Abi-Gags 2003
Wenn auf dem Pausenhof die Gladiatoren kämpfen
Sind Pauken, Punktejagd und Prüfungsstress vorbei, dürfen Abiturienten über die Stränge schlagen: Für einen Morgen übernehmen sie die Kontrolle über den Schulhof. Und lassen ihre Lehrer Limbo tanzen oder blamieren sie in Quizshows - ein hübsches Forschungsfeld für Volkskundler.
Den größten Teil ihres Lebens mussten sie in Zwangsgemeinschaft miteinander auskommen. Sie leben in jeder Stadt Deutschlands. Und obwohl sie in unzählige Gruppen zersplittert sind, hören sie alle auf einen Namen: Abi-Jahrgang 2003. Jetzt werden sie entlassen. Und das Ende ihrer gemeinsamen Zeit darf alles sein, nur eines nicht: leise.
"Abi-Gag" heißt der Ausnahmezustand, auf den manche Schüler sich gründlicher vorbereiten als auf die Prüfungen. So veranstalteten die Abiturienten des Kölner Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums Gladiatorenkämpfe. Etliche Lehrer ignorierten ihre Anweisungen und führten keinerlei Grillwaren mit sich. Das gehört gleich bestraft: Sie kamen gar nicht erst ins Schulgebäude hinein.
Beliebtes Motto: Abi-Mafia und Abi Capone
Foto: LVR/Gabriele Dafft
Gladiatoren in Köln: Den Gegner mit Schaumstoffknüppel vom Sockel holen
Foto: LVR/Ludger Stöter
Kein Abi-Gag ohne Slogan und T-Shirt
Foto: LVR/Gabriele Dafft
Hula-Tanz: Heute diktieren Schüler den Lehrplan
Foto: LVR/Ludger Stöter
Lucky Abi: Wer's hat, ist glücklich
Foto: LVR/Gabriele Dafft
Motto: Abiagra - das Abi steht
Foto: LVR/Thekla Meusel
Standing Ovations: Pädagogischer Eifer im Rollenspiel wird belohnt
Foto: LVR/Ludger Stöter
Ring frei: Gladiatoren auf Stelzen
Foto: LVR/Ludger Stöter
Tortenschlacht: Der Countdown läuft
Foto: LVR/Thekla Meusel
Abi-Gags - Momentaufnahmen
Gladiatoren, Hula-Tänze und Abiagra: Wie Abiturienten sich vergnügen - per Klick auf ein Bild gelangen Sie zur Großansicht
Die folgsameren unter den Pädagogen durften als Gladiatoren in den Ring: mit Helmen bewehrt, mit Brustpolstern ausgestopft, große Schaumstoffknüppel schwingend. Auf wackeligen Pfählen rückten Schüler ihnen zu Leibe. Hunderte feuerten ihre Favoriten an, aus wattstarken Boxen dröhnte der passende Soundtrack. Und natürlich ließen die agilen Schüler ihren Lehrern kaum eine Chance. Ausgeschiedene Pädagogen wurden zum Würstchengrillen für die hungrigen Zuschauer abgestellt, siegreichen winkte die nächste Runde.
Umkehr der herrschenden Verhältnisse
"Verkehrte Welt", kommentiert Gabriele Dafft den Kölner Abi-Gag: "Abiturienten drehen die sonst im Klassenzimmer herrschenden Verhältnisse um. Lehrer müssen in die Rolle des Prüflings schlüpfen und sich vor einer Jury aus Schülern bewähren." Gabriele Dafft leitet die mobile Projektgruppe "Abi-Action" im Amt für rheinische Landeskunde des Landschaftsverbands Rheinland und hat mit ihrem Team in den letzten zwei Jahren etliche Abi-Gags wissenschaftlich begleitet und dokumentiert.
Wettkämpfe sind typisch Abi-Gag; obendrein verwandeln Abiturienten Aula und Schulhof oft in Strandleben pur. Dann müssen Lehrer Cocktails mixen oder gegen überlegene Sextaner im Limbo antreten. An anderen Schulen gilt es, bei Quizshows Fragen aus relevanten Lebensbereichen zu beantworten. Etwa: Wie heißen die Mitglieder der No Angels?
Früher war alles anders: Anno 1788, als der König von Preußen eine einheitliche Reifeprüfung an seinen höheren Schulen als Zugangsvoraussetzung für die Universitäten erfand, dachte noch niemand an Abi-Gags. Erst für das Ende des 19. Jahrhunderts zeugen historische Belege von ersten Abi-Umtrieben: Die Abiturienten feierten in piekfeiner Kleidung, kutschierten in Pferdedroschken herum und verschenkten Blumensträuße; sie vergnügten sich in teuren Restaurants ebenso wie in schummrigen Kneipen.
Bald darauf legte sich die Weltwirtschaftskrise über das Land und verdarb den jungen Menschen den Spaß. Der Abi-Pomp geriet in Vergessenheit. Auch während des 2. Weltkriegs war den Schulabgängern nicht nach Feiern zumute, und noch lange nach Kriegsende beschränkten sich Abi-Feierlichkeiten auf streng formelle Zeugnisübergaben und andächtiges Tafeln im Kreis der Familie. Selbst die sonst so ausgelassenen Achtundsechziger fanden im Bestehen der Reifeprüfung keinen Anlass zum Feiern - vielleicht war ihnen die autoritäre Institution Schule einfach zu muffig.
Doch spätestens gegen 1980 entdeckten die Abiturienten den Spaßfaktor im Schulende und begannen ihren Abschied als möglichst unvergessliche Mitmach-Show für alle zu inszenieren. Für Gabriele Dafft und ihre Abi-Forscher ist der Abi-Gag 2003 mehr als nur Schülerklamauk: "Rund um Abi-Gags, -Feiern, -Ball und -Zeitung haben die Schüler eine Unzahl von Aktivitäten entwickelt. Uns Alltagsforschern bietet das Einblick in das aktuelle Lebensgefühl und Selbstverständnis junger Menschen."
Junge Kundschaft für Eventveranstalter
Jeder Jahrgang versucht, die Konkurrenz aus den Schulannalen und der Nachbargymnasien zu übertreffen. Dabei machen die Abiturienten schon mal fünfstellige Beträge locker. Und somit wird das Abitur zum lukrativen Markt für örtliche Eventveranstalter, Diskotheken und Getränkelieferanten: Sie stellen sich mit speziellen Produkten - Abi-Sekt mit Jahrgangsprägung und Abi-Logo - auf ihre junge Kundschaft ein.
"Die Abi-Events sind eine Art Trainee-Programm für die Nachwuchsmanager von morgen", so Gabriele Dafft. Denn ohne Teamgeist, Kreativität, Durchhaltevermögen und Begeisterung führt kein Weg ins gemeinsame Ziel. Daffts Fazit zum Lebensgefühl des Abi-Jahrgangs 2003 lautet deshalb: "Das Etikett Null Bock passt auf keine Generation von Abiturienten so wenig wie auf die heutige."
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