Urteil zu Kopftuchverboten Karlsruhe kritisiert Bevorzugung des Christentums

Erster Senat des Bundesverfassungsgerichts kritisiert Schulgesetze: "Öffnung für eine diskriminierende Verwaltungspraxis"
Foto: Uli Deck/ picture alliance / dpaFast fünf Jahre warteten zwei Musliminnen aus Nordrhein-Westfalen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuchverbot an Schulen. Am Freitag sollten sie das Urteil erhalten - doch bereits am Vortag bekamen interessierte Kreise die Nachricht von der höchstrichterlichen Entscheidung vorab geschickt.
Aufgrund eines "internen Versehens" seien Teile der Pressemitteilung"für kurze Zeit" bereits am Donnerstag einsehbar gewesen, erklärte das Gericht. Die Zusammenfassung war am Vormittag über einen zu früh abgesetzten RSS-Feed bekannt geworden.
Dabei musste das Verfassungsgericht in seinem Kopftuch-Urteil indirekt eine weit größere, juristische Panne eingestehen: Vor knapp zwölf Jahren hatten die Verfassungsrichter des Zweiten Karlsruher Senats geurteilt, dass die Bundesländer "Bekleidung von Lehrern, die als religiös motiviert verstanden werden kann", verbieten dürfen - was damals vor allem auf muslimische Kopftücher zielte.
Dafür, so das Urteil von 2003, genügten schon sogenannte "abstrakte Gefahren" - also "die bloße Möglichkeit einer Gefährdung oder eines Konflikts". Auf dieser Grundlage erließen die meisten Bundesländer nach und nach entsprechende Regelungen für Kopftuchverbote, gerichtet gegen muslimische Lehrerinnen und Erzieherinnen.
Erster Senat korrigiert Spruch des Zweiten Senats
Diese Vorgabe hat nun der Erste Senat des Gerichts, der vor allem für den Grundrechtsschutz zuständig ist, beeindruckend deutlich korrigiert: Das "an eine bloße abstrakte Gefährdung" anknüpfende "strikte und landesweite Verbot einer religiösen äußeren Bekundung" sei den in ihrer Religionsfreiheit betroffenen Lehrerinnen allgemein "nicht zumutbar".
Etwas anderes könne nur gelten, wenn deren äußeres Erscheinungsbild "zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität führt". Dies wäre etwa denkbar, so die Richterinnen und Richter in ihrem aktuellen Urteil, wenn solche sichtbaren religiösen Symbole Konflikte mit Eltern oder Schülern erzeugen oder schüren und so "ernstlich" die "schulischen Abläufe und die Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags" beeinträchtigten. Nur bei einer derart begründeten "konkreten Gefahr" sei es den Pädagogen zumutbar, auf eine "nachvollziehbar als verpflichtend" empfundene religiöse Bedeckung zu verzichten.
Obwohl sie damit die Anforderungen an Kopftuchverbote der Entscheidung von 2003 deutlich verschärften, vermieden es die Richterinnen und Richter des Ersten Senats jetzt, sich offen gegen die damalige Entscheidung zu stellen: Denn dann hätten sie förmlich eine gemeinsame Entscheidung aller 16 Verfassungsrichter herbeiführen müssen.
Tatsächlich öffnete der Beschluss für die Länder eine Hintertür, die es ermöglicht, die frühere und die jetzige Entscheidung noch auf eine Linie zu bringen. Wenn es "aufgrund substantieller Konfliktlagen" in bestimmten Schulen oder Schulbezirken in "einer beachtlichen Zahl von Fällen" wegen Meinungsverschiedenheiten über das richtige religiöse Verhalten zu einer konkreten Gefährdung des Schulfriedens komme, dann sei es zulässig, religiöse Symbole "über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden" - sprich: wenn sich konkrete Konflikte häufen, ist vorübergehend auch ein allgemeines, vom Einzelfall losgelöstes Kopftuchverbot möglich.
"Öffnung für eine diskriminierende Verwaltungspraxis"
Dabei formulierten die Verfassungsrichter, stellenweise fast schon krampfhaft, so, dass die entsprechenden Passagen nicht nur auf das muslimische Kopftuch, sondern auf alle religiösen Symbole - also etwa ein christliches Kreuz, einen Jesus-Christus-Fisch oder eine jüdische Kippa Anwendung finden.
Nicht ohne Grund: Denn das nordrhein-westfälische Schulgesetz enthielt - ebenso wie die Gesetze in Baden-Württemberg und Hessen - eine Formulierung, wonach "die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen" dem Neutralitätsgebot nicht widerspricht.
Diese Klausel erklärt das neue Urteil ausdrücklich für verfassungswidrig: Diese Bestimmung könne "als Öffnung für eine diskriminierende Verwaltungspraxis verstanden werden", dass also christliche Symbole in jedem Fall erlaubt wären, was - jedenfalls im Gesetzgebungsverfahren in Nordrhein-Westfalen - "bewusst hingenommen" worden sei. Auch eine ähnliche Formulierung im bayerischen Schulgesetz dürfte davon nun betroffen sein.
Dabei war die unterschiedslose Behandlung der Religionen sogar schon im Kopftuchurteil von 2003 angelegt. Auch das Bundesverwaltungsgericht hatte zwischenzeitlich geurteilt, "Ausnahmen für bestimmte Formen religiös motivierter Kleidung" kämen "nicht in Betracht".
Auf dieser Grundlage hatte das Verwaltungsgericht Stuttgart im Jahr 2006 ein Kopftuchverbot gegen eine Lehrerin in Bad Cannstatt aufgehoben, trotz einer solchen landesgesetzlichen Regelung, weil in einer Schule in Baden-Baden Nonnen in Tracht unterrichten durften. Eine solch unterschiedliche "Anwendungspraxis" habe die muslimische Lehrerin "in ihrem Anspruch auf strikte Gleichbehandlung der verschiedenen Glaubensrichtungen verletzt".
Das letzte Wort im Fall der nordrhein-westfälischen Klägerinnen muss nun das Landesarbeitsgericht sprechen. Sehr unwahrscheinlich, dass das Kopftuchverbot unter den verschärften Maßgaben aus Karlsruhe in diesen beiden Fällen Bestand haben wird.