Bildungsmythen im Faktencheck Deutschland, ein Land der Bildungsabsteiger?

Viele junge Deutsche sind schlechter ausgebildet als ihre Eltern, warnt die OECD. Aber leben wir wirklich in einem Land der Bildungsabsteiger? Der Faktencheck.
Chemielaboranten in der Ausbildung: Längst kein berufliches Scheitern

Chemielaboranten in der Ausbildung: Längst kein berufliches Scheitern

Foto: DPA

Eine gern zitierte Schreckensmeldung der OECD lautet: "Die Bildungsmobilität in Deutschland ist so gering wie in kaum einem anderen OECD-Land."

Die Zahlen scheinen eindeutig: Nur knapp jeder vierte 25- bis 64-Jährige in Deutschland ist besser ausgebildet als seine Eltern (OECD-Schnitt: 39 Prozent). 18 Prozent bleiben sogar hinter den Qualifikationen der Eltern zurück (OECD-Schnitt: zwölf Prozent). Noch deutlicher ist der Abstand, wenn man die Gruppe der Berufseinsteiger allein betrachtet: Von den 25- bis 34-Jährigen "sind nur 19 Prozent höher gebildet als ihre Eltern, 24 Prozent haben einen niedrigeren Abschluss", warnt die Organisation .

Doch was sagen diese Zahlen? Nicht viel, wie sich bei genauer Betrachtung zeigt. Dazu braucht man nicht einmal nach alternativen Statistiken suchen. Die OECD selbst relativiert ihr Schreckensszenario in der "Ländernotiz " zu Deutschland.

Die zitierten OECD-Zahlen beziehen sich nicht auf alle jungen Leute, sondern nur auf jene, die nicht mehr zur Schule gehen oder studieren. "Viele der 25- bis 34-Jährigen in Deutschland haben ihr Studium jedoch noch nicht abgeschlossen, weil die Studiengänge länger sind als im Durchschnitt", schreibt die OECD. Gut möglich also, dass sie im Laufe der Zeit noch einen höheren Abschluss schaffen.

Dass vielen Schülern bei uns kein Aufstieg gelingt und sie "nur" den gleichen Bildungsstand wie ihre Eltern erreichen, kommentiert die OECD so: "Dieser niedrigere Wert lässt sich auch mit dem vergleichsweise hohen Bildungsniveau in Deutschland erklären."

Wenn die Architektentochter ein Start-up gründet

Im Klartext: Anders als in manchen anderen Staaten gibt es in Deutschland kaum Erwachsene, die weder Abitur noch einen Berufsabschluss erlangt haben und von ihren Kindern daher leicht übertroffen werden können. Außerdem müssen alle Kinder von Akademikern oder Meistern schon deshalb am Aufstieg scheitern, weil ihre Eltern bereits den höchstmöglichen Bildungsstand erreicht haben.

Die größte Schwäche der Statistik zur Bildungsmobilität aber betrifft die sogenannte Abwärtsmobilität - also den Anteil jener Menschen, die einen niedrigeren Bildungsstand haben als ihre Eltern. Jahrelang hat die OECD die Deutschen für ihre geringe Akademikerquote getadelt und der im deutschsprachigen Raum weit verbreiteten Berufsausbildung kaum Beachtung geschenkt.

Nach den Kriterien, welche die OECD anwendet, ist eine duale Berufsausbildung weniger wert als ein Studium. Wer dreieinhalb Jahre Chemielaborant lernt, ist demnach geringer gebildet als jemand, der in derselben Zeit an der Fachhochschule einen Bachelor in Forstwirtschaft macht. Der Sohn eines Sportlehrers, der eine Ausbildung zum Mechatroniker macht, gilt als Bildungsabsteiger. Ebenso eine Architektentochter, die direkt nach dem Abitur ein Start-up gründet.

Obama lobt Deutschlands duale Ausbildung

Dass viele, die eine Berufsausbildung machen, tatsächlich gar keine Verlierer sind, muss allerdings auch die OECD anerkennen: "In wenigen OECD-Ländern hat das Berufsbildungssystem einen so hohen Stellenwert wie in Deutschland, Österreich und der Schweiz." Menschen mit Berufsabschluss in diesen Ländern, räumt die Organisation ein, "weisen überdurchschnittliche Beschäftigungsquoten auf, insbesondere die jüngeren Erwachsenen".

Nicht zuletzt deshalb gilt das System der dualen Ausbildung im Ausland bisweilen als Vorbild. US-Präsident Obama etwa pries die deutsche Berufsausbildung in einer Ansprache zur Lage der Nation für ihre große Praxisnähe.

Die OECD würdigt inzwischen nicht nur, dass junge Leute mit einer Berufsausbildung in Deutschland besonders selten arbeitslos werden, sondern stellt fest, dass das duale System durchaus als Karriereoption verstanden wird. "Angesichts des soliden beruflichen Bildungssystems in Deutschland", so die Experten, "besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit", dass sich selbst Kinder, deren Eltern studiert haben, "freiwillig für berufliche Bildungsgänge entscheiden".

Fazit: Die OECD-Statistik ü ber die Bildungsmobilität legt nahe, dass in Deutschland mehr Bildungsabsteiger leben als anderswo. Doch die Zahlen eignen sich nicht, um den Erfolg junger Menschen zu messen. Ob die These also zutrifft, lässt sich anhand der Daten nicht eindeutig beantworten.

Bildungsmythen im Faktencheck
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