Geboren ohne Arme und Beine "Ich bin froh, dass ich keine Schuhe brauche"
Es gibt Menschen, die sind erfolgreich, wenn andere längst hingeworfen hätten. Sie überwinden Hürden, an denen andere scheitern. Was zeichnet diese Menschen aus, die es gegen viele Widerstände geschafft haben? Dieser Frage geht SPIEGEL ONLINE in fünf Multimedia-Porträts nach. Um die Antwort vorwegzunehmen: Es ist Ehrgeiz, ja. Aber nicht nur der.
Janis McDavid mag es nicht, seine Gäste im Stehen zu begrüßen. Dann reicht er ihnen höchstens bis zum Bauchnabel und das fühlt sich nicht gut an.
Doch diesmal geht es nicht anders. Die WG, in der er wohnt, wenn er in Berlin ist, hat keinen Aufzug. Den elektrischen Rollstuhl, 120 Kilo, kann niemand die Treppen hochtragen. Also steht Janis McDavid im Flur der Altbauwohnung, auf knarzenden Dielen. Er schaut schräg nach oben, streckt zur Begrüßung seinen verkürzten rechten Oberarm aus und lächelt. »Hallo, ich bin Janis.«
Der 25-Jährige weiß, dass er viele Menschen, die ihn zum ersten Mal sehen, verunsichert. Er hat keine Arme und Beine. Das ist ungewohnt, für manche vielleicht abstoßend. »Ich muss ihnen helfen, sich zu entspannen«, sagt er. Er bemüht sich dann, extra viel Normalität und Sicherheit auszustrahlen.
Manchmal fragen ihn Leute, ob er kurz ihre Jacke halten kann. »Das ist das Beste, was mir passieren kann«, sagt McDavid. Dann weiß er: Er hat es wieder geschafft, der Behinderung die Hauptrolle in seinem Leben abzuluchsen.
McDavid hoppelt zum Esstisch, beugt seinen Oberkörper auf die Sitzfläche eines Stuhls, schwingt sich hinauf, jetzt ist er endlich auf Augenhöhe.
»Als Kind wollte ich Motorradpolizist werden«, erzählt er. Doch dann fiel sein Blick eines Morgens in den Garderobenspiegel, und der Traum zerbarst. Ein Polizist ohne Arme und Beine? Janis war acht Jahre alt, als er plötzlich seine Behinderung erkannte. »Es war ein Schock«, sagt er.

Janis McDavid: Ohne Gliedmaßen um die Welt
Als Jugendlicher schämte er sich vor Fremden für seine Art, Treppen hochzuhüpfen. Er vermied es, sich ohne Rollstuhl zu zeigen. Bis er verstand, dass ihn Scham nur noch mehr einschränkt, genau wie schlechte Laune. "Ich könnte mich über vieles aufregen", sagt McDavid. "Aber es würde mich nicht weiterbringen."
Meistens schafft er es, sich nicht zu ärgern, wenn am Bahnhof eine Horde Fußgänger vor ihm den Aufzug nimmt und er deshalb schon wieder den Anschlusszug verpasst. Wenn er sich doch aufregt, tut er es zu Hause, wo ihn niemand sieht.
In Bochum hat McDavid eine behindertengerechte Wohnung. In Berlin, wo er gern und oft ist, wohnt er bei Freunden. Seine Mitbewohner lassen die Türen in dem Altbau stets angelehnt, weil McDavid schlecht an die Klinken kommt.
Auf dem Kachelofen im Wohnzimmer liegt ein Dutzend Paar Turnschuhe seiner Freunde. "Ich bin froh, dass ich keine Schuhe brauche", sagt McDavid und lacht. "Ich hätte Tausende." Humor erleichtert den Alltag. "Ich kann über mich selbst lachen", sagt McDavid. "Das ist eine der wichtigsten Fähigkeiten." Doch auch dann ist der Alltag noch immer schwer.
McDavid kann nie einfach so irgendwo hinfahren. Wenn er mit Bus und Bahn quer durch Berlin will, sucht er sich vorher mehrere Alternativrouten heraus - falls an den Umsteigebahnhöfen ein Aufzug kaputt ist. Wenn er essen gehen will, informiert er sich vorher, ob das Restaurant barrierefrei ist.
"Ich wünsche mir manchmal, dass die Dinge einfach nur einfacher sind", sagt er. Dass er auch in die Straßenbahn reinkommt, wenn es geregnet hat - wenn die Reifen seines Rollstuhls durchdrehen.
Manche Menschen starren ihn an oder wechseln die Straßenseite, wenn sie ihn sehen. Er hat gelernt, nicht auf sie zu achten. "Wenn etwas meinem Selbstwertgefühl gefährlich werden könnte, blende ich es aus", sagt er.
Diese Strategie hat er sich selbst beigebracht, und noch viele andere: Behutsam nimmt er den Rand des Saftglases zwischen seine Lippen, hebt das Glas mit seinem kurzen rechten Arm an und balanciert es darauf, während er trinkt.
