Berliner Problemkiez Neukölln Die Jugendrichterin und ihre Laufkundschaft

Kirsten Heisig ist Jugendrichterin - nicht irgendeine und nicht irgendwo: Sie arbeitet in Neukölln und kämpft auch außerhalb des Gerichtssaals gegen die Verwahrlosung von Jugendlichen. Eine ihrer Ideen macht in ganz Berlin Schule: Junge Straftäter kommen vor Gericht, bevor das Vergessen einsetzt.
Jugendrichterin Kirsten Heisig: "Meine Schäfchen spucken, klauen und prügeln"

Jugendrichterin Kirsten Heisig: "Meine Schäfchen spucken, klauen und prügeln"

Foto: Wolfgang Kumm/ picture alliance / dpa

"Wenn Sie hier noch mal aufschlagen, ist Schluss mit lustig", sagt Jugendrichterin Kirsten Heisig freundlich. Vor ihr steht ein schmächtiger Berliner mit Lockenschopf, dunkle Hautfarbe, 19 Jahre alt. Er hat sich zu seinem Prozess im Amtsgericht Tiergarten in einen Anzug geworfen und gibt sich lässig: "Das höre ich ja zum ersten Mal, dass ich den Busfahrer verletzt habe." So wirklich erinnern könne er sich nicht. "Aber dass von der Polizei gleich alles so dramatisiert wird", wirft der Angeklagte großspurig ein.

"Jetzt reden wir mal über Ihre Probleme und nicht darüber, was die anderen falsch gemacht haben", sagt Heisig in dem schmucklosen Raum fast mütterlich. "Alkohol, Cannabis, Valium - Sie waren richtig voll und sind ausgetickt. Das ist ja nicht das erste Mal. Und Sie geben immer anderen die Schuld. Besonders reif ist das nicht." Die selbstsichere Fassade bröckelt. "Ja, ich versuche mich zu bessern", sagt der junge Mann zum Schluss leise und blickt angestrengt nach unten. Er bekommt seine allerletzte Chance und für ein Jahr einen Betreuer. Beim nächsten Delikt droht ihm Knast.

An diesem Montag stehen ab 9 Uhr zwölf Prozesstermine auf der Liste von Kirsten Heisig. In neun Fällen haben die Angeklagten ausländische Namen, Alltag an diesem Berliner Amtsgericht. "Es wird viel gelogen vor Gericht - Deutsche ebenso wie Migranten", sagt die 48-jährige Richterin, die jugendliche Straftäter schon mal ironisch "meine Kunden"  oder "meine Schäfchen" nennt.

Heisig beschleunigte die Gerichtsverfahren

Sie ist nicht verzweifelt oder deprimiert, obwohl sie einräumt, dass manche Fälle hoffnungslos seien. "Das gab es vor zehn Jahren noch nicht." Doch Heisig kämpft - und hat etwas in Bewegung gesetzt, das die Spirale von Gewalt, Respektlosigkeit und Verwahrlosung stoppen soll.

Was die Richterin bundesweit bekanntmachte: Vor zwei Jahren hat sie das Neuköllner Modell eingeführt, das nun überall in Berlin angewandt werden soll. Im Problemkiez Neukölln sind Arbeitslosigkeit und Kriminalitätsrate hoch. Rund 50.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren leben hier, der Anteil der Zuwanderer beträgt 23 Prozent, knapp 60.000 der rund 300.000 Einwohner können ihren Lebensunterhalt nur mit Hilfe staatlicher Sozialleistungen bestreiten.

Die für den Bezirk zuständige Richterin hatte es satt, dass vor allem junge Männer, die klauen, Lehrer angreifen, Jüngere "abziehen" und Telefonzellen demolieren, erst Monate später vor ihr auf der Anklagebank saßen und sich dann kaum noch erinnern konnten.

"Wenn meine Töchter ihre Zimmer nicht aufräumen, kann ich nicht drei Wochen später Fernsehverbot erteilen - das bringt gar nichts." Schnell nach der Tat müsse die Strafe folgen, um wenigstens noch die Chance zu haben, den Delinquenten innerlich zu erreichen, fand Heisig und rannte bei der Polizei offene Türen ein. Heisig schickt auch Urteile per Fax ins Revier, die Polizisten freut's: "Das motiviert, wenn wir wissen, was aus den Jugendlichen geworden ist, die wir festgenommen haben", sagt der Neuköllner Beamte Steffen Dopichay. Im Kiez habe sich herumgesprochen, dass der Staat nicht bloß zuschaue.

"Die Behörden klettern aus ihren Elfenbeintürmen"

Wer auffällig wird, muss inzwischen davon ausgehen, dass Polizei, Jugendhilfe, Staatsanwaltschaft und Jugendrichter nicht nur seine jüngste Verfehlung kennen, sondern auch die davor. Denn es sind dieselben Leute, die jedesmal die Akte des jugendlichen Kriminellen in die Hand bekommen und den Fall samt Vorgeschichte kennen.

Die vereinfachten Verfahren kommen idealerweise innerhalb von drei bis vier Wochen vor Gericht. "Das hat erzieherische Wirkung", glaubt Heisig. Ihre Urteile: gemeinnützige Arbeit, ein Gespräch mit dem Opfer, ein Anti-Gewalt-Kurs oder auch Jugendarrest. "Die Jungs sollen merken, sie kommen nicht durch mit der Tour."

Berlins Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) sagt, sie wünsche sich, dass noch mehr ihren Beruf so ernst nähmen wie Heisig. "Sie hat eine ganze Menge bewegt. Und wir haben gelernt: Es nützt nichts, nur zu meckern und mit dem Finger auf andere zu zeigen."

