Babylon in Hanau Eine Grundschule mit Kindern aus 26 Nationen
Schüler und Schülerinnen der Klasse 1 b waren erstmals gemeinsam im Schwimmbad. "Was hat euch am besten gefallen?", fragt die Lehrerin am nächsten Tag. "Ich hab mir gefallen meine Brille, die unter Wasser", radebrecht ein Junge, gestikuliert, sucht aufgeregt nach weiteren Worten. "Mir hat gefallen diese langen Dinger", ruft ein anderer. "Am besten war, wo wir diese großen Jungs nass spritzt", antwortet ein Dritter. Ein Mädchen sagt leise: "Ich schwimmt."
"Ihr bildet ja schon richtige kleine Sätze", lobt Klassenlehrerin Karin Mittl. Die Pädagogin weiß, welche unendliche Mühe es viele Kinder kostet, sich überhaupt verständlich zu machen. 5 ihrer 21 Schüler sprechen kaum Deutsch, sind mit den Eltern erst vor Monaten aus ihrer Heimat geflohen. Manche kommen von weit her.
"Viel schießen gehört", erinnert sich Hammet aus Kabul, der in den letzten Wochen enorm dazugelernt hat. Hala aus Eritrea kann sich sogar noch besser ausdrücken, Olexandr aus Russland dagegen, klein, völlig verschüchtert, ringt verzweifelt um Formulierungen. Und Madina, die sechsjährige Tschetschenin, sitzt nur stumm dabei: "Sie versteht kein Wort", bedauert die Lehrerin.
In der Gebeschusschule im hessischen Hanau bilden Kinder wie Hammet, Olexandr und Madina keine Ausnahme. Hier, im berüchtigten Lamboy-Viertel im Hanauer Norden, führen täglich 20 Pädagogen, überwiegend Frauen, einen verbissenen Kampf gegen Sprachlosigkeit, Unwissenheit, Analphabetismus.
Wie eine Trutzburg steht der sandsteingelbe Altbau, benannt nach einem früheren Bürgermeister und fertig gestellt zu Kaiser Wilhelms Zeiten, inmitten einer vom Verfall bedrohten Umgebung.
Die 300 Schüler kommen aus zwei Asylbewerberheimen in unmittelbarer Nachbarschaft, einer Aussiedlerunterkunft gleich daneben und drei heruntergekommenen Wohnsilos, in denen türkische Einwanderer der zweiten und dritten Generation leben. Auch ein paar alteingesessene Familien, die es nicht gepackt haben, aus dem Viertel fortzuziehen, schicken ihre Kinder hierher knapp 15 Prozent der Schüler sind Deutsche. Im Schulhof herrscht babylonisches Sprachengewirr.
"Eine riesige Chance, mehr zu lernen als anderswo", versichert Schulleiterin Anne Stübing, eine Idealistin. Die 54-jährige Frau, klein, drahtig, aktive Hockeyspielerin, stemmt sich mit all ihrer Energie gegen den Verdacht, ihre Schüler seien von vornherein zu künftigen Verlierern bestimmt. 26 Nationen, na und? Die Kinder würden eben spielerisch mit mehreren Sprachen, Sitten und Religionen konfrontiert.
In der Klasse 4 b funktioniert das. "Was heißt Montag in eurer Muttersprache?", fragt Rektorin Stübing. "Lunedí", ruft Edwiga, die Italienerin. "Ponedeljak", kräht Jasmina aus Bosnien. "Luni", verkündet Cristian aus Rumänien. Die 4 b, die von der Rektorin und ihrer Stellvertreterin betreut wird, ist die Vorzeigeklasse der Gebeschusschule. Die Kinder hier können vieles, was die Kinder in den anderen Klassen nicht können: selbständig arbeiten, im Internet surfen, Referate schreiben.
Der Vorwurf von Kollegen, die Leiterinnen hätten sich die aufgewecktesten und wissensdurstigsten Schüler herausgepickt, wird von Stübing bestritten: "Alles Quatsch." Erfolg oder Misserfolg hänge vor allem vom Ansatz ab. Gefragt werden müsse: "Wo sind die Stärken der Kinder?" Und nicht etwa: "Wo liegen ihre größten Schwächen?"
Doch die Schwächen sind selbst bei größtem Optimismus nicht zu übersehen. "Einige meiner Schüler wissen nicht, in welcher Stadt sie leben", bedauert Andrea Galler, Klassenlehrerin der 2 b. Andere glaubten fest, "dass die Erdbeeren an Bäumen wachsen". "Manchmal kann ich mich nur mit Zeichensprache verständlich machen", beschreibt Angelika Berthold, die in der 3 b unterrichtet, die Sprachverwirrung.
