Lückenbüßer in Hessen Mein Lehrer lebt im Sommer von Stütze
Heute beginnen in Hessen die Sommerferien, und auf Petra Giessler*, 30, wartet ein seltsames Ritual. Same procedure as every year: Sie wird sich arbeitslos melden. Schon zum vierten Mal und eigentlich nur pro forma, denn die Grundschullehrerin aus dem Landkreis Fulda hat einen Job - pünktlich zum Ende der Ferien kann sie wieder an ihrer Schule anfangen. Auch für das nächste Jahr hat sie schon eine mündliche Zusage. Nur in den Sommerferien wird sie nicht bezahlt.
Sie gehört zu den Lehrkräften, die mit Zeitverträgen als Vertretungskräfte angestellt sind. Ihre missliche Lage habe Methode, meint Giessler: Ihr Arbeitgeber, das Land Hessen, spare eineinhalb Monatsgehälter und finanziere so einen Teil seiner Bildungsausgaben über die Sozialkassen. Das Schulamt achtet darauf, dass der rechtliche Rahmen nicht verletzt wird: Wenn die Kollegin Müller für zwei Jahre in Elternzeit geht, springt Giessler nicht etwa für die volle Zeit ein, sondern nur für ein Jahr. Im nächsten Jahr wird ihr Vertrag dann als Ersatz für die Kollegin Schmidt abgewickelt. Das muss so sein, andernfalls hätte Giessler das Recht auf eine reguläre Festanstellung. Sich offen darüber zu beschweren, würde die Pädagogin nicht wagen: "Man befürchtet natürlich, dass man davon Nachteile hat."
Befristete BAT-Verträge im Schuldienst sind nichts Neues. Konzipiert waren sie ursprünglich als Notlösung bei Krankheitsfällen, sagt Dorothee Henzler, schulpolitische Sprecherin der FDP im hessischen Landtag. Im Sparjahr 2004 wurden dann 1000 Beamtenstellen gestrichen, seitdem knirscht es gehörig im Räderwerk. Doch wegen der demografischen Entwicklung wolle sich das Land nun nicht mit Neueinstellungen binden, so Henzler: "In Hessen ist man dazu übergegangen, mit Fristverträgen auch den regulären Unterricht abzudecken" - besonders häufig an Grundschulen. Hier ist der demografische Effekt zuerst zu spüren: Für weniger Kinder werden auch weniger Lehrer gebraucht. Gleichzeitig arbeiten in der Primarstufe meist junge Frauen, die irgendwann eine Familienauszeit nehmen. Dadurch ergibt sich erhöhter Vertretungsbedarf.
Das Modell Lehrer-Saisonarbeit praktiziert nicht nur Hessen, aus anderen Ländern wie Nordrhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein berichten SPIEGEL-ONLINE-Leser über ganz ähnliche Fälle.
"Man muss wieder gehen, die Motivation sinkt"
Auch Kerstin Michel* springt immer wieder ein, bekommt einen Vertrag für acht Wochen oder ein paar Monate, dann wieder eine Verlängerung, so dass sie am Ende durchgängig beschäftigt ist - die Sommerferien ausgenommen. Um für diese Zeit versorgt zu sein, muss sich die Grundschulpädagogin aus Kassel beim Arbeitsamt melden. Verpasst sie die Frist um einen Tag, gibt es eine Woche lang kein Geld.
"Psychisch total anstrengend", findet Michel das. Jedes Jahr bewirbt sie sich neu beim Schulamt Kassel, füllt Formulare aus, reicht eine Beurteilung ihres Schulleiters ein - ohne Ergebnis. "Warum man keine Stelle bekommt, wird nicht erklärt", sagt die 31-Jährige. Wahrscheinlich hat sie mit Kunst, Deutsch und evangelischer Religion die falschen Fächer. "Sie können natürlich Einspruch erheben, aber das gibt einen Eintrag in die Akte, und das verschlechtert wieder Ihre Chancen", heißt es dann. Also schleppt sie sich seit zwei Jahren mit gestückelten Lehraufträgen durch den Schuldienst: "Die Motivation sinkt, weil man weiß, man muss gehen."
