Arme Schüler So ließe sich Kinderarmut bekämpfen

Knapp zwei Millionen Kinder leben in Hartz-IV-Haushalten. Für ihre Eltern ist jede Klassenfahrt ein finanzieller Kraftakt. Politiker und Bildungsexperten haben Vorschläge, wie ihnen geholfen werden kann.

Yelda hatte sich über die Einladung zum Kindergeburtstag gefreut. Doch als ihre Mutter hörte, welche Geschenke die anderen Kinder dem Geburtstagskind mitbringen würden, sagte sie Yelda, sie könne leider nicht hingehen. Die Familie kann sich solche Präsente nicht leisten.

Annalena Baerbock erzählt diese Geschichte am Telefon. Die Bundesvorsitzende der Grünen, die im Familienausschuss des Bundestags sitzt, bewegen solche Situationen. "Die unsichtbare Kinderarmut ist eine der größten Schanden in Deutschland", sagt sie.

Vor allem in strukturschwachen Regionen seien viele Kinder von Armut betroffen - nicht nur von materieller, sondern auch von gesellschaftlicher. "Im ländlichen Raum gibt es im Gegensatz zu Großstädten kaum Freizeitangebote. Haben die Eltern kein Auto, können die Kinder nicht einmal in Sportvereine, in Musikschulen oder ins Schwimmbad gehen. Zudem fehlen dort oft Angebote wie Nachhilfe oder Kinderküchen, die in vielen größeren Städten ehrenamtlich und damit kostenlos angeboten werden."

Wie es ist, wenn Familien das Geld für Klassenfahrten, Theaterkurse, Bücher oder Stifte nicht aufbringen können, haben sieben Betroffene in eindrücklichen Worten dem SPIEGEL erzählt.

Es gibt zwar das Bildungs- und Teilhabepaket, das Kindern aus armen Familien ermöglichen soll, am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen, doch in vielen Kommunen sei es viel zu kompliziert, die Förderung zu beantragen, sagt Baerbock. Nach Schätzungen nehmen nur drei von zehn Berechtigen das Angebot wahr.

Die Politikerin fordert deshalb andere Maßnahmen, um Kinderarmut in Deutschland einzudämmen:

  • eine stärkere Subventionierung von Schwimmbädern und Musikschulen,
  • kostenloses Mittagessen für Kinder aus sozial schwächeren Familien,
  • höhere Regelsätze für Kinder von Hartz-IV-Empfängern,
  • automatische Auszahlung des Kinderzuschlags.

Die beste Lösung sei aber eine andere: die Kindergrundsicherung (siehe Kasten), in der sämtliche Förderungen für Kinder, wie etwa das Kindergeld, inkludiert seien. Über die Höhe der Grundsicherung kann Baerbock allerdings noch keine Angaben machen. Bildungsexperten nennen hingegen eine Summe von 619 Euro pro Monat  - so hoch ist das Existenzminimum für Kinder.

Die Kindergrundsicherung

Die Unionsparteien stehen einer Kindergrundsicherung indes skeptisch gegenüber. Marcus Weinberg (CDU), Vorsitzender der Arbeitsgruppe Familie, Senioren, Frauen und Jugend, äußerte sich  bereits vor eineinhalb Jahren zu dem Thema: Eine Kindergrundsicherung "werden wir nicht unterstützen." Es sei trügerisch, die Entwicklungschancen von Kindern vom sozialen Status ihrer Eltern abzukoppeln.

Die CSU spricht sich zwar für kostenlose Mittagessen und kostenlosen Transport für Schüler aus, ist aber ebenfalls gegen eine Kindergrundsicherung. Im vergangenen Jahr hatte die Partei einen entsprechenden Antrag der SPD abgelehnt. Bayerns Sozialministerin, Kerstin Schreyer, sagte dazu:  "Die Kindergrundsicherung unterstellt, dass man die Kinder separat in den Blick nimmt. Aber das ist nicht das Ziel."

Eine Kindergrundsicherung berücksichtigt nicht den Wohnort

Auch Tanja Schorer-Dremel (CSU), Vorsitzende der Kinderkommission des Bayerischen Landtags, sagte dem SPIEGEL: "Ich glaube nicht, dass Kinderarmut mit einer einheitlichen Kindergrundsicherung bekämpft werden kann, weil wir die konkrete familiäre Situation nicht einfach ausblenden können. Deshalb setzen wir auf zielgenaue Hilfen."

Diese müssten auf den jeweiligen Bedarf abgestimmt sein, denn "betrachtet man allein die unterschiedlichen Mieten, wird offensichtlich, dass eine einheitliche Kindergrundsicherung nicht gerecht sein kann: Diese unterscheidet nicht, ob eine Familie in München, im Allgäu oder im Bayerischen Wald wohnt."

Um Familien zu entlasten, hat die CSU in Bayern den Unterhaltsvorschuss für minderjährige Kinder ausgeweitet und ein Familiengeld eingeführt. Hier erhalten Eltern von Kindern im Alter von 13 bis 36 Monaten ab September 250 Euro im Monat. Für das dritte Kind gibt es 300 Euro. Dieses Geld wird einkommensunabhängig gezahlt, reiche Familien erhalten es also ebenso wie arme.

Anette Stein, Expertin für Bildungsinvestitionen bei der Bertelsmann-Stiftung, kann nicht nachvollziehen, warum Deutschland als starke Wirtschaftsnation schon seit Jahren über Kinderarmut redet - das Problem aber nicht in den Griff bekommt.

Das Anheben des Kindergeldes sei ein Schritt in die falsche Richtung, findet Stein: "Das Geld kommt bei armen Kindern nicht an, weil es mit den Hartz-IV-Sätzen verrechnet wird." Sie nennt drei Schritte zur Bekämpfung von Kinderarmut: Zunächst müsse vernünftig ermittelt werden, was Kinder bräuchten, um an sozialen und kulturellen Aktivitäten teilzuhaben. "Dafür müssen wir sie mit einbeziehen und fragen."

Stein schlägt zudem eine neue finanzielle Leistung - ähnlich der Kindergrundsicherung - vor. Diese solle allen Kindern und Jugendlichen zur Verfügung stehen und mit steigendem Einkommen der Eltern sinken.

Als letzten Schritt sollten Anlaufstellen für Kinder, Jugendliche und Eltern geschaffen werden, in denen sie sich über finanzielle Hilfen und weitere Angebote informieren könnten. "Vor Ort sollen kompetente Ansprechpartner arbeiten, die beim Stellen der Anträge helfen."

Doch auch Eltern könnten die Situation verbessern, sagt Annalena Baerbock. "Wir sind in der Pflicht, auf Elternabenden kritisch zu hinterfragen, ob Kita- und Schulfeste nicht günstiger gestaltet werden können und ob Klassenfahrten ins Ausland gehen müssen. Auf die nächste Einladung zum Kindergeburtstag will Baerbock schreiben, dass sich ihre Tochter vor allem über kleine Geschenke freue, die selbst gemacht sind oder nur ein paar Euro kosten.

Video: Kinderarmut in Deutschland

SPIEGEL TV
Mitarbeit: Florian Diekmann
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