19-jähriger Direktkandidat "Mein Wahlkampf hat bisher zehn Euro gekostet"
"Ich hab ja eh keine Chance." Das ist Enno Munzels erster Satz am Telefon. Später, beim Treffen im Haus seiner Eltern, unter dessen Dach er wohnt, ist aber doch "ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit" in seinen Wahlkampf gekommen. An einem fehlt es dem 19-jährigen Abiturienten aus dem "schönsten Wahlkreis in ganz Deutschland" sicher nicht: Realismus, auch sich selbst gegenüber. Keine schlechte Tugend für den großen Politikbetrieb. Und was will einer, der sich mit 19 als parteiloser Direktkandidat für den Bundestag aufstellen lässt?
Beim Sammeln der Unterschriften für seine Kandidatur in Steglitz-Zehlendorf hat Enno ("Ich sag' immer allen, sie sollen du zu mir sagen") gemerkt, dass die Leute wissen wollen, wofür einer steht, den sie wählen sollen. Also hat er, als sein Kopf endlich frei war von Abi-Klausuren und Abi-Ball, einen Fünf-Punkte-Plan verfasst. Kein Wahlprogramm. Denn das sei "nur etwas für eine Partei, die meint, regieren zu können".
Enno Munzel kann sich mit keiner Partei identifizieren. Er findet, in den Programmen stehe hauptsächlich "ziemlicher Murks". Deshalb wirbt er für die Erststimme, mit der Personen direkt in den Bundestag gewählt werden können - Parteiangehörige, aber auch Unabhängige. Unabhängigkeit ist ihm wichtig, es ist Punkt vier in seinem Plan.
Hier will ein 19-Jähriger gewählt werden?
Außerdem ist er jung, und das passt zu Punkt eins seiner kurzen Agenda: Das Durchschnittsalter der Abgeordneten soll sinken. Enno Munzel ist der jüngste unabhängige Kandidat in Berlin, so alt wie auch die jüngste Bundestagsabgeordnete aller Zeiten bei ihrem Amtsantritt war, die Grüne Anna Lührmann, heute 26. Gerade hat er einen Artikel über Daniel Zimmermann gelesen, der mit 27 Jahren zum Bürgermeister von Monheim in Nordrhein-Westfalen gewählt wurde. "Echt gut" findet Enno das, aber er hatte vorher noch nie von Zimmermann und seiner Jugendpartei Peto gehört. Trotzdem will Enno lieber bei Facebook netzwerken als eine Partei zu gründen. Bürgernähe für Jungwähler eben.
Müsste man Steglitz-Zehlendorf eine Farbe zuteilen, die nichts mit Parteien zu tun hat, wäre das Grün. Einfamilienhäuser in baumbestandenen, ruhigen Straßen, ein Minimarkt statt großer Supermarktketten, spritsparende Autos neben Familienlimousinen, ein Kindergarten, der die Bezeichnung "Garten für Kinder" verdiente. Der Wannsee liegt gleich nebenan.
Politisch ist der Bezirk schwarz-grün, auch wenn SPD und CDU bei der letzten Wahl nur zwei Prozentpunkte auseinanderlagen. CDU und Grüne bilden hier ein Bündnis. Es war der erste Zusammenschluss dieser Art in Deutschland - noch vor der schwarz-grünen Koalition in Hamburg. Vor allem aber sind die Zehlendorfer politisch. Volksentscheid, Bürgerinitiativen, Parteimitgliedschaft - das Engagement verzeichnet Spitzenzahlen. Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005 lag bei 83,6 Prozent. Bundesrekord.
"Ich bin ein verdeckter Pirat"
Das liege auch daran, dass die Bevölkerung hier überdurchschnittlich alt ist, urteilt die "Berliner Zeitung". Denn "mit dem Alter steigt die Wahlbeteiligung". Die Bevölkerungspyramide des Bezirks ist unten ziemlich dünn, wird bei etwa 45 Jahren sehr dick und dann noch mal bei etwa 63. Mehr als ein Viertel der Menschen hier ist älter als 60 Jahre. Man könnte auch sagen, die Jungen sterben aus, und die Alten vermehren sich. Und hier will ein 19-Jähriger gewählt werden?
"Klar würde ich mich freuen", sagt Enno. Aber der hochgewachsene Hockeyspieler hat auch Alternativpläne: Wirtschaftsinformatik studieren, ein bisschen was von der Welt sehen - in Südamerika oder Zentralafrika. Der Wehr- oder Zivildienst bleibt ihm erspart, er wurde ausgemustert. "Ich wäre zum Bund gegangen, das ist einfach kürzer." Auf keinen Fall will er Jurist werden wie sein Vater. Er findet es furchtbar, "dass im Bundestag lauter Juristen sitzen". Auch Steglitz-Zehlendorf ist voller Juristen, es gilt als "Kiez der Anwälte". Enno hat etwas gegen allzu arrivierte Leute, die sich allzu sehr der Linie ihrer Partei anpassen.
