Berufsberatung für Schüler Wer bin ich, was kann ich?

Berufsberatung in Hamburg-Lohbrügge: Viele Schüler wissen nicht, wo ihre Stärken liegen
Foto: SPIEGEL ONLINERatlos starren Gina-Cathleen, Diren und Djawad* von der Hamburger Stadtteilschule Lohbrügge auf drei blaue Müllbeutel. Die Schüler sollen mithilfe von Schere und Klebeband aus den Plastiksäcken ein Outfit schneidern. "Komm, wir machen ein T-Shirt", ergreift Diren, 13, die Initiative, "und dann kleben wir ein Herz auf." Vorsichtig zerschneidet Djawad, 14, das Material. Gina-Cathleen, 13, möchte die Rolle eines Models übernehmen und zieht sich zögerlich den Plastiksack über den Kopf. "Wird am Ende ein Gewinner gekürt?", will Diren von Johannes Brandt, 29, wissen. Der Psychologe beobachtet die Schüler, um herauszufinden, was aus ihnen werden kann. Die Übung ist Teil einer Potenzialanalyse des Bildungsträgers Internationaler Bund, die Kosten von 200 Euro für jeden Achtklässler übernehmen die Schulbehörde und die Agentur für Arbeit.

Räumlichkeiten der Karriereberatung Struss und Partner in Hamburg-Winterhude
Foto: SPIEGEL ONLINEIn dem großzügigen Büro von Struss und Partner Karrierestrategien in Hamburg-Winterhude sitzen die Kunden auf weißen Ledersesseln. Cappuccino, Süßigkeiten und Mineralwasser aus Karaffen werden auf silbernen Tabletts serviert. Die Kunden, das sind zumeist junge Menschen im Alter von 16 bis 25, fast alle mit Abitur. Junge Menschen, die, so Inhaberin Ragnhild Struss, nicht wissen, was zu ihnen passt, die überfordert sind oder einfach nur faul. 1500 Euro kostet die eintägige Karriereberatung, inklusive Nachfragen in den ersten zwölf Monaten danach. "Leider korrelieren in Deutschland Bildung und Geld, das ist schlecht, aber es ist so", sagt Struss. Mehrere Hundert Beratungen führt ihre Firma jedes Jahr durch.
Ob Hauptschüler oder Abiturient, wenn sich Jugendliche für einen Beruf entscheiden sollen, fehlt den meisten vor allem Wissen über sich selbst. Unabhängig von der Schulart fällt jedem Zweiten die Berufswahl schwer, ergab eine Studie der Vodafone-Stiftung. Was kann ich überhaupt? Professionelle Schülerberatungen versuchen, diese Frage zu klären und Jugendlichen zu zeigen, wie sie ihre persönlichen Stärken nutzen können.
Doch wer sich die unterschiedlichen Berufsberatungen genauer anschaut, stellt fest: Das Elternhaus und die Schulform zählen für die Zukunftsperspektiven von Schülern mehr als Noten, Interessen oder Begabungen. Vor allem Eltern informieren Kinder über mögliche Berufe, ebnen Bildungswege und fördern Talente - zur Not mit Nachhilfe, Auslandsaufenthalten oder Coaching. Können sie das nicht leisten, wird die Berufswahl für Schüler zu einer ungleich schwierigen Aufgabe.

Schüler Diren, Djawad und Gina-Cathleen von der Hamburger Stadtteilschule Lohbrügge bei der Potenzialanalyse
Foto: SPIEGEL ONLINEGina-Cathleen wohnt mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester bei ihrer Mutter. Beide Elternteile sind arbeitslos, ob sie einen Beruf erlernt haben, weiß die Tochter nicht. Gina-Cathleen würde gern etwas mit Mode machen. "Ich bin gut in Mathe", sagt sie den Berufsberatern, aber auch, dass sie oft sehr schüchtern ist. Beim Berufe-Schnuppertag hat sie ihrer Tante beim Einräumen von Regalen im Möbel-Discounter Poco geholfen.
Djawad, 14, ein Junge mit afghanischen Wurzeln, der ohne Vater aufwächst, wird im nächsten Sommer die Schule beendet haben. Er möchte gern Arzt oder Pilot werden. Noch nie hat ihm jemand gesagt, dass das mit einem Hauptschulabschluss nicht möglich ist. Erreichbar wären für ihn damit Ausbildungen zum Altenpfleger, Lageristen, Verkäufer oder Koch. Mit seiner Mutter, die in einer Parfümerie arbeitet, hat er noch nie über Berufsthemen gesprochen. "Viele Kinder kennen die Berufswelt am Ende der zehnten Klasse nur aus dem Fernsehen. Unsere Aufgabe ist deshalb auch Horizonterweiterung", sagt Psychologe Jan Veips, 28.