Karin Mittl, Klassenlehrerin der 1 b, unterrichtet seit 1966 an der Gebeschusschule, seit 36 Jahren. So verzweifelt und enttäuscht wie seit Herbst war die heute 59-Jährige noch nie. Die 1 b ist ihre letzte Klasse vor der Pensionierung. "Anfangs musste ich nur erziehen", erzählt sie. "Die Kinder konnten keine Stifte halten, nicht in Büchern blättern, nicht einmal ihre Jacken anziehen."
Das Vertrauen wächst nur langsam
Die meisten, der deutschen Sprache nicht halbwegs mächtig, hätten außerdem "einfach dichtgemacht". Nicht zugehört, nicht reagiert, sie kaum angesehen. Nicht aus Bosheit oder mangelndem Willen. "Sie waren überfordert."
Entwurzelt, konfrontiert mit fremder Umgebung, fremden Erwachsenen, fremden Kindern, seien die Schüler vor Angst und Misstrauen verstummt. Erst jetzt, nach einem halben Jahr, entstehe allmählich Vertrauen, sei Lernen erstmals möglich.
"Kommt alle an die Tafel, und prägt euch die Zeichnung ein", fordert Lehrerin Mittl auf eine Konzentrationsübung, die viele der Sechs- bis Neunjährigen schon überstrapaziert. Nur einige Kinder gucken genau, andere drängeln und schubsen, ein Mädchen schmiert sich mit Kreide die Jacke voll. Bis mit der Bildbeschreibung begonnen werden kann, vergeht eine Viertelstunde.
In der Gebeschusschule werden Benachteiligte besonders gefördert. "Rückstellung ist ein Willkürakt", glaubt Rektorin Stübing. Sie nimmt deshalb alle schulpflichtigen Kinder auf, ohne die übliche Feststellung der Schulfähigkeit; auch Sehbehinderte, Hörbehinderte und Lernbehinderte, die andernorts zurückgestellt oder auf Sonderschulen abgeschoben würden. Es gibt, in Integrationsklassen, besondere Förderung, bis hin zum Einzelunterricht.
"Du schmierst dich ja total voll", warnt Sozialpädagogin Rita Helm einen Erstklässler, der gerade den rechten Ellbogen in schwarze Schuhcreme taucht. Um die Feinmotorik zu verbessern, trainiert die Pädagogin mit Schülern der ersten Klassen, wie man Schuhe putzt, ein Glas Wasser eingießt, eine Tasse spült oder Schnürsenkel zubindet alltägliche Verrichtungen, die in den Elternhäusern oft nicht geübt werden. Und weil viele Eltern versäumen, ihren Nachwuchs in Kindergärten zu schicken, bleibt nur die Schule.
Beim Schuheputzen fällt manchen schon die Reihenfolge schwer. Erst die Creme und dann die Schmutzbürste? Oder doch erst das Poliertuch?
Streng nach Stundenplan wird nicht gelernt, der 45-Minuten-Rhythmus, anderswo noch selbstverständlich, ist abgeschafft. "Eine rechnerische, keine pädagogische Einheit", findet die Rektorin. Die Schulklingel läutet nur noch einmal am Tag: nach Ende der großen Pause.
"Die Kinder konnten keine Stifte halten, nicht in Büchern blättern, nicht einmal ihre Jacken anziehen. Sie waren überfordert, haben einfach dichtgemacht."
In einer Ecke des Schulhofs hüpfen und tollen Mädchen verschiedener Nationalität übermütig miteinander ganz so, als wollten sie Rektorin Stübings Traum einer harmonischen Multikulti-Schule wahr werden lassen. Den Refrain haben sie sich selbst ausgedacht: "Charly Chaplin flog auf Reisen, um den Mädchen was zu zeigen. Erstes Mal: Ollala, zweites Mal: Tscha-tschatscha."
Auf dem Flur im zweiten Stockwerk geht es weniger friedlich zu. Nuhmi hat David seinen Ranzen an den Kopf geschleudert, der wälzt sich weinend auf dem Boden. "Entschuldige dich", fordert eine Lehrerin von Nuhmi. "Gib ihm die Hand. Guck ihn dabei an. Es ist mir ernst."
Um Aggressionen abzubauen, sollen die Kinder zwischen dem Fachunterricht einmal am Tag richtig toben, auf Stelzen laufen, auf Pedalos balancieren, Bällen nachjagen. Die "tägliche Bewegungszeit" dient, neben dem Sportunterricht, als Ventil für den unbändigen Bewegungsdrang.
"Psst" - wie die Lehrer den Geräuschpegel senken. Und warum viele Schüler hungrig in den Unterricht kommen.
Lesen Sie im zweiten Teil:
Als wollten sie sich alle Wut, alle Enttäuschungen von der Seele schlagen, dreschen die Mitglieder der "Arbeitsgemeinschaft Trommeln", Schüler unterschiedlichsten Alters, mit Stöcken auf Mayonnaise-Eimern ein, singen dazu schräg und laut: "Hurra, hurra, der Pumuckl ist da."
