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Arm an Bildung: Kolumbianische Methoden für Mannheim

Foto: Kurt de Swaaf

Straßenschule Wie Mannheim von Kolumbien lernt

"Straßenschule" nennen engagierte Mannheimer Nachwuchslehrer ihre Kurse, mit denen sie den Ärmsten zu einem Abschluss verhelfen wollen. Vorbild für ihr Konzept ist der Unterricht für die Ghetto-Kinder Südamerikas. Die jungen Erwachsenen erfahren teils zum ersten Mal echte Zuwendung.

Jule Holzer*, 22, will es wissen. Hochkonzentriert sitzt sie über ihr Mathematikbuch gebeugt und kämpft mit den Tücken der Trigonometrie. Sinus, Cosinus, Tangens - keine leichten Übungen für die junge Mutter, doch sie lässt nicht locker.

Ihre Tischnachbarin Susanne spricht derweil leise mit ihrer Lehrerin Sieverina Bettex. Ihnen gegenüber löffelt ein Jugendlicher Erbsensuppe aus einem Topf. Auch er ist dabei in seine Bücher versunken und macht ab und zu Notizen.

Im Hintergrund ertönt die kräftige Stimme von Hans Schmidt*: "a² plus b² ist gleich c²." Er bekommt gerade Einzelunterricht und sagt seine Aufgaben auf. Draußen ist es längst dunkel, ein klammer Wind zieht durch die Straßen Mannheims. Straßen, die für Schmidt eine Zeitlang sein Zuhause waren.

In Mannheim ist der Rand der Gesellschaft besonders breit

Die Mannheimer Straßenschule ist keine gewöhnliche Lehranstalt, in der abends ein Abschluss nachgeholt werden kann. Die vier fleißigen jungen Menschen gehören zu den Chancenärmsten der Gesellschaft. Sie haben harte Zeiten hinter sich, in brutalen Elternhäusern oder auch ganz ohne Familie. Irgendwann sind sie aus dem Bildungssystem herausgefallen. Doch abfinden wollen sie sich damit nicht.

Ihr Ziel ist ein Schulabschluss. Deshalb kommen sie dreimal wöchentlich in den Jugendtreff Freezone, um dort am Unterricht der Straßenschule teilzunehmen. Das Projekt wurde vom Kompetenzzentrum Straßenkinderpädagogik der Pädagogischen Hochschule (PH) Heidelberg initiiert und läuft seit Herbst.

In Mannheim und Umgebung gibt es schätzungsweise 500 bis 1500 Jugendliche, die auf der Straße leben. Es ist eine Existenz, oft geprägt von Drogen, Prostitution, Kriminalität oder Obdachlosigkeit. Die Jugendlichen leben am Rand der Wohlstandsgesellschaft, und die Straßenschule bietet ihnen einen Ausweg aus der Misere an. Kostenlos, offen für alle, und ohne jeglichen Zwang. Vorbild für die Abendlerngemeinschaft ist die Straßenpädagogik in Kolumbien.

"Die ersten Erfahrungen sind positiver als ich gedacht hatte", sagt die Projektkoordinatorin Ute Schnebel. Im Moment lerne ein harter Kern von drei Realschülern und einem Hauptschüler, die sich auf ihre Abschlussprüfung im kommenden Sommer vorbereiten.

Jeder wird auf seinem Leistungsstand abgeholt

Sie sind von Anfang an dabei, "stetig und mit wenigen Fehlzeiten". Das Besondere sei, dass jeder immer wieder an seinen individuellen Lernstand anknüpfen kann. Wer also einige Zeitlang nicht auftaucht, kann trotzdem weitermachen.

Für Sieverina Bettex und Kerstin Rottenbach, die Lehrerinnen, bietet der Unterricht vor allem die Möglichkeit, praktische Erfahrungen zu sammeln. Beide studieren an der PH das Fach "Straßenkinderpädagogik", ein seit 2007 bestehender, viersemestriger Masterstudiengang, der gemeinsam von den Pädagogischen Hochschulen und Universitäten in Heidelberg und Freiburg angeboten wird.

Die Idee für dieses Spezialfach entstammt der Arbeit an einem Bildungsprojekt für Straßenkinder in Südamerika. Aber auch in Deutschland gibt es reichlich Bedarf. Kerstin Rottenbach hat zwischen Bachelor- und Masterstudium für ein Jahr in einem argentinischen Kinderheim gearbeitet. Jetzt will sie sich hierzulande für benachteiligte junge Menschen einsetzen.

