Bildungs-Kleinstaaterei Wie Schüler und Eltern am Schulchaos verzweifeln

Schüler in Bayern: Anforderungen wechseln von Bundesland zu Bundesland
Foto: Armin Weigel/ picture-alliance/ dpaSie weiß nicht mehr genau, welcher Buchstabe es war, der ihrer Tochter fast den Wechsel aufs vermasselte. Das F, meint Cornelia Rösch sich erinnern zu können - das F sah in Bayern anders aus als in Rheinland-Pfalz. Ein Schnörkel oder eine Rundung sollte deutlicher geschrieben werden.
"An sich bin ich ein friedlicher Mensch", sagt die Mutter zweier Kinder. Aber die Sache mit dem Schriftbild hat sie aus der Fassung gebracht.
Rösch zog mit ihrer Familie von Speyer nach Haar bei München, ihr Mann sollte die Dependance einer Unternehmensberatung aufbauen. Ihre Tochter ging damals in die vierte Klasse, zehn Jahre ist das her. An ihrer alten Schule in Rheinland-Pfalz, so die Mutter, nahmen es die Lehrer mit der Rechtschreibung nicht so genau. Das lernen die Kinder schon irgendwann, habe es geheißen. An der neuen in Bayern wurde dann sogar moniert, dass einzelne Buchstaben unrund aussahen. "In Speyer war die schlechteste Note eine Zwei", sagt Rösch. In München kam die Tochter erst mal mit einer Fünf nach Hause.
Cornelia Rösch klagt nicht über höhere Anforderungen, im Gegenteil, manchmal empfand sie die alte Schule als zu lasch. Aber es schockierte sie dann doch, wie groß die Unterschiede zwischen den Ländern waren. Zumal in Bayern die vierte Klasse zur anstrengendsten Zeit überhaupt gehört. Denn hier entscheidet sich, ob ein Kind aufs Gymnasium darf - und zwar streng nach Notenschnitt. "Der Übertrittsstress war in der Klasse zu spüren", sagt Rösch.
In ihrer alten Heimat galt der Elternwille. Und in Bayern? Hier gelten andere Regeln: Wer in Deutsch, Mathe und Heimat- und Sachkunde einen Schnitt von 2,33 und besser hat, darf aufs Gymnasium. Bis zum Schnitt von 2,66 gilt er als "klar" für die geeignet, ab 2,67 geht es auf die . Wer das gewünschte Ziel nicht erreicht, kann ihn in Deutsch und Mathematik Probeunterricht absolvieren. Läuft es gut, darf das Kind auf der Wunschschule bleiben. Vor einem Jahr wurden zwar einige Übertritts-Details entkrampft, doch sind die bayerischen Regeln noch immer sehr streng.
Grundschulzeiten, Hauptschule - jedes Land macht, was es will
Immer, wenn Eltern umziehen von einem Bundesland ins andere, heißt das für die Kinder: neue Wohnung, neue Freunde, neue Schule. Es ändern sich Anforderungen, Schulbücher, manchmal sogar die Form von Buchstaben, jedenfalls in Nuancen. Die Familien müssen sich zurechtfinden in einem Bildungsdschungel: 16 gestalten ihre 16 Schulsysteme so, wie es ins jeweilige politische Bild passt - und unabhängig davon, wie erfolgreich die Länder bei und ähnlichen Leistungsvergleichen abschneiden.
So erklärt Bayern seine vorderen Platzierungen beim nationalen Schulvergleich auch mit dem Festhalten an der traditionellen Schultrias aus Haupt-, Realschule und Gymnasium. Sachsen hingegen verzichtet auf die Hauptschule - und schneidet ebenfalls immer ziemlich gut ab. Mal dauert die sechs Jahre wie in Berlin und wahrscheinlich bald in Hamburg, meist vier Jahre wie etwa in Thüringen, Hessen, Rheinland-Pfalz. Mal entscheiden die Eltern, ob ein Kind aufs Gymnasium darf, mal der Notenschnitt. Und wenn die Landesregierung wechselt, gilt plötzlich wieder etwas anderes.
