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"Refugee Teachers Program": Helfen, wo es brennt

Foto: Hanna Gieffers

Lehrer aus Syrien Ein Flüchtling unterrichtet jetzt in Potsdam

Das "Refugee Teachers Program" will syrische Lehrer fit machen für deutsche Klassenzimmer. Funktioniert die Idee?

An einem Freitagmorgen hastet Basel Alsayed durch die Gänge der Grundschule "Am Pappelhain". Er findet den Klassenraum der 1a nicht. Dort aber soll er gleich aushelfen, die Englischlehrerin ist krank. Alsayed, 29, nach hinten gekämmte dunkle Haare und akkurat gestutzter Bart, schaut auf seine Uhr. In wenigen Minuten beginnt der Unterricht.

Er öffnet eine Tür, doch im Klassenzimmer steht bereits eine Lehrerin: "Die 1a ist im Erdgeschoss." "Ach ja", sagt Alsayed. Nervöses Lachen. Er ist aufgeregt, er wird das erste Mal vor dieser Klasse stehen. Und kommt zu spät, dabei will er alles richtig machen. Mit kleinen, schnellen Schritten geht er die Treppen runter, um die Ecke, den Flur entlang. Endlich entdeckt er das erlösende Schild: 1a. Durchatmen. Umschalten. Mit einem gutgelaunten "Good Morning" betritt Alsayed den Raum. 19 Schüler blicken ihn an.

Alsayed ist Teilnehmer beim "Refugee Teachers Program" der Universität Potsdam. Syrische Lehrer können mit diesem Pilotprojekt, finanziert vom Bildungsministerium und vom Hochschulministerium des Landes Brandenburg, an Grundschulen in Brandenburg als Assistenzlehrerinnen und -lehrer arbeiten.

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"Refugee Teachers Program": Helfen, wo es brennt

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Eineinhalb Jahre lang bildete die Uni Potsdam Alsayed und 25 weitere Lehrer aus. Sie büffelten an fünf Tagen die Woche Deutsch, besuchten Kurse in Fachdidaktik, absolvierten Praktika - ein Pensum, das nicht alle schafften, 14 mussten die Sprachprüfung wiederholen. Funktioniert die Idee, syrische Lehrer durch einen Crashkurs in deutsche Klassenzimmer zu holen?

Gerald Schneider, 63, blonder Bürstenhaarschnitt, sitzt hinter seinem Schreibtisch wie ein Kapitän in seiner Kommandozentrale. Schneider leitet die Schule "Am Pappelhain", ein buntes Vorzeigeprojekt zwischen Plattenbauten im Südosten von Potsdam. Knapp ein Drittel der Schüler hier kommt nicht aus Deutschland, sondern aus Bosnien, Ghana, Kenia, Palästina, Syrien oder Tschechien.

"Nicht optimal"

Schneider sagt, Alsayed sei "ein Feuerwehrmann - er hilft, wo es brennt": Übersetze bei Problemen mit arabischen Eltern, betreue einzelne Schüler, übernehme Stunden, wenn ein Lehrer krank ist. "Er kämpft unheimlich", sagt Schneider. "Wir trauen ihm auch mehr zu, als wir eigentlich dürfen."

Geplant war etwa nicht, dass die Absolventen vom "Refugee Teachers Program" als Lückenfüller allein Vertretungsunterricht geben. Am Telefon nennt die Erziehungswissenschaftlerin Miriam Vock, die das Programm an der Uni Potsdam konzipierte, Situationen wie diese "nicht optimal". Eigentlich sollen die syrischen Flüchtlinge nur andere Lehrer unterstützen. "Ich werde hier ins kalte Wasser geworfen", sagt Alsayed selbst. Aber er meint es als Feststellung, nicht als Vorwurf. Alsayed lernt, während er lehrt. Er weiß: Die Herausforderung ist seine Chance.

Als Syriens Präsident Baschar al-Assad Alsayed als Soldat in den Krieg schicken wollte, floh er über die Balkanroute nach Nordrhein-Westfalen. "Ich hatte aufgeschnappt, es sei eine Multi-Kulti-Gegend", sagt er. Durch den Königsteiner Schlüssel, mit dem Flüchtlinge in Deutschland nach bestimmten Quoten auf die Bundesländer verteilt werden, kam er aber nach Zehdenick, ein 14.000-Einwohner-Städtchen in Brandenburg. Ein Glücksfall. Durch seinen Deutschlehrer erfuhr er von dem Uni-Programm für Flüchtlinge, das es nur in diesem Bundesland gab.

Für viele Flüchtlinge ist das Lehrerprogramm ein Weg aus der Gemeinschaftsunterkunft. Das langersehnte Ende des Wartens. Auf den nächsten Brief der Ausländerbehörde. Auf den nächsten WhatsApp-Anruf der Schwester. Sie werden nicht mehr nur als Flüchtlinge, sondern auch als Menschen mit wertvollem Wissen wahrgenommen.

Denn der Bedarf an Lehrern wie Alsayed wächst, besonders in Brandenburg: In fünf Jahren werden dort knapp 293.000 Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund deutsche Schulen besuchen, hat das Bildungsministerium des Landes Brandenburg ausgerechnet. Hinzu kommt der bundesweite Lehrermangel. Bis 2025 werden laut Bertelsmann-Stiftung 35.000 Grundschullehrer fehlen. Potential ist da: 11.000 Lehrerinnen und Lehrer haben 2016 Asyl beantragt, so das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Nach dem Anglistikstudium in Damaskus unterrichtete Alsayed an einer Grundschule Englisch. Dass er in Deutschland an der Uni erstmal selbst wieder Schüler war, frustrierte ihn am Anfang. "Plötzlich musste ich wieder Hausaufgaben abgeben." Er las viel, diskutierte in seiner Berliner WG-Küche mit seinem Mitbewohner - alles auf Deutsch. Und bestand die Abschlussprüfung im September.

