Mobbing durch Lehrer "Bärbelchen, geh zu Stollwerck und lutsch die Kamellen rund"
Es gibt Menschen, die sind erfolgreich, wenn andere längst hingeworfen hätten. Sie überwinden Hürden, an denen andere scheitern. Was zeichnet diese Menschen aus, die es gegen viele Widerstände geschafft haben? Dieser Frage geht SPIEGEL ONLINE in fünf Multimedia-Porträts nach. Um die Antwort vorwegzunehmen: Es ist Ehrgeiz, ja. Aber nicht nur der.
"Bärbelchen, du gehst mal besser zu Stollwerck und lutschst die Kamellen rund." Sätze wie diese bekam Barbara Sengelhoff, heute 68, von ihren Lehrern am Gymnasium zu hören, vor der ganzen Klasse. Als sie einer Lehrerin sagte, dass sie Architektin werden wollte, habe diese entgegnet: "Du bist zu doof für Mathe."
Ein von Nonnen geleitetes Kölner Gymnasium in den Sechzigerjahren, ein Mädchen, das sich missverstanden, missachtet, ausgegrenzt fühlt. Von ihren Lehrern sei ihr "fast das Rückgrat gebrochen" worden, sagt Sengelhoff. Die meisten Mitschülerinnen erduldeten die Gemeinheiten der Lehrer stumm, nur wenige stemmten sich wie Barbara Sengelhoff gegen den damals üblichen Umgang mit renitenten Schülern.
"Demütigungen waren an der Tagesordnung", erinnert sie sich. Auf dem Schulweg weinte sie oft, vor Verzweiflung und Wut. In Mathe und Latein hatte sie nur Fünfen und Sechsen. Unbequem sei sie gewesen, erinnert sich Sengelhoff. Sie habe Dinge hinterfragt, viel diskutiert, wollte nicht nur pauken, sondern freier und selbstbestimmter lernen.
In der zwölften Klasse musste sie sich einmal in die Ecke stellen, weil sie im Unterricht gequatscht hatte. "Eine Stunde stand ich hinter der Landkarte - und das Schlimmste war, dass ich das damals mitgemacht und stumm ertragen habe", sagt Sengelhoff.
Als sie schließlich Abitur machte, 1966, gab es viele Lehrer, die ihr nicht gratulierten. "Etliche haben mir das Abitur nicht zugetraut und hätten es mir am liebsten verweigert", erzählt die Frau mit den ungezähmten, weißen Locken. Sie lacht erst, wird dann nachdenklich. "Die Demütigungen bleiben, das Gefühl ist bis heute da."

Schule in den Sechzigerjahren: Tränen auf dem Heimweg
Barbara Sengelhoff hätte sich nach dem Abitur von allem abwenden können, was mit Schule zu tun hat. Sie hätte die quälenden Erinnerungen an ihre eigene Schulzeit verdrängen, begraben, einfach weitergehen können. Doch sie tat das Gegenteil: Sie wurde Lehrerin, später auch Rektorin. Sie wollte zeigen, dass es auch anders geht. Dass kein Kind auf dem Schulweg verzweifeln muss.
Jetzt sitzt sie im Direktorenzimmer einer Kölner Grundschule - obwohl sie eigentlich schon pensioniert ist. Doch die Schulbehörde hat Sengelhoff aus dem Ruhestand zurückgeholt, um an der Schule an zwei bis drei Tagen pro Woche auszuhelfen.
Sengelhoff teilt das Büro mit der Leiterin des offenen Ganztags, die Schreibtische der beiden Frauen stehen über Eck. Überall liegen Papierstapel, auf dem Besprechungstisch ist kaum Platz für die Kaffeetassen. Auf dem Boden stehen Kartons mit Materialien. Der ganze Raum signalisiert: Hier wird kreativ gearbeitet, nicht repräsentiert.
Die Tür zum Schulflur steht offen, ein Junge kommt herein, um zu sagen, dass er jetzt nach Hause geht. Für die Grundschule ist er zu alt, vielleicht 15 oder 16 Jahre. "Ein Flüchtling, der bei uns ein Praktikum macht", erklärt Sengelhoff, nachdem sie ihn verabschiedet hat. "Ein ganz toller Kerl." In ihrer Stimme liegt eine Wertschätzung, die sie selbst in der Schule selten gespürt hat.
