Bildungsforscher Hattie "Die Schule kann nicht alle Probleme lösen"

Kleinere Klassen? Bringen nichts! Abitur nach zwölf oder 13 Schuljahren? Eine sinnlose Debatte! John Hattie, einer der einflussreichsten Bildungsforscher, räumt im Interview mit den Mythen der Schulpolitik auf - und mahnt: Lehrer müssen sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, den Unterricht.
Schulkinder, Lehrerin (Archiv): Manchmal geht es mehr um die Eltern als um die Kinder

Schulkinder, Lehrerin (Archiv): Manchmal geht es mehr um die Eltern als um die Kinder

Foto: Jochen Lübke/ picture-alliance/ dpa

SPIEGEL: Herr Hattie, Sie haben 15 Jahre lang Bildungsstudien ausgewertet, mit dem Ergebnis, dass guter Unterricht den Ausschlag gibt. Funktioniert Schule so einfach?

Hattie: Meine Arbeit zeigt, dass es ein ganzes Bündel von Faktoren gibt, die den Schulerfolg von Kindern prägen können: ihre soziale Herkunft, die Familienverhältnisse, ihr Selbstverständnis. Am wirksamsten ist aber das, was im Unterricht zwischen Lehrern und Schülern passiert. Und das können wir im Gegensatz zu Armut oder Reichtum in der Schularbeit direkt beeinflussen. Was mich interessiert, sind erfolgreiche Lehrer.

SPIEGEL: Was macht einen guten Lehrer aus?

Hattie: Dass er sich seiner eigenen Wirkung bewusst ist und sich fortlaufend überprüft. Dass er Stoff mit Leidenschaft vermittelt. Dass er sich dafür zuständig fühlt, dass alle Kinder in seiner Klasse etwas lernen, nicht nur einige wenige. Dass er eine Geisteshaltung mit ins Klassenzimmer bringt, die zum Lernen ermutigt und Fehler zulässt. Dass er anspruchsvolle Ziele vorgibt. Dafür werden Lehrer bezahlt.

SPIEGEL: Solche Vorsätze würden wohl die meisten Lehrer unterschreiben und ihren Unterricht danach ausrichten.

Hattie: Ja, und fast alles, was sie im Unterricht tun, wirkt sich irgendwie aus. Nur haben sie keinen klaren Maßstab dafür, was effizient ist. Sie sind sich nicht einig darüber, wie sie Lernfortschritt messen und beschreiben. Zu viele Lehrer speisen ihr Berufsverständnis nur aus ihrer Autonomie: Lasst mich meine Arbeit im Klassenzimmer machen. Ich persönlich bin ein großer Fan von Lehrern, die sich über das Lernen ihrer Schüler austauschen und sich gegenseitig beraten.

SPIEGEL: Passiert das nicht längst?

Hattie: Es wurde untersucht, über was sich Lehrer morgens oder in den Mittagspausen unterhalten. Sie sprechen häufig über Stundentafeln oder Lehrpläne, aber sehr selten über den Lernfortschritt ihrer Schüler. Zwar hat fast jeder Lehrer seine Theorien dazu, doch die bildet er allein heraus, hinter der geschlossenen Tür des Klassenzimmers. Qualität und Wirksamkeit lassen sich aber nur im Austausch sichern.

SPIEGEL: Sie bürden dem einzelnen Lehrer viel Verantwortung auf, zu viel?

Hattie: Ich meine nicht den einzelnen Lehrer, es geht mir um die Haltung der Lehrerschaft. Und: Es arbeitet bereits eine große Zahl an leidenschaftlichen und sehr wirksamen Lehrern an den Schulen.

SPIEGEL: Sind die Schüler nicht selbst verantwortlich für ihren Lernerfolg?

Hattie: Ohne ihre Kooperation geht es nicht, das stimmt. Aber ich habe meine Probleme mit Argumenten, die Kinder in bestimmte Kategorien einteilen oder ihnen die Schuld für Misserfolge geben. Natürlich gibt es schwierige oder unkonzentrierte Kinder. Aber dann müssen wir ihnen beibringen, Verantwortung zu übernehmen.

