Kraftakt Auslandsstudium Studienstress bremst Reiselust
Der Wunsch war immer dann besonders stark, wenn ein Überlandbus an ihm vorbeidonnerte. "Ich will die ganze Welt sehen", dachte Andreas Kaeshammer schon als Vorschulkind. Er stellte sich an die Bushaltestelle seines schwäbischen Heimatdorfs und wartete darauf, mitgenommen zu werden - vergebens, die Fahrer hielten nicht für den kleinen Kerl.
In die Ferne gehen, das hieß für den jungen Andreas Kaeshammer zunächst einmal: nach Reutlingen, in die nächstgrößere Stadt, aufs dortige Gymnasium. Später zog es ihn in den Sommerferien nach Frankreich, dann reiste er mit Freunden durch Südostasien.
Heute hat der 25-Jährige sein Fernweh ins Studium eingebaut. Er studiert an der ESCP Europe, einer privaten, staatlich anerkannten Hochschule in Berlin. Doch auf seinen "Master in Management" bereitete er sich auch auf Partnerhochschulen in London und Paris vor. "Durch die Ausbildung im Ausland habe ich sehr gute Berufschancen", sagt Kaeshammer.
Jetzt kann er seinem Großvater, wenn er mit ihm über die Schwäbische Alb wandert, von seinen italienischen und französischen Freunden erzählen, mit denen er jedes Jahr eine Segelregatta bei Capri organisiert und die er bei einer Einführungswoche in Straßburg kennengelernt hat. Dort, im EU-Parlament, trafen alle Studenten von den ESCP-Standorten Paris, London, Berlin, Madrid und Turin aufeinander.
"Die Studiengänge müssen überarbeitet werden"
Solche Lebensläufe müssen auch die 29 Bildungsminister der Europäischen Union im Sinn gehabt haben, als sie 1999 in Bologna einen einheitlichen europäischen Hochschulraum schufen. Sie verkürzten nicht nur die Studiengänge und führten neue einheitliche Abschlüsse ein - nein, alle Studienleistungen sollten überall in Europa gelten, so dass Studenten problemlos zwischen Hochschulen in verschiedenen Ländern hin und her wechseln können.
Eine schöne Idee, allein, sie funktioniert nicht so recht. Bachelor-Studenten gehen deutlich seltener ins Ausland als Studenten der alten Modelle. Das zeigt eine Studie des Hochschulinformations-Systems (HIS), die im Auftrag der Bundesregierung und des Deutschen Studentenwerks (DSW) durchgeführt wurde. Danach schaffen es gerade einmal sieben Prozent der Bachelor- und Master-Studenten über die Grenze, bei den Diplom- oder Magister-Studenten waren es hingegen 23 Prozent, bei Staatsexamenskandidaten 18 Prozent.
Der heutige akademische Nachwuchs fürchtet den Tempoverlust, schließlich ist das Programm stramm. Birgit Weiß von der Abteilung Internationales an der Universität Mainz erzählt von Studenten, die verzweifelt in ihrem Büro stehen und fragen, wie sie jetzt um Himmels willen noch ein Auslandssemester unterbringen sollen. "Die Studiengänge müssen überarbeitet werden", sagt Weiß. Sie fordert "Mobilitätsfenster".
"Ermutigung zum Auslandsaufenthalt stelle ich mir anders vor"
Für Friederike Engehausen, 24, stand in ihrem Wirtschaftsingenieurstudium von Anfang an fest: "Ein Semester im englischsprachigen Ausland, das muss drin sein." Am liebsten in Schottland.
Doch sie konnte das Vorhaben nicht mit ihrem überfrachteten Studienplan vereinbaren. Erst als klar war, dass sie wegen ihrer guten Noten zum Master zugelassen wird, konnte sie mit der Planung beginnen. "Ursprünglich wollten alle meine Kommilitonen Abstecher ins Ausland machen", sagt Engehausen. Doch die meisten entschieden sich dagegen - der Master in Hannover dauert nur drei Semester.
Engehausen entschied sich schließlich für ein Semester in Edinburgh, sie schwärmt vom schottischen Akzent, der "so cool" klinge. Doch am Ende hat Schottland sie ein ganzes Jahr gekostet. "Die Integration des Auslandssemesters ist sehr schwierig", sagt sie. Obwohl sie in Schottland viele Vorlesungen besuchte, wurden ihr in Deutschland nur drei Studieneinheiten anerkannt. "Ermutigung zum Auslandsaufenthalt stelle ich mir anders vor", so Engehausen.
Mut machen fürs Ausland, das ist die Aufgabe von Alexandra Michel. Sie ist stellvertretende Geschäftsführerin des Unternehmens College Contact in Münster. Michel berät und vermittelt Studenten an Hochschulen jenseits der deutschen Grenzen; die Unis bezahlen sie dafür. "Die Bedenken, ins Ausland zu gehen, sind seit der Bologna-Reform gewachsen", sagt sie. Das Interesse sei allerdings groß, schließlich empfiehlt beinahe jeder Karriere-Ratgeber ein Semester in der Ferne.
Ihre Arbeit vergleicht Alexandra Michel mit der einer Detektivin: Sie muss aus einem Wust von Informationen das passende Angebot herauspicken. "Die Kurse im Ausland müssen nahezu deckungsgleich mit denen der Heimat-Uni sein", erklärt sie. Aber sowohl die Semesterzeiten als auch die Lehrveranstaltungen seien von Land zu Land verschieden. Michel erzählt von deutschen Universitäten, bei denen Studenten vor Antritt des Auslandssemesters genau vereinbaren mussten, welche Kurse sie belegen wollen. Studenten, die das vergaßen, konnten sich nichts anrechnen lassen. So wird ein Auslandssemester schnell zum Auszeitsemester.
Studenten, die im Ausland eigentlich Eigenständigkeit und Freiheit lernen sollen, suchen nun häufig zuerst einen Dienstleister auf. Was sich früher mit leichterer Hand organisierte, wagen viele kaum noch ohne Beratung. "Uns schadet die Bologna-Reform jedenfalls nicht", sagt Alexandra Michel.