Unter dem Flickwerk leidet die Kontinuität. "Die Kollegen sind über Nacht weg, wenn sie eine Stelle kriegen", ärgert sich Helmut Deckert, Leiter der Fliedetal-Grundschule in Flieden und Landesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung. Ein Einsatz über zwei Jahrgänge ist für Grundschullehrer normal. Doch mit den Vertretungskräften kann Deckert nicht planen: Wie soll er sie in einer dritten Klasse einsetzen, wenn sie in der vierten nicht mehr da sind, um die Eltern bei der Wahl der weiterführenden Schule zu beraten? Das System treibt seltsame Blüten: In mancher Klasse wechselt viermal im Jahr die Lehrkraft, und weil Verträge oft erst kurzfristig geschlossen werden, wissen die Eltern nicht, wer nach den Sommerferien ihr Kind unterrichten wird.
Das hessische Kultusministerium jedoch bestreitet einen Missstand. "Ein großer Anteil der über BAT-Verträge Beschäftigten erfüllt die formalen Voraussetzungen für eine Verbeamtung oder eine unbefristete Einstellung nicht", hieß es in der Antwort von Kultusministerin Karin Wolff (CDU) auf die Anfrage eines SPD-Abgeordneten, der die Lehrer-Verschiebung als "Missbrauch" der Sozialversicherung einstufte. "Auch gibt es Lehrer, die aus freien Stücken auf eine Verbeamtung zugunsten eines Angestelltenverhältnisses verzichten." Beides trifft auf Petra Giessler und Kerstin Michel nicht zu.
Für immer auf dem Vertretungskarussell?
Das Ministerium argumentiert weiter, befristete Verträge seien vielfach der Einstieg zur Festanstellung. Oft haben die Betroffenen jedoch keine Chance, aus dem Vertretungskarussell auszubrechen. Schuld daran ist die Rangliste, nach der die Beamtenstellen vergeben werden. Petra Giessler hatte mit ihren Allerweltsfächern Deutsch und Sachkunde vor vier Jahren mit der Note 2,6 ein durchschnittliches Examen hingelegt. Die begehrten Stellen wurden unter Absolventen mit besserer Note oder besonders gefragten Fächern verteilt, die höher auf der Liste standen.
Über die Jahre wird Giessler die Berufserfahrung zwar auf der Rangliste angerechnet. Das bringt ihr aber gerade mal zwei Punkte und reicht nicht aus, um die nachrückenden Einserkandidaten auszustechen. So bleiben die Befristeten oft jahrelang in der Warteschleife.
Auch gegen die allsommerliche Ebbe auf dem Konto können sie wenig unternehmen. Das Kultusministerium erlaubt ihnen zwar, einer anderen Arbeit nachzugehen, in der Praxis ist aber keine zu finden. Wer sich für sechs Wochen arbeitsuchend meldet, wird gar nicht ernsthaft in die Liste zur Vermittlung aufgenommen.
Außerdem steht jedem Pädagogen eigentlich die bezahlte, sechswöchige Auszeit zu, meint Hartwig Schröder, Justiziar der GEW Hessen. In der Unterrichtszeit beträgt die Arbeitsbelastung nach einer Berechnung des Kultusministeriums 45 Stunden und liegt damit deutlich über den 38,5 Stunden, die im Angestellten-Tarifvertrag vorgesehen sind. Die Sommerferien sind also - auch nach der Argumentation des Ministeriums - ein Ausgleich dafür. Den bekommen nur die befristet Beschäftigten nicht. Schröder hat auf diesen Widerspruch auch schon im Gerichtssaal hingewiesen, bisher aber kein Gehör gefunden.
Petra Giessler möchte das Bundesland nur ungern verlassen und anderswo ihr Glück suchen. "Auf der anderen Seite würde ich natürlich gern mehr in die Zukunft planen", sagt sie. Die Chancen auf eine schnelle Lösung des Problems stehen schlecht, meint Kerstin Michel: "Die Frau, die an unserer Schule als letzte verbeamtet wurde, hat vorher sieben Jahre lang Lehraufträge gemacht."
(* Name geändert)