Und er hat etwas gegen Internetzensur. Das schlägt sich auch in seinem Fünf-Punkte-Plan nieder. "Wahrung des Artikels 5 des Grundgesetzes" steht dort, den letzten Satz der Norm hat er in seinem Facebook-Profil gefettet: Eine Zensur findet nicht statt. Enno Munzel ist mit dem Internet aufgewachsen, seinen ersten Rechner bekam er mit neun Jahren. Er liest Zeitungen im Internet, hat für seinen Wahlkampf eine Facebook-Seite eingerichtet, wo er Altersgenossen die Funktionen von Erst- und Zweitstimme erklärt, und beantwortet Fragen von Bürgern bei abgeordnetenwatch.de. Ein Leben ohne Internet kann er sich nicht vorstellen. Bei einer Demo gegen das Gesetz zur Verschärfung der Kontrolle von Kinderpornografie im Netz wurde er gemeinsam mit Anhängern der Piratenpartei fotografiert, das Bild erschien im SPIEGEL. Den Piraten will er nicht beitreten, aber ja, "ein verdeckter Pirat" sei er schon. Ein Pirat in eigener Sache.
Politisch nirgendwo zu Hause
Soeben ist sein Wahlplakat fertig geworden. "Parteifrei für ALLE in Zehlendorf" steht darauf. In A1-Format hat der Noch-nicht-Student ohne eigenes Einkommen nur ein paar drucken lassen. Farbplakate sind teuer. Das Talent zum Ökonomen spricht aus ihm, wenn er jeden Einzelposten seiner bisherigen Wahlkampfkosten vorrechnet und resümiert: "Inklusive Briefmarke für den Aufstellungsantrag hat mich das Ganze bisher zehn Euro gekostet."
Überhaupt, Zahlen. Ziemlich viele davon hat der eloquente ehemalige Schülersprecher im Kopf. Listenplätze 2 und 5 für Karl-Georg Wellmann (CDU) und Klaus Uwe Benneter (SPD), die beiden konkurrierenden Direktkandidaten aus seinem Bezirk, 2700 Stimmen Vorsprung für Wellmann bei der letzten Wahl, 150.000 oder 85 Prozent "total wertlose" Erststimmen, weil sie an die drei Kandidaten von CDU, SPD und FDP gingen, die ohnehin über ihre Landesliste ein sicheres Bundestagsmandat gehabt hätten. Darum sollen, Punkt 5 nach Munzels Programmatik, nur Kandidaten direkt gewählt werden können, die keine sicheren Listenplätze haben - so wie er zum Beispiel.
Diese 150.000 "verlorenen" Stimmen ärgerten Enno so sehr, dass dem Erstwähler die Idee mit der unabhängigen Kandidatur kam. Enno liebt seinen Wahlbezirk, er hat sein ganzes bisheriges Leben hier verbracht und offenbar nicht vor wegzuziehen. So wie übrigens die meisten Steglitz-Zehlendorfer. Wer hier ist, bleibt, so zeigen es die Bevölkerungsstatistiken. Fast klingt Enno Munzel wie ein alter Lokalpolitiker, wenn er die Vorteile seiner Bezirksheimat aufzählt: das viele Grün, die Seen, den Bus- und den Fernbahnhof.
Die gängige Forderung nach einem Stopp der Neuverschuldung rundet Munzels Agenda ab, doch im Spektrum der vorhandenen Parteien fühlt er sich nirgendwo zu Hause. Rechts? Links? "Mitte", sagt er ohne Überzeugung. Enno Munzel ist ein "Nein, aber"-Sager. Und sehr selten ein "Ja, aber"-Sager. Christian Ströbele findet er gut, auch wenn er nicht politisch mit ihm übereinstimmt. Er ist "noch" gegen den Beitritt der Türkei zur EU, könnte sich aber vorstellen, in 15 Jahren dafür zu sein, und die Idee eines vielfältigen Europa gefällt ihm. Er sieht seine bürgerrechtliche Freiheit von einem Gesetz bedroht, aber Freiheit bedeutet für ihn nicht die Flucht aus seinem engen Dachzimmer in die große, weite Welt. Es ist gut zu wissen, was man nicht will. Und wer weiß schon so genau, was er will mit 19? Das kommt dann im nächsten Schritt. Vielleicht bei der nächsten Bundestagswahl.