Er isst ohne Besteck, mit den Lippen. Er schreibt mit dem Mund, der Stift klemmt zwischen den Backenzähnen, immer rechts. Mit links kann er nicht schreiben. Seine Hemden hebt er mit einem Holzstab an, der etwa so lang ist wie der Arm, den er nicht hat. Dann schlüpft er hinein.
Er hat selbst herausgefunden, wie das geht, bei anderen konnte er sich wenig abschauen. Auf Kindergeburtstagen war er meist beides: der Held mit dem coolen Rollstuhl und der Sonderling, der Fragen zu seinen fehlenden Gliedmaßen beantworten musste.
McDavid hat vier Eltern. Zwei in Hamburg, die ihn zeugten. Zwei in Bochum, dort wuchs er auf. Es war sein vielleicht größtes Glück, dass seine leiblichen Eltern ihn Profis anvertrauten, weil sie sich nicht vorstellen konnten, ein Kind ohne Arme und Beine großzuziehen. "Meine Bochumer Eltern haben mir sehr geholfen, indem sie mir nicht geholfen haben", sagt McDavid. Es gab zu Hause keine Strohhalme, anfangs auch keinen Aufzug.
Als in der fünften Klasse eine Rodelfahrt ins Sauerland anstand, fuhr Janis selbstverständlich mit. Er wurde mit einem Gurt auf dem Schlitten festgeschnallt, trug einen Helm, ein Mitschüler übernahm das Lenken. "Es wäre viel gefährlicher gewesen, wenn ich zu Hause geblieben wäre", sagt McDavid. Dann wäre er vielleicht der Einsamkeit und der Faulheit verfallen, es wäre kein Kämpfer aus ihm geworden.
McDavid kann Auto fahren, mit einem speziell umgebauten Sprinter. Er kann andere Menschen inspirieren. Er kann reisen. Er war schon in Brasilien, Vietnam, Burma. Sein voriger Urlaub ging nach Kuba, mit Freunden. Er hat sich vorgenommen, jedes Jahr ein neues Land zu entdecken. "Ich lass mich nicht behindern", sagt er.

Reise nach Vietnam
Foto: PrivatDoch es gibt Dinge, die er tatsächlich nicht kann. Eine Tür aufschließen zum Beispiel. Oder im Supermarkt seine Einkäufe aus dem Regal holen. Oder allein duschen. Oder in einer Fußgängerzone mal keine Blicke auf sich ziehen.
Er muss oft um Hilfe bitten, obwohl er nicht schwach sein will. Manchmal nervt das ganz schön. Es gibt Tage, an denen McDavid nicht einkaufen geht, weil ihm die Energie fehlt, um die Kassiererin humorvoll und selbstsicher zu bitten, sich aus seinem Portemonnaie zu bedienen.
Und es gibt Tage, an denen helfen ihm Menschen, ohne zu fragen, ob er Hilfe braucht oder will. Sie spießen ihm im Restaurant Kartoffeln auf die Gabel und wollen ihn füttern. Das nervt noch mehr.
McDavid studiert Wirtschaftswissenschaften an der Universität Witten-Herdecke. Er hält bundesweit Motivationsvorträge, demnächst geht er mit seinem neuen Buch auf Lesereise. Er möchte zeigen, dass jeder etwas aus seinem Leben machen kann. Und dass Behinderte oft gar nicht so behindert sind, wenn sie niemand behindert.
"Ich bin sehr glücklich, weil ich etwas tue, das mir Spaß macht und weil ich etwas bewegen kann", sagt er. Es ist ein persönlicher Erfolg, aber kein finanzieller. Solange McDavid berufstätig ist, muss er sich an den Kosten für seinen Rollstuhl, sein Auto und an anderen staatlichen Hilfen beteiligen und jeden Monat einen Teil seines Einkommens ans Sozialamt abgeben.
Mit dem geplanten Teilhabegesetz der Bundesregierung sollen Behinderte besser gestellt werden. Demnach dürfen sie ab 2017 zwar mehr als bisher 2600 Euro ansparen. Doch ihr Erspartes bleibt weiter gedeckelt, wenn sie Unterstützung brauchen - in der Regel liegt die Grenze bei 27.600 Euro. Das macht es schwer, sich große Träume zu erfüllen. Hat ein Behinderter mehr auf dem Konto, bezahlt der Staat keine Hilfen.
McDavid ist homosexuell. Wenn er sich entscheidet, eines Tages mit jemandem zusammenzuleben, werden auch Einkommen und Vermögen seines Partners angerechnet. Das soll sich erst im Jahr 2020 ändern und dann auch nur für einen kleinen Teil der Behinderten.
"Ich werde bewusst arm und ledig gehalten", sagt McDavid. Es klingt nicht verbittert, denn es würde ihm nichts bringen zu verbittern. Aber kräftig auf den Tisch hauen, das würde er manchmal schon gern.