Optimierungswahn Fluchtwege aus der Perfektionsfalle

Fluchtversuch: Die Maximierermaxime taugt nichts
Bessere Jobs, attraktivere Körper, schlauere Kinder - der Wunsch nach dem perfekten Leben ist zum Credo des 21. Jahrhunderts geworden. Getrieben von der Individualisierung der Gesellschaft und einem Wertewandel, der Selbstentfaltung zum Leitbild erhob, verwandelten sich die rasant gestiegenen Chancen in einer freieren, globalisierten Welt rasch in Pflichten: Der Einzelne ist in viel stärkerem Maße verantwortlich für Erfolg oder Scheitern, ob im Beruf, im Studium, in der Erziehung oder auch nur im alltäglichen Konsum. Er wird zum "Unternehmer seiner selbst", ständig damit beschäftigt, die Eigenrendite zu maximieren.
Davon hat er natürlich auch selbst etwas - irgendwie, irgendwo, irgendwann. Zunächst aber profitieren viele andere Spieler: boomende Bildungsanbieter wie Nachhilfeinstitute und Privatschulen. Eine wuchernde Lebenshilfeindustrie mit Ratgeberliteratur und Coaches für alle Gelegenheiten. Unternehmen, denen wir als "aktive Kunden" freudig teure Serviceleistungen abnehmen. Sowie ganze Lifestyle-Branchen, die vom Wunsch nach dem ganz Besonderen leben.
Der Einzelne dagegen droht sich in den Paradoxien der Perfektionierung zu verheddern, wenn er versucht, allen möglichen Ansprüchen gerecht zu werden, mit dem Ergebnis, dass er nichts richtig kann. Weil wir uns stets an Vorgaben von außen orientieren, vergessen wir, uns auf das zu konzentrieren, worin wir wirklich gut sind. Und schließlich: Wenn alle den gleichen Idealen nacheifern, sind am Ende möglicherweise alle perfekt - aber niemand ist mehr einzigartig. Und das war doch wohl das Ziel der Optimierung: herauszuragen aus der Masse, etwas Besonderes zu sein.
Einfach mal lockerlassen...
Was also tun? Wie sehen die Fluchtwege aus der Optimierungsfalle aus? Als Erstes gilt es, sich von einem langjährigen, treuen Begleiter zu verabschieden: dem schlechten Gewissen. Dieser Begleiter wirft gern mit Sätzen um sich wie "Keine halben Sachen machen" und fabuliert vom Traumjob, von der perfekten Beziehung, von braven und aufgeweckten Kindern, von Potentialen, die es zu "heben" gilt, und von Talenten, die "verschüttet" sind. Ständig zitiert er das Baumarktmotto "Es gibt immer was zu tun" oder den Nike-Spruch "You don't win silver. You lose gold".
Was wir tun, ist immer ungenügend. Eine ziemlich frustrierende Einstellung, die um sich greift, wie der Absatz von Antidepressiva zeigt. Weltweit gaben die Menschen dafür im Jahr 2000 13 Milliarden US-Dollar aus, 2007 schon 18 Milliarden, und 2010 sollen es 26 Milliarden werden.
Tatsächlich verhindert das ewige Nörgeln genau den Erfolg, zu dem es uns eigentlich antreiben sollte. Das schlechte Gewissen und der Vergleich mit anderen treiben immer weiter in die Optimierung - und gleichzeitig entziehen sie den Mut, wirklich Außergewöhnliches zu leisten, weil sie die Latte immer höher hängen.
Die Forschung hat das bestätigt, etwa mit Untersuchungen bei Golfturnieren. Dabei fiel auf, dass allein die Anwesenheit von Superstar Tiger Woods andere Teilnehmer deutlich schlechter spielen ließ als üblich: Der Vergleich mit dem Überflieger schickte ihr Selbstbewusstsein auf Abwege wie ein schlechter Schlag den Ball in den Bunker.
...es muss ja nicht gleich die Schafsfarm in Neuseeland sein
Umgekehrt weiß die Psychologie längst, dass Erfolg viel mit Selbstwahrnehmung zu tun hat: Erfolgreiche Menschen schreiben positive Ergebnisse ihrem Können zu, Niederlagen halten sie für Pech. Eine ziemlich schlichte Strategie nach dem Motto: "Alle doof außer ich". Und doch überaus effektiv. So zeigte ein Experiment mit Versicherungsvertretern: Jene, denen Psychologen vorher eingebläut hatten, eigene Fehler auszublenden und Positives in den Blick zu nehmen ("Ich habe getan, was ich konnte. Der Kunde hatte einfach andere Bedürfnisse"), waren nachweisbar erfolgreicher.
Deshalb: einfach mal entspannen, auf die eigenen Fähigkeiten vertrauen, lockerlassen. Es müssen ja nicht gleich die Schafsfarm auf Neuseeland und selbst gestrickte Wollsocken sein. Etwas mehr Gelassenheit, ein klein wenig niedrigere Ansprüche machen auch in Berlin-Mitte entspannter - und letztlich sogar erfolgreicher.
Es gibt da nur, man ahnt es schon, eine klitzekleine Schwierigkeit. Gelassenheit kann sich nur erlauben, wer überzeugt ist, das Richtige zu tun. Einfacher gesagt: Wer weiß, was er will und kann.