Straßenschüler Hans Schmidt war schon zweimal in seinem Leben obdachlos, zum ersten Mal mit 16. Er sei "ein bisschen rumgereist", sagt der junge Mann mit der geschorenen Glatze. Davor wuchs Schmidt, heute 22, im Kinderheim und bei Pflegeeltern auf. Inzwischen hat er seit zwei Jahren wieder eine eigene Wohnung. Sein Traumberuf wäre eine Ausbildung zum IT-Systemtechniker, aber das wird schwer. Hartz IV wurde ihm gesperrt, weil er nicht regelmäßig zu den Pflichtmaßnahmen gegangen ist.

Ohne finanzielle Hilfe geht es allerdings kaum weiter. Deshalb sucht Schmidt nun nach einer gemeinnützigen Organisation, bei der er ab Herbst eine Ausbildung beginnen kann. Und bis dahin gebe es zum Glück die Straßenschule. "Wenn man schon einen Hauptschulabschluss hat, dann unterstützt einen das Sozialamt nicht mehr für einen Realschulabschluss", sagt Schmidt, das ärgere ihn.

Susanne, 20, wollte eigentlich schon im vergangenen Jahr einen Realschulabschluss machen. Geklappt habe das nicht, sie war "etwas außer Kontrolle", wie sie sagt. Jetzt ist sie im siebten Monat schwanger und sucht eine neue Wohnung für sich und ihr Kind, am liebsten außerhalb der Stadt.

"Unser Vorteil ist die hohe Eigenmotivation der Schüler"

Wenn alles gutgehe, werde sie im Sommer zur Realschulprüfung antreten. "Die Geburt und der Prüfungstermin liegen nah beieinander." Und danach will sie mit Kindern oder Tieren arbeiten. "Das kann ich gut", sagt Susanne.

"Wir gehen sehr intensiv auf die Lebenssituation ein", sagt Projektkoordinatorin Schnebel. Das stärke das Band zwischen Schüler und Lehrer und somit auch die Motivation. "Und wir begegnen den Kids auf Augenhöhe, akzeptieren sie so, wie sie sind", ergänzt Markus Unterländer, Pädagoge bei Freezone.

Alle vier Straßenschüler erzählen ähnliche Geschichten, von einem Zuhause, in dem sie keine Anerkennung erfahren hatten, von Hänseleien in der Schule und dass ihre Lehrer sie nicht beachteten. In der Mannheimer Straßenschule ist das anders, individueller kann die Betreuung nicht sein. Man betrete allerdings auch Neuland, sagt Ute Schnebel. Eine speziell an die Bedürfnisse dieser Jugendlichen angepasste pädagogische Methodik müsse noch weitgehend entwickelt werden. Deshalb findet das Projekt unter wissenschaftlicher Begleitung durch die PH Heidelberg statt.

"Unser Vorteil ist, dass die Schüler eine sehr hohe Eigenmotivation haben", sagt Sieverina Bettex. Natürlich seien es erst wenige von Hunderten, die eine solche Betreuung bräuchten, ein Tropfen auf den heißen Stein. "Aber für den Einzelnen macht es den großen Unterschied."

Es ist kurz nach acht, der Unterricht ist zu Ende, und Jule Holzer muss gleich los. Ihr zweijähriger Junge wird zu Hause von einer Babysitterin betreut. "Tagsüber ist mein Sohn in der Krippe, damit ich lernen kann." Auch Holzer will im Sommer ihren Realschulabschluss schaffen. "Danach möchte ich Pädagogik machen, oder, wenn es dafür nicht reicht, Floristik." Am liebsten würde sie später als Heimerzieherin arbeiten, denn in einem Kinderheim hat sie selbst zwölf Jahre lang gelebt.

"Ich möchte den Kindern und Jugendlichen etwas Besseres bieten als ich selbst gehabt habe und ihnen zeigen, dass sie nicht anders sind als Kinder, die in Familien aufwachsen." Zu oft sei sie in der Schule als Heimkind gemobbt worden, da fühle man sich schnell ausgegrenzt und chancenlos, sagt die quirlige junge Frau. Dass sie jetzt wieder an sich glaubt, verdankt sie auch der Straßenschule. "Ich kann etwas aus meinem Leben machen, auch wenn es jetzt über Umwege geht."

* Name geändert

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