Wahnsinn Habilitation Die Willkür der Halbgötter
Der Examenskandidat hatte schon den Tisch in einem Münsteraner Nobelrestaurant bestellt. Den Abschluss seiner Hochschullehrerprüfung (Habilitation) wollte er feiern - endlich, 23 Jahre nach der Meldung. Insgesamt neun Prozesse musste der Chefarzt einer norddeutschen Klinik gegen die Medizin-Fakultät der Universität Münster durchstehen. Er hat sie alle gewonnen. Ende April stand nur noch der Probevortrag an. Doch der Termin platzte, die Professoren glänzten durch Abwesenheit. Tränen der Wut standen dem inzwischen 63-jährigen Prüfling in den Augen.
Als höchste akademische Prüfung hat die Habilitation in Deutschland eine lange Tradition. Vor allem in der Medizin, den Rechts- und Kulturwissenschaften ist sie seit 150 Jahren praktisch für jeden unumgänglich, der einmal deutscher Universitätsprofessor werden will. Die Kandidaten reichen ihr "opus magnum" ein, ein zweites dickes Buch nach der Doktorarbeit. Das muss den Fachgelehrten an einer Universität gefallen. Nach einem wissenschaftlichen Vortrag mit anschließender Aussprache erhält der Habilitand dann die Lehrbefähigung ("venia legendi").
Zwangsgeld gegen Professoren
So will es die akademische Tradition. Dass es 23 Jahre dauert, verlangt sie indes keineswegs. Deshalb schreitet nun das Verwaltungsgericht Münster ein. Sprecherin Astrid Berkenheide erklärt: "Wir haben der Fakultät ein Zwangsgeld von 10.000 Euro angedroht, weil sie ihrer Prüfungsverpflichtung bisher nicht nachgekommen ist. Die Fakultät muss lernen, dass auch sie an Recht und Gesetz und rechtskräftige Gerichtsentscheidungen gebunden ist."
Das Gericht habe den Eindruck, dass die Professoren "mit allen Mitteln" versuchen, "berechtigte Ansprüche des Klägers bis zum Erreichen der Altersgrenze zu torpedieren", sagt Berkenheide. Tatsächlich geht es für den Chefarzt heute nur noch um die Ehrensache, in der Uniprüfung nicht gescheitert zu sein - denn den schmucken Professorentitel hat er schon längst von einer Fachhochschule.
"Hass, Häme, lautes Gelächter"
Für andere Habilitanden steht mehr auf dem Spiel. So kämpft Werner Leitner, 45, noch um eine möglichst glänzende berufliche Zukunft in der Hochschule oder in der eigenen Praxis. Da macht sich die akademische Weihe zum "Privatdozenten" und anschließend zum Professor vielfach bezahlt. Der Pädagoge und Familienpsychologe streitet gegenwärtig im vierten Jahr wegen der Ablehnung seiner Prüfungsschrift gegen die Fakultät Pädagogik, Philosophie, Psychologie der Universität Bamberg.
Im Prüfungsverfahren ging es hoch her, wie Leitners Lehrer und Betreuer Reinhold Ortner zu den Akten gab: "Ich habe die Habilitationssitzung als psychische 'Hinrichtung' erlebt. Da war schwelender Hass zu spüren, Gnadenlosigkeit und Häme. Ich suchte vergebens nach jemandem, der dieser 'Hinrichtung' mit mutigen Worten ein Ende gemacht hätte. Stattdessen brach die Prorektorin zusammen mit einem Teilnehmer in lautes Gelächter aus."
Die Fakultät setzte sich mit ihrem "Nein" über alle Fachgutachten hinweg. Leitner hat inzwischen die Unterstützung des Wissenschaftsausschusses im Bayerischen Landtag und des zuständigen Ministers Thomas Goppel - aber die können die Prüfung nicht selbst zu Ende führen. Die Uni schweigt zu alledem.
"Auf dem Rechtswege ist noch niemand habilitiert worden", behaupten Professoren gern. Diese Meinung ist aber seit dem Streit in Münster nicht mehr als Standesdünkel. Das Gericht hat der Fakultät für die Fortsetzung der Prüfung über neun Runden immer engere Vorschriften gemacht. Die jüngsten "Maßgaben (der Fakultät) zur Nachbesserung der Habilitationsschrift" sahen die Richter schließlich "als erfüllt" an, weil völlig unklar sei, was das Prüfungskollegium "im Einzelnen gewollt hat". So hatte der Vorsitzende der Medizinischen Fakultät das Gericht mit der Aussage verblüfft, dass man den fraglichen Nachbesserungswunsch genau genommen "als intellektuellen Kurzschluss bezeichnen müsste".