Beraterin Johanna Öhding mit Diren: Packt er den Realschulabschluss?
Foto: SPIEGEL ONLINEDiren, 13, ist ein selbstbewusster Junge mit türkischem Migrationshintergrund. Er stellt mehr Fragen als alle anderen Schüler in der Potenzialanalyse. Doch seine Schulnoten sind schlecht. Direns Eltern arbeiten viel, die Mutter als Reinigungskraft, der Vater fährt Gabelstapler. "Ich hab den größten Respekt vor Gott", sagt Diren. Alles, was ihn bewegt, bespricht er mit seiner 17-jährigen Schwester. Er träumt davon, als Profifußballer Geld zu verdienen, alternativ könnte er sich Autoverkäufer vorstellen. Ein Realschulabschluss wäre dafür die Mindestvoraussetzung, doch momentan sieht es dafür nicht gut aus.

An so einem Platz hat Mara in der Karriereberatung ihre Tests absolviert
Foto: SPIEGEL ONLINEMara, 17, hübsch, groß, ein Lächeln wie ein Model, enge Jeans zu weiter Strickjacke, aus den Hamburger Elbvororten, weiß nicht, was sie mal machen oder wie sie leben will. "Mir fällt gar nichts ein", sagt sie. Ragnhild Struss findet im Interview heraus: In der Schule ist Mara entweder gelangweilt oder überfordert, sie mag Geschichte, Deutsch, Theater und Sport, vor allem schreibt sie gern. Ihre Hausaufgaben macht Mara, wenn sie Zeit hat, ihre Noten bewegen sich im Mittelfeld, ihre Freizeit verbringt sie mit Sport, Lesen und Entspannen.
Mara ist ein Familienmensch, eher ängstlich, bei Dunkelheit geht sie nicht mehr allein auf die Straße. Sie will abgesichert sein, aber ansonsten interessiert Geld sie nicht. Im Job will sie etwas erreichen und etwas Neues machen, nicht als freie Journalistin arbeiten wie ihre Eltern. Die Berufsinformationswochen an ihrer Schule haben Mara nicht weitergeholfen, denn: Was es alles gibt, hat sie dort nicht erfahren. Auch beim Berufsfindungstest der Agentur für Arbeit, der das Berufsfeld Design für sie ermittelte, fühlte sie sich nicht erkannt.

In Lohbrügge sollen sich die 21 Schüler durch Spiele selbst besser kennenlernen
Foto: SPIEGEL ONLINEUm sich selbst besser kennenzulernen, spielen die 21 Schüler der achten Klasse aus Lohbrügge zwei Tage lang Rollenspiele, basteln in Kleingruppen oder organisieren ein fiktives Klassenfest. Das Ergebnis ihrer Arbeit zeigen sie in kleinen Präsentationen. Zwölf Sozialpädagogen und Psychologen machen sich dabei Notizen über die Kinder: Arbeiten sie ausdauernd und zuverlässig? Können sie sich durchsetzen? Sind sie besonders kreativ oder geschickt? Wie gehen sie mit Kritik um? Durch Beobachtung und in persönlichen Gesprächen und Neigungstests finden die Berater heraus, wo die persönlichen Stärken jedes Einzelnen liegen.
Klassenlehrer Markus Reimer, 44, verbringt diese zwei Tage im Foyer, damit die Schüler nicht in ihre Verhaltensmuster aus dem Unterricht verfallen. "Die Schule konzentriert sich auf die Defizite der Kinder. Wir wollen sie in dem bestärken, was sie können", erklärt Projektleiterin Ulrike Klante. Nicht jedem Lehrer gefällt das. "Einige Pädagogen finden, wir setzten den Schülern Flausen in den Kopf. Sie würden über Jahre daran arbeiten, die Kinder von ihrer Selbstüberschätzung abzubringen." Lehrer Reimer glaubt, dass einige seiner Schüler die Oberstufe schaffen könnten, wenn sie zu Hause Unterstützung bekämen. Drei Teenager sind heute nicht erschienen, einer davon war um vier Uhr morgens bei WhatsApp noch online. "Würden die Eltern Medienkonsum und Schlafzeiten kontrollieren, ließen sich die Schulleistungen enorm steigern", vermutet Reimer.