Viel schwerer fällt es vielen Schülern, sich zu konzentrieren, sich nicht ablenken zu lassen, zu schweigen. In der Klasse 2 a versuchen drei Erwachsene eine Lehrerin, eine Sozialpädagogin, eine Praktikantin den Geräuschpegel langsam zu senken, bis zur absoluten Ruhe. Sie legen den Finger auf den Mund, flüstern: "Psst." "Die Ayshe ist ganz leise." "Psst." "Der Achmed ist ganz leise." "Psst." "Der Mehmet ist ganz leise." Zum Schluss herrscht Stille.
Büsra, das zehnjährige Türkenmädchen, ist immer ganz leise. Auch jetzt, beim Mathematikunterricht in der 3 c, guckt sie stumm vor sich, blickt nicht nach vorn, wo sich ein Mitschüler mit Subtraktionen abplagt. "255 103 = 152" schreibt er an die Tafel. "Stimmt das, Büsra?", will Lehrerin Melanie Steil wissen. Büsra schaut erschrocken hoch, schüttelt erst den Kopf, nickt dann.
Als Einzige in der Klasse muss die Zehnjährige auf Geheiß ihrer Eltern ein Kopftuch tragen. Sie kommt nicht mit zum Schwimmunterricht, auch beim Sport darf sie das Tuch nicht ablegen. Der Vater hat auf Drängen der Lehrerin wenigstens erlaubt, dass sie in der Turnhalle ein Tuch ohne Spangen trägt. Aus religiösen Gründen darf Büsra auch nicht wie die anderen Kinder in der Klasse ihren Geburtstag feiern. Der Vater hat sogar streng verboten, dass sie Geschenke annimmt.
Wie viele muslimische Schüler besucht Büsra nebenher eine Koranschule. Dort müssen die Kinder stupide büffeln, mehr auswendig lernen als an der Grundschule.
Deutschstunde in der 2 a. Die Mädchen und Jungen, unter anderem aus Afghanistan, Armenien, Marokko, Somalia und Italien, sollen Gegenstandswörter (Nomen) an die Tafel schreiben.
Was ist ein "Klobus"?
Das geht ruck, zuck. "Haus" schreibt einer, "Affe" ein Zweiter, "Auto" ein Dritter. Eine Schülerin möchte etwas Besonderes beisteuern. "Klobus" kritzelt sie an die Tafel. "Schreibt man das wirklich mit K?", fragt die Klassenlehrerin. Schweigen. "Was ist das denn?", will sie weiter wissen. "Ein Bus mit einem Klo", ruft ein Junge. "So ein Toilettenwagen", ein anderer. Das Mädchen, das die Idee hatte, meldet sich verlegen: "Eine Weltkugel."
"Wer hat geübt?", fragt zwei Räume weiter Brigit Treutler, Klassenlehrerin der 2 a. Ihre Schüler sollten ein kleines Gedicht auswendig lernen. "Gerade bin ich aufgewacht, es ist schon Tag, vorbei die Nacht. Der Frühstückstisch ist schon gedeckt, am besten mir mein Müsli schmeckt."
Die Lehrerin deutet auf Kinder, die sich nicht melden. "Ich hab's vergessen", gesteht Edith. Mohammed, die Schultern hochgezogen, die Hände in den Taschen vergraben, stottert in gebrochenem Deutsch: "Gerade bin ich aufgewachen ...", bleibt hängen, weiß nicht weiter, guckt an die Decke. Sabrina verheddert sich hoffnungslos am Wort "Frühstückstisch" womöglich nicht nur Zufall.
"Viele Kinder kommen mit leerem Magen", berichtet die Lehrerin. In allen Klassen der Gebeschusschule wird deshalb während des Unterrichts gefrühstückt mit selbst gekochtem Kakao, mit Äpfeln, die der Hausmeister verkauft. Hinterher müssen die Schüler unter Anleitung die Zähne putzen für einige eine ungewohnte Übung. "In manchen Familien gibt es nur eine Zahnbürste", weiß Rektorin Stübing.
Ums Zähneputzen geht es auch beim Aufsatz in der 4 a, einer Klasse ohne ein deutsches Kind. Für die 17 Schüler, überwiegend Türken, ist Deutsch eine Fremdsprache voller Fallstricke und Tücken. Nur drei kommen damit halbwegs zurecht.