Stärken muss man stärken - sonst bleiben sie keine
Viele, vielleicht die meisten Menschen wissen das nicht oder haben nur eine vage Vorstellung. Sie orientieren sich an ihrer Ausbildung oder an der Anerkennung anderer. Was sie dagegen im Überfluss haben, ist Angst, nicht das Optimale herauszuholen - in der Ausbildung, in der Partnerwahl, im Winterschlussverkauf. Die Optimierungsstrategie bietet da scheinbar Hilfe, denn sie ist ja eine Fehlervermeidungsstrategie. Wer das Beste erreicht, so viel ist klar, der kann keinen Fehler gemacht haben.
Nur ist genau dies das Kardinalproblem der Perfektionierung: Weil der scheinbar sicherste Weg, Fehler zu vermeiden, der ist, Ansprüche von außen möglichst perfekt zu erfüllen, tut der Optimierer genau das.
So arbeiten sich die meisten Menschen an ihren Schwächen ab, denn das lernt man schon in der Schule, und auch später ist ständig von "Defizite ausgleichen" oder "Mängel in den Griff kriegen" die Rede. Mit dem irritierenden Effekt, dass das, was wir am besten können, so am wenigsten gefördert wird. Die Idealvorstellung von Bewerbern, ehrgeizigen Aufsteigern ebenso wie von Menschen auf Partnersuche: möglichst breit aufgestellt sein. Wer kaum Angriffsfläche bietet, der kriegt die wenigsten Treffer ab. Stimmt vielleicht, aber er kann auch nur von allem ein bisschen und nichts richtig gut.
Energie für die Stärken statt gegen die Schwächen
Der wichtigste Fluchtweg aus der Perfektionierungsfalle ist: Stärken stärken statt Schwächen ausbügeln. Sich Aufgaben zu suchen, die für einen selbst ein Heimspiel sind. "Weltmeister in einer Sache, statt Regionalliga in vielen Disziplinen", wie es Führungskräfte-Coachin Dorothee Echter so schön formuliert.
Wie bitte? Wer seine Defizite nicht ausmerzt, bleibt sitzen, das lernen wir doch schon in der Schule. Millionen Menschen halten sich daran: Das Meinungsforschungsinstitut Gallup fragte Mitarbeiter in 100 Unternehmen auf der ganzen Welt, was ihnen am meisten hilft, sich zu verbessern. Wenig überraschend: Die überwältigende Mehrheit konzentrierte sich auf die eigenen Schwächen.
Und das soll auf einmal falsch sein? So ist es. Denn so wenden wir enorme Energien auf, um etwas zu lernen, was wir eh nicht richtig können und in dem andere immer schon gut gewesen sind. Was hat der kreative Kopf davon, sich mühsam in die Untiefen des Controllings einzuarbeiten, wo er doch darin nie so erfolgreich sein wird wie der Nerd, dem die Formeln und Bilanzen schon seit der siebten Klasse nur so zufliegen? Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Erfolg im Beruf hat, weil er seine Stärken fördert, ist um 50 Prozent höher, als wenn er seine Schwächen repariert, das haben wissenschaftliche Studien ergeben.
Es ist im Grunde nichts anderes als die alte Idee von den komparativen Kostenvorteilen, die der Ökonom David Ricardo bezogen auf den Handel zwischen mehreren Nationen entwickelte. Danach wird Schweden Schwierigkeiten haben, zum weltbekannten Weinexporteur aufzusteigen und Frankreich es nie in die erste Liga der Rentierzüchter-Nationen schaffen. Wenn sich aber beide Länder auf die Güter spezialisieren, die sie besonders günstig oder besonders gut herstellen können, dann erhöhen sie ihren jeweiligen Wohlstand.
"Spitzenrestaurants haben eine kleine Speisekarte"
Eine relativ neue psychologische Richtung, die sogenannte "positive Psychologie", hat Ricardos Erkenntnisse von der Volkswirtschaft auf den Alltag übertragen. Während sich die traditionelle Psychologie vornehmlich mit Ängsten, Zwängen und anderen dunklen Seiten der Seele befasst, die es zu beheben gilt, will die neue Richtung gezielt persönliche Stärken fördern. Statt des alten "fix what's wrong" lautet ihre Parole "build what's strong". Erste Experimente zeigen: Individuelle Stärken sind gezielt trainierbar, das wiederum erhöht die Lebenszufriedenheit.
Denn sich verbessern wollen ist ja im Grunde nicht verkehrt. Aber es auf möglichst vielen Gebieten zu tun und nur darauf zu schielen, was andere erwarten, das bringt uns nicht weiter. Um gut zu sein, müssen wir weder alles können noch überall mitmischen. Es ist wie in der Gastronomie, die der ehemalige Aldi-Geschäftsführer Dieter Brandes an diesem Punkt gern als Beispiel anführt: "Spitzenrestaurants haben eine kleine Speisekarte."
Nur so können sie ihre Stärken ausspielen, originell sein, kreativ, außergewöhnlich und einzigartig. All diese Dinge, die für Menschen noch viel wichtiger sind als für Restaurants und die ja der eigentliche Antrieb waren für das Streben nach Optimierung. Weil die Maximierung aber gar nicht mehr auffällt, wenn alle perfekt sind, kann es nicht das Ziel sein, immer weiter zu optimieren. Sondern: anders zu werden, unterscheidbar, einzigartig. Manchmal ist gut einfach besser als perfekt.
Der Beitrag ist ein Auszug aus Klaus Werles Buch "Die Perfektionierer" (siehe Kasten linke Spalte). Zuletzt schrieb er über den stressigen Alltag der Very Important Babys, über Karriereturbo mit Fehlzündungund Studenten in der Lebenslauf-Falle sowie den Kapitalismus der Gefühle.