Empfangstresen der Karriereberatung Struss und Partner
Foto: SPIEGEL ONLINEBei Struss und Partner wird Karriere definiert als das Ausnutzen von Potenzialen. Wo diese liegen, soll ein dreiteiliger Testmarathon bestimmen: Drei bis vier Stunden füllen die Kunden psychometrische Persönlichkeitstests aus, mit denen unter anderem Temperament, Gruppenverhalten und Führungsstärke überprüft werden. Danach folgen zweieinhalb Stunden kognitive Tests mit Aufgaben zu Matheverständnis, logischem Denken und Sprachgefühl. Manchmal muss auch gezeichnet werden. Letzter Teil ist das rund einstündige Interview. Auch die Schulnoten werden berücksichtigt und zum Beispiel als Alternative NC-freie Studiengänge im Ausland empfohlen.

Übung "Zeitreise": Djawad aus Lohbrügge malte sich als Arzt oder Pilot, er möchte nach Amerika und irgendwann ab 30 Jahren eine Familie
Foto: SPIEGEL ONLINEZwei Wochen nach der Potenzialanalyse kommen die Berater des Internationalen Bundes nach Lohbrügge zum vertraulichen Abschlussgespräch. Auch die Eltern der Schüler sind eingeladen, doch kein Elternteil ist gekommen. Gina-Cathleen ist sehr still. Ihr Berater spricht von Ressourcen, Manpower und Informationsquellen. "Weißt du, was Frustrationstoleranz ist?", fragt er. Gina-Cathleen schüttelt den Kopf. Der Psychologe lobt ihre ruhige Art und strukturierte Arbeitsweise. Er rät ihr, sich jede Woche aufzuschreiben, was ihr gut gelungen ist. Referate soll sie zu Hause vor dem Spiegel üben. Sie bekommt eine Liste mit Praktikumsbörsen für den Bereich Grafikdesign.
Ihr Mitschüler Diren muss nicht mehr an seiner Selbstsicherheit arbeiten. "Du bist ein starker, motivierter Charakter", sagt der Psychologe, "aber trau dich auch, andere nach Hilfe zu fragen." Er soll in Zukunft strukturierter arbeiten, denn er braucht unbedingt bessere Noten. Dazu soll er etwa in einem Kalender die Tage notieren, an denen er lernen will, damit er nicht erst am Tag vor der Klausur anfängt. Dann könnte es vielleicht klappen mit der Lehre zum Automobilkaufmann.

Ragnhild Struss: "Leider korrelieren in Deutschland Bildung und Geld"
Foto: SPIEGEL ONLINEMaras Eltern sind an dem Dienstagnachmittag im Herbst dabei, wenn ihre Tochter Tipps für ihr späteres Berufsleben bekommt. Das Geld für die Beratung würden sie schweren Herzens ausgeben, sagt Maras Vater, Turnschuhe, Jeans und Zipper-Jacke. Er erhofft sich davon, dass Mara - "gerade als Frau" - einen Job findet, der ihr liegt und der ihr ein unabhängiges Leben ermöglicht. Das Ergebnis von Ragnhild Struss an diesem Nachmittag: Es gibt kein Ergebnis. "Es ist kein eindeutiges Profil herausgekommen", so die Karriereberaterin. Aber ein Studium wäre gut, Liberal Arts zum Beispiel, Sozial- oder Kultur- oder Gesellschaftswissenschaften oder Europäische Ethnologie, aber auch Medien- und Kommunikationswissenschaften kämen für Mara infrage, ebenso wie eine Ausbildung zur Mediengestalterin oder zur Videojournalistin. Oder auch Lehramt.
Der Rat: Mara soll erst einmal ein Jahr Pause machen, um ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln, in der Zeit bei einem Kinderhilfsprojekt mitarbeiten, Praktika machen, im Medien-, TV-, Kultur- oder Werbefilmbereich, Summerschools, einen Creative Writing Kurs oder ein Moderationstraining besuchen. "Ich hätte mich nicht besser beschreiben können", sagt Mara. Mit zwei vollen Ordnern verlässt sie die Karriereberatung - darin: zig Studiengänge und Infos zu Bewerbungen an Hochschulen im In- und Ausland. Jetzt steht aber erst einmal das Abitur an, danach will sie sich mit den Vorschlägen beschäftigen. "Aber was genau ist jetzt der nächste Schritt?", will ihr Vater noch von Ragnhild Struss wissen. "Wäre es nicht sinnvoll, wenn Mara ein Jahr reisen und einfach mal loslassen würde?"
*alle Namen der Jugendlichen von der Redaktion geändert