Ein Kampf gegen Windmühlen
Mikail, fast elf, gehört nicht dazu. Auf seinen Handrücken hat er mit Kugelschreiber "SEX" geschrieben, sein Schmusetier, einen Stoffhasen, streichelt er auch während des Unterrichts. Der kräftige Junge, der die anderen um einen Kopf überragt, aber kindlich wirkt, plagt sich mit wenig Erfolg: Krange Zähne können hendsten, wenn man sich nich richtig ernehrt und die Zähne nich richtig fleg. Purste gründlich ihnen und lass die Zähne heuwig kotrolieren.
"Oje", schreibt Klassenlehrerin Barbara Eisenkolb statt einer Note unter die Arbeit und "Du musst weiter üben." In wenigen Sätzen registriert sie 34 Fehler.
Mit diesen Defiziten verlässt Mikail in ein paar Monaten die Schule die Vorgaben des Rahmenplans für Grundschüler, der unter anderem "Rechtschreibsicherheit" vorsieht, erfüllt er nicht annähernd. Dennoch wechselt er sogar zur Förderstufe einer Gesamtschule.
Sechs seiner Klassenkameraden müssen dagegen das Pensum wiederholen oder, weil sie zu alt für die Grundschule sind, zur Sonderschule ein Ergebnis, das Klassenlehrerin Eisenkolb deprimiert: "Dabei habe ich mir solche Mühe gegeben."
Viele Kolleginnen empfinden ähnlich, mehrere haben sich versetzen lassen. "Ich glaube nicht, dass ich das bis zum Rentenalter durchhalte", gesteht Lehrerin Treutler, 41. Das Niveau ihrer Klasse sei "schwach, ganz schwach". Der Versuch, den Kindern die deutsche Sprache beizubringen, gleiche einem "Kampf gegen Windmühlen".
"Bahnhofsdeutsch und Küchentürkisch"
"Kauft doch mal eine deutsche Zeitung, guckt doch auch mal deutsches TV", mahnt Rektorin Stübing die Eltern ausländischer Schüler. Doch vor allem bei den Einwandererfamilien aus der Türkei, die rund die Hälfte aller Schüler stellen, fehlt den Kindern oft jegliche Unterstützung. Gesprochen wird fast nur Türkisch, häufig Dialekte aus verschiedenen Regionen Anatoliens.
"Bahnhofsdeutsch und Küchentürkisch" nennt die Rektorin den Sprachmischmasch, mit dem Kinder wie Emra aus der 3 c aufwachsen. Der Elfjährige spricht so schlecht Deutsch, kann nur so miserabel Türkisch, dass sich sogar die ebenfalls schwachen Mitschüler über ihn schlapp lachen.
Bei der Deutscharbeit schafft Emra in eineinhalb Stunden gerade mal, das Thema von der Tafel abzuschreiben, liefert ansonsten ein leeres Blatt ab.
Selbst durch zusätzliche Deutschstunden und sogar regelmäßigen Türkischunterricht gelingt es oft nicht, Schüler wie Emra aus ihrer Sprachlosigkeit zu befreien. Zumal Angebote für die Eltern wie der Spezialkurs "Mama lernt Deutsch" zu selten genutzt werden.
Stolz der Rektorin ist das Projekt "Babylon"; gemeinsamer Unterricht über die unterschiedlichen Religionen, die mannigfachen Sitten und Essgewohnheiten aus den Herkunftsländern der Schüler, systematische Vergleiche über Ähnlichkeiten in den Sprachen und Kulturen.
Praktiziert wird die multikulturelle Idealvorstellung der Rektorin ("Vielfalt in der Gemeinsamkeit") am besten in der 4 b, ihrer eigenen Klasse: Mehrere Schüler haben Zeitungen aus ihren Herkunftsländern mitgebracht, lesen daraus erst in ihrer Muttersprache vor, dann auf Deutsch. Fatih übersetzt eine Überschrift aus dem türkischen Blatt "Hürriyet": "Minister Beckstein: ,Immer weniger Ausländer kriminell.'"
Vier Schüler der Vorzeigeklasse wechseln ab Herbst aufs Gymnasium eine für die Schule sensationelle Quote. Auch die anderen nennen fast alle Berufsziele, die das Abitur voraussetzen: Edwina will Tierärztin werden, Patrick Chemielehrer, Kai Architekt, Daniel Ingenieur. "Eher unrealistisch", glaubt selbst Rektorin Stübing.
Dass die Hanauer Schule durchaus Grundstein für eine erfolgreiche Karriere sein kann, hat einer bewiesen, der am 1. Dezember 1966 eingeschult wurde. "Zuname: Völler", "Vorname: Rudolf", steht auf seiner alten Schülerkarte. "Religion: evangelisch".
Zum 90. Schuljubiläum Ende Mai sollte der berühmte Schüler eigentlich als Ehrengast auftreten, musste aber absagen: Da ist er bereits mit der Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea.
Als Vertreterin kommt Rudi Völlers Mutter. Die hat immerhin 20 Jahre lang an der Gebeschusschule geputzt.