Hinzu kommen aufgebrachte Eltern, die sich gegen Reformen stemmen: So läuft in Niedersachsen ein Volksbegehren gegen das Turbo- nach acht Jahren Gymnasium (G8). In Hamburg kämpft eine Initiative erbittert gegen die vom Senat geplante Ablösung der vierjährigen Grundschule durch eine sechsjährige Primarschule.
Fast jedem zwölftem Schüler droht der Bildungsirrgarten
Wie viele Familien sich durch den Schuldschungel kämpfen müssen, lässt sich nicht exakt beziffern, aber es lässt sich einschätzen. Das Statistische Bundesamt hat gezählt, wie viele Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 18 Jahren in ein anderes Bundesland umgezogen sind: Im Jahr 2008 waren es 77.645 Umzüge. Weil die Binnenwanderung seit Jahren ziemlich stabil ist, zogen also knapp 800.000 Kinder und Jugendliche um, hochgerechnet auf eine Schulzeit von zehn Jahren. Vernachlässigt man Mehrfachumzüge, entspricht das etwa acht Prozent der rund zehn Millionen Kinder und Jugendlichen in diesem Alter. Allerdings gehören dazu auch Arbeitslose und Auszubildende, die keine allgemeinbildende Schule mehr besuchen, sowie Gymnasiasten, die länger als zehn Jahre Schüler sind.
Der Näherungswert: Etwa jeder zwölfte Schüler muss damit rechnen, sich im Bildungslabyrinth zu verlaufen. Viele Eltern machen dabei ähnliche Erfahrungen wie Cornelia Rösch - SPIEGEL ONLINE dokumentiert drei Fälle:
Die Wut auf das Schulchaos wächst. "Für Schul- und Bildungspolitik sollte der Bund zuständig sein" - dieser These stimmten in einer Umfrage 61 Prozent zu. Nur 21 Prozent halten die Zuständigkeit der Länder für richtig, 18 Prozent äußerten sich unentschieden. Das geht aus einer im März veröffentlichten Allensbach-Umfrage hervor .
Renitente Länderfürsten
Doch die Länderfürsten und ihre Kultusminister schwärmen weiter von den segensreichen Wirkungen des Föderalismus, der zum Wettbewerb ums beste Schulsystem führe. Freiwillig werden die Bundesländer ihre Macht nicht abgeben - auch wenn selbst Bundesbildungsministerin (CDU) inzwischen umgeschwenkt ist. Einst wirkte sie als Baden-Württembergs Kultusministerin als eine der stärksten Länder-Lobbyistinnen, heute will sie dem Bund mehr Einfluss verschaffen.
Cornelia Röschs Tochter, die das F in Bayern anders schreiben musste als in Rheinland-Pfalz, hat sich - wie so viele Schüler - durchgebissen und vor wenigen Wochen das Abitur bestanden. Mit Bayerns Schulsystem hat sie sich allerdings nicht angefreundet: Als Landesschülersprecherin warb sie für eine "Schule, die nicht aufgrund mangelnder pädagogischer Kompetenz auf Leistungsdruck setzen muss".
Von Rheinland-Pfalz nach Bayern - Maria Dörfel ist erleichtert, dass wieder Stringenz herrscht

Maria Dörfel, 45, Söhne Dominik und Benedikt: "Hinschauen, ohne Druck auszuüben"
"Bedingt durch den Beruf meines Mannes sind wir häufiger umgezogen, erst von Baden-Württemberg nach Rheinland-Pfalz und dann nach Bayern. Unsere drei Söhne kennen also einige Schulen. Und ich muss sagen: Ich bin erleichtert, dass sie jetzt hier in Würzburg zur Schule gehen, alle drei aufs gleiche Gymnasium. Hier ist es ähnlich wie früher in Baden-Württemberg: Die Kinder werden stark gefordert, dadurch gefördert und besser aufs Leben vorbereitet als in Rheinland-Pfalz. Dort war es doch eher lasch, unorganisierter und anspruchsloser.
