Lehren mit Hartz IV Vom Superstudenten zum Betteldozenten
Für die Germanistik war Ulrike Böhme schon nach wenigen Semestern entflammt. Spätestens nach der Zwischenprüfung machte sie keinen Hehl mehr aus dem Wunsch, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Wenn es nach Promotion und Habilitation nicht gleich mit einem Lehrstuhl klappt, könnte sie sich ja als Privatdozentin versuchen, glaubte die Berlinerin damals. Auch heute noch ist die 24-Jährige sich sicher: "Das Stöbern in alten Archiven ist meine Welt."
Dennoch änderte die Studentin ihren Berufswunsch. An den Tag kann sich die Büchernärrin noch genau erinnern. Es war vor zwei Jahren, sie war gerade mit ihrem Freund in eine gemeinsame Wohnung gezogen und brauchte eine neue Hausratsversicherung. Also rief sie bei ihrem Versicherer an, bat um den Besuch eines Vertreters - und öffnete tags darauf einem ihrer Kursleiter die Tür. "Der war zunächst auch ein wenig verdutzt und erklärte mir dann bei einer Tasse Tee, dass man von den Honoraren für Lehrveranstaltungen nicht leben könne. Also gehe er am späten Nachmittag und abends noch von Haustür zu Haustür und vermittle Versicherungen."
Thomas Oberdörfer* hat da schon etwas mehr Glück. Einerseits bietet der Nebenjob des Honorar-Lehrbeauftragten noch ein paar Anknüpfungspunkte zu seinem Fach, andererseits ist die Chance, dass er dabei Studenten trifft, recht gering. Denn Oberdörfer, der in Jugendjahren Orgelspielen lernte, musiziert in Hamburg fast täglich auf Beerdigungen. "Das muss man nicht groß vorbereiten, und von den 20 Euro, die es dafür gibt, kann ich wenigstens einkaufen gehen", berichtet der habilitierte Musikwissenschaftler.
Hartz IV für habilitierte Wissenschaftler
Die drei Lehrveranstaltungen, die der 36-Jährige pro Semester gibt, bringen nicht genug Geld ein. 15 Euro beträgt das Honorar für 45 Minuten Seminar. Pro Jahr kommt er so auf 2700 Euro, die ihm seine Universität überweist - oder 225 Euro im Monat, wobei er sich als Selbstständiger um Steuern und Versicherung selbst zu kümmern hat.
"Davon kann niemand leben", sagt der Akademiker. "Der zeitliche Aufwand umfasst ja nicht nur die sechs Zeitstunden pro Woche, man muss die Seminare vorbereiten, Hausarbeiten und Klausuren korrigieren, Studenten betreuen - was zusammen mindestens noch einmal wöchentlich sechs Stunden dauert." Für den Wissenschaftler war das Hartz-IV-Gesetz darum ein Segen: "Seit es eingeführt wurde, erhalte ich Hilfe zum Lebensunterhalt und einen Mietzuschuss."
Hartz IV für habilitierte Wissenschaftler oder einen Nebenjob als Versicherungsvertreter - nach Aussage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sind die beschriebenen Fälle keine Einzelschicksale. Einer Studie des GEW-Landesverbandes Berlin zufolge haben zwei Drittel der 4000 Lehrbeauftragten der Berliner Hochschulen weniger als 1000 Euro Einkommen im Monat. Ein Bild, das sich durchaus auch auf die Situation an anderen Universitäten übertragen lässt.
Die Billigheimer sichern den Lehrbetrieb
Die Gewerkschaft kämpft für diese Niedrigverdiener darum gleich an zwei Fronten. Zum einen fordert sie, dass Lehrbeauftragte ein angemessenes Gehalt bekommen: "Nach unseren Berechnungen ist für diese Gruppe das Drei- bis Vierfache der derzeit an den Universitäten üblichen Honorare nötig", erläutert Andreas Keller, Leiter des Vorstandsbereichs Hochschule und Forschung der GEW. "Das ist keinesfalls zu hoch gegriffen, wenn man die Honorare beispielsweise auf dem freien Markt für Weiterbildung als Grundlage nimmt." Hinzu kommt, dass Lehrbeauftragte mit ihrem akademischen Hintergrund alles andere als minderqualifiziert sind.
Zum anderen aber fordert die Gewerkschaft wieder einen Rückgriff auf den ursprünglichen Sinn externer Lehraufträge. Eigentlich "sollen die nur eine interessante Ergänzung zum ganz normalen Bildungsbetrieb sein", sagt GEW-Pressesprecher Ulf Rödde, "doch in Zeiten großer Einsparungen an den Universitäten werden auch Basis-Angebote von Lehraufträgen abgedeckt."
Die billigen Lehrkräfte machen mittlerweile zwischen 10 und 50 Prozent des gesamten akademischen Betriebs aus, schätzen die Experten. "Darum fordern wir, dass Lehrkräfte, die eine bestimmte Anzahl an Semesterwochenstunden halten, eine hauptberufliche Anstellung erhalten", erläutert Andreas Keller.
Wobei die Lehrveranstaltungen externer Experten durchaus ihren Reiz haben, findet Ulrike Böhme. Sie selbst hat beispielsweise zwei Semester lang ein Seminar zu Schauspieldramaturgie besucht, in dem ein namhafter Regisseur regelmäßig Studenten in verschiedene Theater einlud. "Da haben wir Einblicke in die Theaterwelt bekommen, die man sonst im normalen Unibetrieb gar nicht hätte", sagt die Studentin.
Es geht noch billiger: Kurse zum Nulltarif
Genau für derartige Veranstaltungen seien Lehraufträge auch weiter notwendig, betont der Gewerkschaftsvertreter: "Aber inzwischen gibt es eine große Anzahl gut ausgebildeter Akademiker, die sich ausschließlich mit solchen Aufträgen über Wasser halten."
Viele der Unterbezahlten sind jedoch froh, wenigstens ein kleines Honorar zu erhalten. Denn im heutigen akademischen Betrieb gibt es nicht wenige, die Kurse gleich ganz umsonst halten: Selbstständige Privatdozenten, die in der Warteschleife auf einen freien Lehrstuhl hängen, sind nämlich zur Lehre verpflichtet. Ansonsten verlieren sie ihren Status und die Lehrbefähigung, die sie dringend brauchen, falls sie irgendwann einmal ein Ruf auf einen Lehrstuhl ereilt.
Die Universitäten wissen natürlich um diese Zwickmühle und lassen Privatdozenten darum gern ganz honorarfrei unterrichten. "Dagegen kann man eigentlich nichts machen", klagt der Wissenschaftler Thomas Oberdörfer. "Diesen Privatdozenten wird ja im Gegenzug signalisiert, dass sie bei Berufungsverfahren für Lehrstühle bessere Karten hätten - und ich kenne keinen Kollegen, der da lange zögern würde."
Von Hagen Kunze, Monster.de