Alt-Rocker und jüngere Männer
"Professoren bewegen sich in eigenen Angelegenheiten am liebsten wie in einer rechtsfreien Zone", sagt der Wissenschaftsjurist und Hochschullehrer Hartmut Krüger. So meinen die Gelehrten oft, die Hochschullehrerprüfung sei so etwas wie die Aufnahme in einen privaten Club - also alles andere als ein Verfahren zur Sicherung der Lehrqualität, als das die Habilitation ursprünglich einmal eingeführt worden war.
Der international angesehene Psychologe Peter R. Hofstätter setzt die Habilitation gar mit einem Initiationsritus gleich. Das Verfahren vor meist älteren Männern gleiche dem Eintrittsbegehren in eine "Rockergruppe junger Männer": Die Mitglieder wollen "sehen, ob der Neuling zu ihnen passt oder ob durch seine Aufnahme die Gruppe gesprengt werden könnte". Schon mancher hoffnungsvolle Nachwuchswissenschaftler, so Hartmut Krüger, habe sich nach der Ablehnung durch die Gruppe frustriert in den Selbstmord geflüchtet. Wer durchprozessieren will, muss mindestens ein Chefarzteinkommen oder eine mittlere Erbschaft in der Hinterhand haben.
Vor diesem Hintergrund neigen nicht unbedingt die Besten, sondern eher Hasardeure zur Habilitation. Viele moderne Fächer, etwa die Ingenieurwissenschaften, verzichten inzwischen auf diese Prüfung. Aber auch in den "Lebenswissenschaften" (Biologie, Chemie, Genetik etc.) gelten zum Beispiel zwei Jahre erfolgreicher Mitarbeit in einem renommierten internationalen Forschungsteam selbst bei deutschen Professoren so viel wie die Habilitation.
Externe haben's deutlich schwerer
Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn will das antiquierte Ritual sogar völlig durch die neue Juniorprofessur als Bewährungsprobe auf sechs Jahre ersetzen. Die traditionelle Prüfungsprozedur hingegen bezeichnet selbst Karl-Ludwig Winnacker, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, als "Herrschaftsinstrument" zur Wahrung persönlicher Abhängigkeiten, das "die Selbständigkeit des Wissenschaftsnachwuchses behindert oder verzögert".
Der Gedanke vom Antrag auf Clubmitgliedschaft oder "Kooptation" ist zwar schon seit zehn Jahren juristisch tot, spukt aber noch in den Köpfen vieler Professoren. Von Rechts wegen muss die Hochschullehrerprüfung sich vielmehr nach der im Grundgesetz verankerten Freiheit der Berufswahl richten, also allen Bewerbern wie bei der Meisterprüfung Chancengleichheit verbürgen. Dem aber widerspricht ein Münsteraner Fakultätsbeschluss von 1977, also kurz vor Eröffnung des längsten Prüfungsverfahrens aller Zeiten. Darin heißt es, die Habilitation Externer, also von Ärzten außerhalb der Uniklinik, hänge zunächst davon ab, ob sie "erwünscht" sei oder ob "kein Bedarf besteht". Der Antragsteller vor 23 Jahren war ein Externer.
Für Interne, ob Assistenz- oder Oberärzte, die sich jahrelang in der Klinikhierarchie hochgedient haben, war eine derartige Vorprüfung nie angesagt. Sie sollen schlicht leichter als alle anderen an die höheren akademischen Weihen kommen, die etwa wählerische Privatpatienten beeindrucken oder auf den Chefsessel im Kreiskrankenhaus verhelfen. Diese Regelung ist heute zwar überholt, aber nie förmlich aufgehoben worden.
Für die mündliche Prüfung des externen Prüflings in Münster beantragt sein Anwalt, der Berliner Rechtsprofessor Raimund Wimmer, jetzt Videoüberwachung, im Sinne "effektiven Rechtsschutzes" - denn nichts soll nach 23 Jahren den Anschein der Seriosität gefährden.