Das fängt bei ganz simplen Dingen an: Das Hausaufgabenheft mussten unsere Jungs in Baden-Württemberg selbständig führen, noch bevor sie schreiben konnten. Sie haben dann Symbole für die verschiedenen Fächer gemalt und so gelernt, sich selbst zu organisieren. In Rheinland-Pfalz gab's das nicht.
Was mich auch gestört hat: In Rheinland-Pfalz ist man damals dazu übergegangen, auf Schiefertafeln zu schreiben statt in Schulhefte. Das hatte den Nachteil, dass ich mit meinen Kindern ältere Lerneinheiten und Übungen nicht mehr nachvollziehen konnte. Alles wurde immer wieder weggewischt. Im Heft kann man einfach zurückblättern.
Natürlich war der Wechsel nach Bayern nicht ganz einfach. Unser Ältester ging ja schon aufs Gymnasium und musste ein halbes Jahr Französisch aufholen. Wir haben dafür gesorgt, dass er vor dem Umzug ein paar Nachhilfestunden bekommt, damit er sich schon mal an den Klang der Sprache gewöhnen konnte. Er hat das insgesamt, ohne Nachhilfe in Bayern, gut gemeistert.
Richtig finde ich auch, dass das Gymnasium hier schon nach acht Jahren zum Abitur führt. Wenn die Stundenplangestalter ordentlich arbeiten und die Verantwortlichen mitdenken, dann ist das G8 eine gute Sache. Unser ältester Sohn zum Beispiel hat nur an zwei Tagen in der Woche Nachmittagsunterricht, Freistunden gibt es gar nicht. Von Überlastung kann keine Rede sein. Das ist einfach vernünftig organisiert worden.
Ungerechter ist das bayerische System nicht; jeder Schüler und jede Schülerin hat die gleichen Chancen. Wenn die Eltern ihr Kind mit Respekt und Aufmerksamkeit behandeln, dann kann es alles erreichen. Man muss genau hinschauen, ohne zu viel Druck auszuüben. Wir achten darauf, was unsere Kinder in der Schule tun, aber wir stehen ihnen nicht auf den Füßen."
Von Bremen nach Bayern - Uta Scherb ist empört über die Ungerechtigkeit

Bildungschaos: Der Wechsel von einem Bundesland ins andere kann anspruchsvoll sein
Foto: Friso Gentsch/ dpa"Für uns war der Wechsel echt hart: Wir sind vor zwei Jahren von Bremen nach Bayern gezogen, weil mein Mann hier eine Stelle als Ingenieur bekommen hat. Schulisch ist es ein Unterschied wie Tag und Nacht. Bremen liegt bei Leistungsvergleichen wie Pisa regelmäßig auf dem letzten Platz, Bayern meist ganz vorn, dafür ist die soziale Ungerechtigkeit im Süden größer.
Das spiegeln auch unsere Erfahrungen wider: Meine Tochter Sophie ging damals in die dritte Klasse. In Bremen besuchte sie eine soziale Brennpunktschule - ein Ausländeranteil von über 50 Prozent und viele verhaltensauffällige Kinder. Ein Junge lief während der Stunden über die Tische, die Lehrer wussten sich kaum zu helfen. Die Klassen wurden gerade umstrukturiert für das jahrgangsübergreifende Lernen, zweite und dritte Klasse sollten zusammen unterrichtet werden. Es war das pure Chaos.
Weil viele Eltern nicht die nötigen Bücher beschafften, bekamen die Kinder von den Lehrern kopierte Zettel - und die blieben meist in der Schule. Wir Eltern bekamen kaum mit, woran unsere Tochter gerade arbeitete, konnten kaum kontrollieren. Aber der Anspruch war: Jedes Kind soll mitkommen und gefördert werden, auch wenn es aus schwierigem Elternhaus kommt.