Dieser Text gehört zur Serie "The New Arrivals"

Es ist eine gigantische Aufgabe für Europa: Millionen Flüchtlinge müssen integriert werden. Vier internationale Medien beschreiben ihr Leben und untersuchen Perspektiven auf die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik.

Seit er nun wieder an einer Grundschule arbeiten darf, wartet Alsayed schon nachmittags nach dem letzten Gong auf den kommenden Morgen, auf das nächste bisschen Struktur. Er vermisst das syrische Essen, die Sprache. Über seine Familie will er nicht reden, um sie zu schützen. Nur so viel: Mit seiner Mutter, die noch in Damaskus lebt, sei er jeden Tag über WhatsApp in Kontakt.

Die Hoffnung, keine falschen Dinge beizubringen

Mit Kumpels saß Alsayed früher oft in seinem Appartement in der Altstadt von Damaskus zusammen. Sie ließen die Shishapfeife kreisen, skizzierten Zukunftspläne in die Rauchschwaden. Heute ist das Leben ein anderes. Bis vor Kurzem träumte Alsayed nachts noch regelmäßig von seiner Mutter: Er folgte ihr durch die Gassen von Damaskus, vorbei an kaputtgebombten Häusern, an Schuttbergen und Stahlgerippen. Seine alte Heimat, zerfressen vom Krieg.

An der Grundschule "Am Pappelhain" muss er an diesem Tag auch noch eine kranke Deutschlehrerin in der 3c vertreten. Er verteilt ein Arbeitsblatt, auf dem die Schüler Nomen umkreisen und die richtigen Artikel finden sollen: Das Blume? Der Blume? Die Blume? Aufgaben, die er zu Hause erstmal selbst lösen muss. Er hofft, den Schülern keine falschen Dinge beizubringen. Sein Deutsch ist fast perfekt, nur ab und zu vertut er sich mit einer Deklination, sucht ein seltenes Wort. Das "P" spricht er eher wie ein "B" aus, Potsdam klingt wie Bodsdam. Vielleicht kann er den Kindern vor allem andere wichtige Sachen beibringen. Wissen und Dinge, die nicht auf Arbeitsblättern stehen.

"Ich weiß, wie sie sich fühlen"

Als Alsayed noch in Damaskus lebte, drang der Krieg manchmal bis in sein Klassenzimmer. Wenn die Tür aufsprang vom Druck einer Bombe, nahm er seine weinenden Schüler in den Arm. Heute beugt er sich zu einer syrischen Schülerin runter, will wissen, ob sie verstanden hat, was ein Nomen ist. Ermahnt einen syrischen Jungen: "Du musst die Artikel lernen, nicht raten." Umkreist ein Schüler in der letzten Reihe kein einziges Nomen, hockt Alsayed sich neben ihn: "Wieso bist du in der Schule? Möchtest du gar nichts lernen?" In seiner Stimme schwingt aufrichtiges Unverständnis mit.

Was diese Kinder im Krieg oder auf der Flucht erlebt haben, erzählen sie auch ihm nur selten. Ein Schüler deutet nur an: "Wir mussten wegen Assads Männern fliehen." Er fährt sich dabei mit dem Daumen am Hals entlang, als wolle er seinen Kopf abtrennen. Alsayed streicht ihm mit der Hand über die Haare. "Ich kann den Schülern, die als Flüchtlinge kamen, noch keine Antwort darauf geben, wie es ist, in Deutschland angekommen zu sein", sagt er. "Aber ich glaube, ich weiß, wie sie sich gerade fühlen." Am Anfang sprach er noch manchmal Arabisch mit seinen syrischen Schülern; jetzt achtet er bewusst darauf, dass nur Deutsch geredet wird.

Im Herbst haben 29 neue Flüchtlingslehrer die Ausbildung in Potsdam begonnen, es gab auch dieses Jahr mehr Bewerber als Plätze. "Deutschland verschenkt immer noch Potential", findet Organisatorin Vock. Das Programm wird aktuell nur noch bis März 2019 finanziert.

Seit vergangenem Herbst arbeitet Alsayed als Hilfslehrer. Nachts träumt er immer weniger von Bomben, und immer mehr vom Lehrerleben, sieht sich dann selbst vor einer Tafel, sein Blick wandert über volle Sitzreihen. Alsayed hält an seinem neuen Traum fest: Er will in einigen Jahren in Berlin weiterstudieren. Dort wird von seinen Kursen im "Refugee Teachers Program" nichts anerkannt werden, außerdem muss er noch ein zweites Fach studieren. Aber er will eines Tages nicht mehr nur einspringen, sondern eine eigene Klasse führen. "Als richtiger Lehrer", sagt er.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, das Wirtschaftsministerium und der Deutsche Akademische Austauschdienst finanzierten das Projekt. Dies ist nicht richtig. Finanziert wird es vom Bildungsministerium und dem Hochschulministerium des Landes Brandenburg. Wir haben das entsprechend korrigiert.


Dieser Text gehört zur Langzeitserie "The New Arrivals", bei der SPIEGEL ONLINE gemeinsam mit "The Guardian", "El Pais" und "Le Monde" neue Perspektiven auf europäische Flüchtlingspolitik recherchiert. Das Projekt wird durch das European Journalist Center (EJC) mit Mitteln der Bill und Melinda Gates Fundation unterstützt. Hier erfahren Sie mehr.

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