Ossis wandern im Westen, Etappe 7: Was macht der Riesenhut im Wald?
Ossis im Westen, Etappe 7
Wenn Hilfsbereitschaft zur Überforderung wird
Hessen hält ein paar Überraschungen für die Einheitswanderer Katja und Sebastian bereit. Eine Freiluftgalerie mit Kunstwerken aus Naturmaterialien versüßt ihnen den Weg. Und vier Gymnasiasten erschrecken die Wanderer mit ihrem löchrigen Geschichtswissen.
Unseren Arbeitstag am hessischen Edersee haben wir dafür genutzt, ein Interview mit Simone und Helfried Kohl zu bearbeiten, einem Ehepaar, das mit seinen Kindern 1989 aus der DDR ausgereist ist. Als wir bei den Kohls ankamen, haben sie uns gleich in ihren Garten geführt. Vor sechs Jahren haben sie dort ihre persönliche Einheitskastanie gepflanzt - zur Erinnerung, dass die Deutschen ein Volk in einem Land sind.
Doch dieser Gedanke war es nicht, der die Eheleute zur Ausreise aus der DDR trieb. Viel mehr sei es die Erkenntnis gewesen, dass weder sie noch ihre Kinder im Sozialismus die Möglichkeit hatten, sich weiterzuentwickeln, erzählt uns Simone Kohl. "Wir waren jung und wollten reisen, viel erleben. Das war in der DDR nicht möglich."
1989 haben die Kohls einen Ausreiseantrag gestellt. Damit begannen tägliche Verhöre an ihren Arbeitsstellen. Simone Kohl durfte nicht länger als Gruppenleiterin arbeiten, und die Familie wurde von allen Seiten mit Vorwürfen bombardiert. "Wir seien undankbar und würden nicht erkennen, was der Staat für uns getan hat", fasst das Ehepaar die Anschuldigungen zusammen. Am schlimmsten sei die Situation für ihre Kinder gewesen, sagt Simone Kohl: "Meinen Kindern haben sie erzählt, dass sie im Westen gefressen werden und dass sie unter einer Brücke leben müssten."
Doch dann war es soweit und die Kohls hielten ihren bewilligten Ausreiseantrag in den Händen. Die Zugfahrt sei schier endlos gewesen, die Begrüßung in einer Bundeswehrkaserne bei Kassel dafür umso herzlicher. Besonders für ihre Kinder waren diese Tage das Paradies, erinnert sich Simone Kohl: "Es verging keine Mahlzeit in der Kantine, wo die Kinder nicht Obst, Süßigkeiten oder Kuscheltiere von den Soldaten geschenkt bekamen."
Das erste Weihnachten in der neuen Heimat erlebte die Familie mit gemischten Gefühlen. In den Tagen vor dem Fest hätten oft Tüten mit Geschenken an ihrer Haustür gehangen, und nach der Christmette überreichte die Pfarrerin der Familie im Namen der Kirchengemeinde Pakete und einen Gutschein für einen Festtagsbraten. "Alle Menschen wollten uns helfen", sagt Simone Kohl. Das sei schwer auszuhalten gewesen. Während die Kinder der Kohls sich über die vielen Geschenke freuten, wären sie und ihr Mann Helfried von der großen Hilfsbereitschaft im Westen, den Erinnerungen an die Feindseligkeiten in der DDR und dem Heimweh nach ihrer Familie emotional überfordert gewesen.
Am nächsten Morgen sind wir wieder auf der Straße und schlagen uns durch die hessischen Wälder. Mitten im Wald finden wir plötzlich einen überdimensionalen Hut aus Weidenruten, der über unseren Köpfen schwebt. Das dazugehörige Hinweisschild erklärt uns, dass wir vor einem Kunstwerk namens "Brotherhood" stehen, das zum Kunstwanderweg der Ars-Natura-Stiftung gehört. Alle paar Kilometer tauchen am Wegesrand weitere Skulpturen aus Naturmaterialien auf. Die Freiluftgalerie kann sich sehen lassen, finden wir.
Im nächsten Ort sind wir mit einem niederländischen Journalisten verabredet, der von unserem Projekt erfahren hat und ein Interview mit uns machen will. Doch selbst vor dem Mikrofon zu stehen, ist gar nicht so leicht. Während wir versuchen, unsere Erlebnisse in Worte zu fassen, werden wir von einer Gruppe Teenager beobachtet. Die vier Dreizehnjährigen sind neugierig und wollen von uns wissen, warum wir mit Mikrofonen durch Hessen laufen. Das ist unsere Gelegenheit herauszufinden, was die Generation nach uns über die Deutsche Einheit weiß.
Zunächst sind wir etwas erschrocken. Dass Deutschland geteilt war, wissen die vier gerade noch. Auf jeden Fall sei "der Osten ärmer als der Westen" gewesen. Warum das so war und wann die Teilung Deutschlands aufgehoben wurde, darüber können unsere jungen Interviewpartner nur mutmaßen: "1986 vielleicht? Am 21. September?" Erst als wir erfahren, dass die Friedliche Revolution und der Fall der Mauer im Geschichtsunterricht an ihrer Schule noch nicht behandelt wurden, atmen wir auf. Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sie in den entsprechenden Schulstunden gut aufpassen werden.
7 BilderOssis wandern im Westen, Etappe 7: Was macht der Riesenhut im Wald?
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Was macht der Riesenhut im Wald? Katja und Sebastian waren erst etwas verdutzt, als sie auf ihrem Weg durch Hessen auf dieses Ungetüm trafen. Ein Schild klärte sie auf: Sie waren auf dem Ars-Natura-Weg unterwegs, der Hut ist ein Werk der Künstlerin Ute Stöhr. mehr...
Foto: mephisto 97.6
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Die Kunst machte die Wanderung durch hessische Wälder kurzweilig.
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Die Ars-Natura-Stiftung will die Fernwanderwege Deutschlands zu Kunstwanderwegen machen. In Hessen ist diese einäugige Gestalt eines von 300 Kunstwerken. Doch Katja und Sebastian trafen nicht nur auf interessante Kunst ...
Foto: mephisto 97.6
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... sondern auch auf interessante Geschichten. Zum Beispiel die des Ehepaars Kohl: Die waren 1989 aus der DDR ausgereist. Ihre Kinder dachten, im Westen würden sie gefressen - doch die Hilfsbereitschaft der Menschen war so groß, dass die Kohls überwältigt wurden.
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Auf ihrem Weg durch Hessen kamen Katja und Sebastian immer wieder durch schmucke Fachwerkstädtchen.
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Am Edersee machte Team West einen Tag Pause.
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So idyllisch kann Hessen sein. Diesen Ausblick genossen Katja und Sebastian, als sie die Berge hinter sich gelassen hatten.