SPIEGEL: In Deutschland diskutieren Eltern, Schulleiter und Politiker darüber, die Schulzeit im Gymnasium wieder von acht auf neun Jahre zu verlängern, um Kindern mehr Zeit zu geben.

Hattie: Was für eine Ablenkung von den Dingen, die wirklich zählen! Zu den Nationen, wo die Kinder die kürzeste Zeit in den Schulen verbringen, zählt Finnland. Auf der anderen Seite der Skala steht Neuseeland. Beide waren zuletzt sehr erfolgreich, aber das hat wenig mit der Schuldauer zu tun. Wir sollten uns damit beschäftigen, wie Kinder in der zur Verfügung stehenden Schulzeit gut lernen, und Strukturdebatten vermeiden.

SPIEGEL: Welche Strukturdebatten?

Hattie: Zum Beispiel die um die Klassengröße. Es wirkt sich kaum auf Schülerleistungen aus, wenn die Zahl der Schüler in einer Klasse abgesenkt wird. Eine Maßnahme, die im übrigen sehr teuer ist. Wir sollten uns an das halten, was wirkt, besserer Unterricht.

SPIEGEL: Warum werden dennoch vielerorts die Klassen verkleinert?

Hattie: Weil die Eltern und viele Beteiligte im Schulsystem solche sichtbaren Reformen einfordern. Was mir am Herzen liegt, ist nicht so leicht sichtbar. Deshalb ergreift die Politik Maßnahmen, die die Eltern beruhigen sollen. Kleinere Klassen sollen als Hinweis dienen: Mein Kind bekommt jetzt mehr Aufmerksamkeit, mein Kind lernt hier etwas. Manchmal geht es nicht mehr um die Schüler, sondern allein darum, die Eltern glücklich zu machen.

SPIEGEL: Wie sollten denn die Schulen mit Eltern umgehen?

Hattie: Wir sollten sie natürlich einbinden. Aber: Der Einfluss der Schule auf die Familien ist begrenzt. Ich würde ja auch gerne Armut aus unserer Gesellschaft vertreiben, aber als Lehrer wird mir das wahrscheinlich nicht gelingen. Schule hat eine soziale Verantwortung, aber sie kann nicht alle Probleme lösen.

SPIEGEL: Wie kommen Lehrer ihrer sozialen Verantwortung nach?

Hattie: Indem sie Schüler nicht etikettieren und sie in bestimmte Kategorien einteilen. Das ist das Schlimmste, was man tun kann. Ich sage nicht, dass es keine Unterschiede gibt. Nur werden sie häufig benutzt, um zu begründen, warum jemand schwach in der Schule sein muss.

SPIEGEL: Wen trifft das Etikettieren?

Hattie: Wir reden Minderheiten und Randgruppen ständig ein, dass sie nicht erfolgreich sein werden. Ich selbst stamme aus einer kleinen Stadt auf Neuseelands Südinsel, mein Vater war ein Schuhmacher, die Familie nicht wohlhabend. Zum Glück erzählte mir niemand in der Schule, dass ich mit einem eher niedrigen Sozialstatus dorthin kam. Niemand redete mir ein, ich könne nicht erfolgreich sein.

SPIEGEL: In Deutschland ist nach mehreren Runden Pisa und diversen anderen Schulstudien eine gewisse Messmüdigkeit eingetreten. Können Sie das verstehen?

Hattie: Tests wie Pisa sind wichtig. Außerdem steht Deutschland doch nicht schlecht da. Käme bei euch jemand auf die Idee, auf internationale Vergleiche im Fußball zu verzichten und nur noch nach euren deutschen Regeln und Leistungsmaßstäben Fußball zu spielen? Wohl kaum. Ihr würdet den Anschluss an das internationale Leistungsniveau verlieren. Die Idee, das jedes Land Schule im Glauben an seine Einzigartigkeit betreibt, ist Quatsch.

Das Interview führte Jan Friedmann

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