Was anfangs noch wie eine einsame Mission aussah, hat Schule gemacht. Polizei und Justiz wollen das Neuköllner Modell ab Juni überall in Berlin umsetzen. Stufenweise wurde die schnellere Ahndung kleinerer Delikte erweitert. Denn die Probleme betreffen nicht nur Neukölln. Kriminelle Ausländer gebe es auch in Marzahn im Osten Berlins, sagt Heisig. Und: "Auch Kinder aus besseren Bezirken haben Probleme, weil sie zu viel materielle Zuwendung bekommen."

"Ich habe keine Freunde hinzugewonnen"

Auftritt im interkulturellen Elternzentrum: "Wir brauchen Ihre Kinder ganz dringend"

Auftritt im interkulturellen Elternzentrum: "Wir brauchen Ihre Kinder ganz dringend"

Foto: Wolfgang Kumm/ picture alliance / dpa

Bei der Staatsanwaltschaft sind derzeit rund 400 Intensivtäter registriert, viele mit ausländischen Wurzeln. Als Intensivtäter gilt man mit mindestens zehn Straftaten in einem Jahr - und als Schwellentäter mit bis zu neun Taten. Bei ihnen besteht noch Hoffnung, das gänzliche Abgleiten in eine kriminelle Karriere zu verhindern. Die erste Generation jugendlicher Intensivtäter sitze im Knast, "aber jetzt wächst die zweite Generation heran", sagt Oberstaatsanwalt Rudolf Hausmann, der die Justiz als "letzte Reparaturkolonne der Gesellschaft" bezeichnet.

Heisig ist stolz, dass ihre Ideen angenommen wurden. "Die Behörden klettern aus ihren Elfenbeintürmen und kooperieren. Das ist gut" - auch für die jungen Menschen, die Halt und Orientierung suchten. Die Richterin engagiert sich nicht nur, wenn sie Robe trägt: Sie geht zu Schulen Vereinen, Nachbarschaftstreffs.

An einem Abend besucht sie das interkulturelle Elternzentrum der Grundschule in der Köllnischen Heide. Rund 30 Frauen sind zu einem Informationsabend mit Heisig gekommen, einige tragen Kopftücher. Nur wenige Väter sind da, unauffällig weit hinten im Saal. Die Richterin berichtet aus 20-jähriger Berufserfahrung: "Das Abrutschen fängt meist schon mit Problemen in der Grundschule an. Intensivtäter hatten meist Schulprobleme oder gingen gar nicht erst hin."

Immer wieder unterbricht sie für die Übersetzung ins Türkische und Arabische. Und Heisig fragt in die Runde: Wie können Schule und Eltern zum Wohl Ihrer Kinder zusammenkommen? Es gehe dabei nicht um Überwachung: "Wir brauchen Ihre Kinder ganz dringend in guten Berufen - als Polizisten, Erzieher und Ärzte", appelliert Heisig.

"Ich bin nicht diplomatisch - aber das bräuchte ich"

Einer der Väter meldet sich zu Wort: Er kenne Familien, die das Fehlverhalten ihrer Kinder unterstützten. Eine arabische Mutter fragt: Was soll man denn machen, wenn bei mehreren Geschwistern alles normal laufe und nur einer gewalttätig sei? Ihre Schlussfolgerung: Es müssen die Gene sein. Heisig widerspricht. "Ich glaube nicht, dass die Gene schuld sind. Es ist doch oft so: Wer in der Schule erfolglos ist, holt sich den Erfolg auf der Straße." Notfalls sollte das Sorgerecht für Eltern eingeschränkt werden.

Einsperren aber nütze nicht viel. "Hinterher sind sie nicht besser - ganz im Gegenteil." Wenn Vater oder Mutter gar nicht mehr weiter wüssten, sollten Großeltern um Rat gefragt werden. "Die haben oft mehr Autorität", sagt die Richterin. Auch das Jugendamt könnte eingeschaltet werden. "Nur nichts einfach so laufen lassen", warnt sie. Ein Türke mischt sich ein: Er habe im Knast viel Zeit zum Nachdenken gehabt. "Die meisten meiner Landsleute haben kein Hobby, viele können zu schlecht Deutsch, um ihren Kindern zu helfen", so seine Erkenntnis. Also Sprache lernen und sich nicht isolieren. Beifall - das kommt an.

Der Erfolg und ihre Popularität haben für Kirsten Heisig auch eine Schattenseite. "Ich hab keine Freunde hinzugewonnen. Ich fühle mich oft als Exot wahrgenommen. Das sagt mir zwar keiner ins Gesicht, das läuft so verdeckt. Der Vorwurf, ich sei ganz wild auf Öffentlichkeit, trifft mich und macht mir schon zu schaffen." Sie habe nicht erwartet, dass ihre Vorstellungen solche Kreise ziehen.

Dabei gesteht sie ein, dass sie oft mit der Tür ins Haus falle und rumpoltere, alles sofort wolle und andere verschrecke: "Ich bin nicht diplomatisch - aber das bräuchte ich." So rechnet sie auch mit kontroversen Reaktionen, wenn im Sommer ihr erstes Buch über ihre Erfahrungen erscheint.

Es sei noch längst nicht alles in den richtigen Bahnen, sagt Heisig. So hält sie das Schreiben der Berliner Bildungsverwaltung, wonach Sachbeschädigungen an Schulen nicht mehr gemeldet werden müssen, für "eine absolute Katastrophe". "Alle Vorfälle an Schulen müssen angezeigt werden, auch wenn das die Statistik verschlechtert." Mit so einem Signal müssten sich Lehrer ja völlig alleingelassen vorkommen.

Von Jutta Schütz, dpa/bim
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