Hier in Lauf an der Pegnitz hingegen ist es komplett anders: Die Ansprüche sind höher, der Druck auch. Von den Eltern wird erwartet, dass sie sich kümmern, dass sie die Schultasche täglich durchgucken und das Hausaufgabenheft. Als Sophie hier anfing, wusste sie nicht, dass das Datum auf einem Arbeitsblatt oder im Heft nach rechts oben gehört und eine Überschrift unterstrichen wird. Das gab es in Bremen einfach nicht. Hier in Bayern pauken die Schüler mehr, üben zum Beispiel Grundrechenarten bis zum Erbrechen.
Sophie hat den Wechsel trotzdem gut verkraftet und besucht jetzt ein Gymnasium. Aber wehe, die Eltern kontrollieren nicht alles! Dann bekommt man schnell einen Brief vom Direktor, in dem sinngemäß steht: 'Wenn Sie mit Ihrer Tochter fleißiger üben würden, käme sie in der Schule auch besser mit.' Eine Frechheit! In Bremen würden sich das viele Eltern nicht gefallen lassen.
Sicher, die Schüler lernen hier mehr, das finde ich auch richtig. Aber es ist ungerecht, dass diejenigen aussortiert werden, die es eh schwer haben. Das bayerische Konzept würde an einer Brennpunktschule nicht funktionieren."
Von Hessen nach Bayern - Britta Beckmann wundert sich über das Ansehen der Hauptschule

Britta Beckmann, 48, Kinder Gina und Marlon: Angst vor dem Schulsystemwechsel
Foto:"Ich hatte Angst, wie es wird mit dem Systemwechsel. Aber meine beiden Kinder hatten kaum Probleme, als wir vor einem Jahr aus der Nähe von Wiesbaden, Hessen, nach Giebelstadt in Bayern gezogen sind. Ich hatte eine Stelle als Sachbearbeiterin angeboten bekommen bei einem mittelständischen Unternehmen, einer Gebäudereinigungsfirma - ein sehr gutes Angebot, das ich annehmen wollte. Ich konnte den Umzug in die Sommerferien legen, so dass er mit dem Wechsel meines Sohnes von der Grundschule aufs Gymnasium zusammenfiel.
Glücklicherweise genügte es, die Gymnasialempfehlung vorzulegen, denn Übertrittszeugnisse gibt es in Hessen nicht. Für meine jüngere Tochter war es schon etwas schwerer: Sie kam in die vierte Klasse, und die Anforderungen sind an der bayerischen Grundschule deutlich höher, vor allem in Englisch.
In Hessen haben die Lehrer mit den Kindern spielerischer geübt, englische Lieder gesungen und solche Dinge. In Bayern musste sie ganz schön viel üben, um den Rückstand aufzuholen. Sie hat es dank ihrer engagierten Lehrerin gepackt und wird nach dem Sommer aufs Gymnasium gehen.
Aufgefallen ist mir, dass die Hauptschule hier in Bayern einen viel besseren Ruf hat. In Hessen rümpften viele die Nase, auch für mich wäre die Hauptschule nie in Frage gekommen. Hier ist es ganz normal, dass von 30 Kindern in der Klasse meiner Tochter fast ein Drittel auf die Hauptschule gehen wird. Niemand schämt sich dafür, das ist mein Eindruck.
Ein weiterer Unterschied: In Hessen läuft die Anmeldung für die weiterführende Schule über die Grundschule. Hier in Bayern muss man sich mit dem Übertrittszeugnis bei den Gymnasien in die Schlange stellen und hoffen, dass es klappt.
Auch wenn es bei uns gut gelaufen ist und ich nicht das Gefühl habe, meinen Kindern mit dem Umzug etwas Schlechtes getan zu haben, finde ich es absurd, dass jedes Bundesland sein eigenes Schulsystem hat. Kinder aus Ländern mit geringeren Ansprüchen werden so zu den absoluten Verlierern, sobald die Familie umzieht."