Es gab damals eine Lehrerin, die ihr half, das Gymnasium zu ertragen. Liselotte Freusberg war Kunsterzieherin. "Ich durfte bei ihr immer malen, fand meinen Ausgleich", sagt Sengelhoff. Freusberg zeigte dem Mädchen: Lehrer sein geht auch anders. "Sie hat mir deutlich gemacht, dass es auf die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern ankommt. Darauf, dass man Kinder ernst nehmen und fördern muss, mit all ihren Besonderheiten."
Es sollte 49 Jahre dauern, bis Sengelhoff ihre alte Schule wieder betrat. Ihre eigenen Kinder hatte sie, obwohl sie damals in der Nähe wohnte, nicht dort angemeldet. Im vergangenen Jahr ging sie zum ersten Mal doch wieder hin, für ein Flüchtlingsprojekt. "Die geflohenen Kinder brauchen Unterstützung und Kontakt auf Augenhöhe", sagt sie. Dafür reißt sie zur Not auch ihre eigenen Schutzmauern ein.
Ihre Eltern hätten sie zwar durch Zuspruch unterstützt, erinnert sich Sengelhoff. Zur Schule zu gehen, gar den Lehrern offen zu widersprechen - das trauten sie sich aber nicht. So versuchten sie, die Tochter mit Anreizen zu guten Schulleistungen zu motivieren. "Ich musste in der dritten und vierten Klasse jeden Tag mein Heft vorzeigen. Wenn die Note schlechter als eine Drei war, gab es keinen Nachtisch. Bei einer Eins gab es einen Extra-Kaugummi vom Büdchen." Ein einziges Mal schaffte Barbara das und wurde vom Vater belohnt.

Barbara Sengelhoff im Klassenzimmer
Foto: Maria FeckNach der Schule entschied sich Sengelhoff für "das schwierigste Lehramt, das ich mir vorstellen konnte: Sonderpädagogik". Auch da wurden Kinder aussortiert, da wollte sie sich einmischen. Sie ging nach dem Examen zunächst an eine Förderschule, nach 13 Jahren wechselte sie an eine integrative Grundschule.
"Egal, was ein Kind macht, es gibt einen Grund dafür", sagt Sengelhoff. "Und es lohnt sich, diesen zu suchen." Sie spricht nicht von schwierigen Kindern, sondern nennt sie "verhaltensoriginell".
Ein Junge kam immer sehr aufgekratzt in die Schule und nervte das Kollegium mit seiner Quirligkeit. "Bis wir herausgefunden haben, dass er zu Hause kaum zum Schlafen kommt", erzählt Sengelhoff. "Wir haben ihm dann unter der Treppe im Schulflur einen kleinen Raum mit einer Matratze eingerichtet. Dort konnte er sich zurückziehen und ein bisschen schlafen." Im Unterricht gab es danach kaum noch Schwierigkeiten.
Im Alltagstrott der Schule falle es vielen Lehrern schwer, allen Kindern gerecht zu werden. "Wenn man anders reagiert, als alle im ersten Moment erwarten, kann man viel mehr bewegen", sagt sie.
An der Kölner Uni gibt Sengelhoff Seminare für angehende Lehrkräfte und als freie Beraterin und Begleiterin für Schulentwicklung mischt sie sich da ein, wo Strategien für einen anderen Schulunterricht gesucht werden, der mehr auf die Kinder und ihre Eigenheiten eingeht.
Dass sie trotz aller Widerstände das Abitur gemacht hat, Lehrerin geworden ist, schließlich sogar Schulleiterin und Schulberaterin - das verdanke sie ihrer Kämpfernatur, sagt Sengelhoff. Und dem Zuspruch von Frau Freusberg, die ihr damals immer wieder versichert habe: "Du schaffst das."
Als sie dann zur Schulleiterin ernannt wurde, rief sie ihren alten Klassenlehrer an. Den, der ihr allenfalls den Hilfsjob in der Süßwarenfabrik zugetraut hatte. "Ich bin jetzt Schulleiterin", sagte sie zu ihm. Barbara Sengelhoff muss lachen, als sie daran denkt. "Und wissen Sie, was er geantwortet hat? Er sagte nur: 'Es war schon immer anstrengend mit dir.'"