sie als erste Sprosse auf der Karriereleiter. Im Markt, der vom Optimierungsstreben der Eltern profitiert, stieg die Zahl privat-gewerblicher Kindertageseinrichtungen (ohne die privat-gemeinnützigen wie etwa von kirchlichen Trägern) laut Statistischem Bundesamt von rund 200 im Jahr 2002 auf knapp 700 im Jahr 2008.

Nun ließe sich einwenden: Wenn bei der Frühförderung ein paar Leute mitverdienen, dann ist das doch kein Beinbruch. Hauptsache, Leanders Chancen in der globalen Konkurrenz steigen. Nur ist genau das alles andere als sicher. Zahlreiche Bildungsforscher und Neurobiologen kritisieren die Lernmethoden vieler frühkindlicher Sprachschulen als "Reizüberflutung" und "völlig absurd". Bislang liegen keine Erkenntnisse vor, dass frühes Englischpauken wirklich Vorteile im Spracherwerb sichert. Generell sei die Vorstellung vieler Eltern, sie müssten die Architekten der Kindergehirne sein, "der reinste Wahnsinn", sagt die Zürcher Lernforscherin Elsbeth Stern.

Für "very important babys" ist es nicht unüblich, noch im Krabbelalter einen vollen Lernplan zu haben, mit 20 Monaten zum Französischunterricht, zur Musiktherapie oder ins Fitnessstudio gebracht zu werden. Soziologen nennen das überdrehte Herumschwirren der Eltern "Helicopter-Parenting". Und warnen, der Nachwuchs drohe dadurch unselbständig und ängstlich zu werden - nicht unbedingt klüger. Denn Gras wächst auch nicht schneller, nur weil man daran zieht.

Kleinkinder erfassen die Welt spielerisch-experimentell, nicht abstrakt. Sie müssen Dinge bis zum Ende untersuchen können - und sei es ihr großer Zeh. Wenn da plötzlich jemand mit dem ABC wedelt, stört er wichtige Entwicklungsschritte. Albert Einstein, nur mal so als Beispiel, hat weder von Fastrackids noch von Early English je gehört. Der Großphysiker war angeblich ein dickliches Kind, das gern still in der Ecke saß und - nichts tat.

  • Der Beitrag ist ein Auszug aus Klaus Werles neuem Buch "Die Perfektionierer" (siehe Kasten links). Lesen Sie nächste Woche: Karriereturbo mit Fehlzündung - warum harte Arbeit und gute Leistungen dem Chef nutzen, aber dem Aufstieg schaden können.

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